Vierunddreißig

Ich wäre fast vom Stuhl gefallen. »Wie bitte?«

»Ich habe ihn gefunden. König Assurbanipals Schatz.«

Angesichts meiner Erfahrungen in der Türkei fragte ich mich für einen kurzen Moment, ob er die Wahrheit sagte, doch er sah aus wie ein Kind, das im Begriff ist, sich auf einen Berg Weihnachtsgeschenke zu stürzen. Ich war völlig perplex.

»Das ist unglaublich. Wo?«

Er hob beschwichtigend die Hand. »Setzen Sie sich. Ich erzähle Ihnen alles. Aber erst will ich Ihnen zeigen, wie ich es herausbekommen habe. Sie erinnern sich gewiss noch an einen Vers Nahums: ›Die Königin wird entkleidet und weggeführt, während ihre Mägde wie girrende Tauben schluchzen und sich auf den Busen schlagen.‹

Nahums Worte sind sehr klug; diese Zeilen haben mehr als nur eine Bedeutung. Bezieht sich das auf die historische assyrische Königin oder benutzt er diese Bezeichnung als Metapher für Ninive als Frau? Die Anspielung auf die Entkleidung ist ein Hinweis. Im alten Assyrien war es Prostituierten bei Todesstrafe verboten, Kopfbedeckungen zu tragen. Dieses Kleidungsstück war ausschließlich unberührten und verheirateten Frauen vorbehalten. Und die Verehrung der Ischtar wurde mit Prostitution gleichgesetzt. Daher ist die entkleidete Königin eine Anspielung auf die assyrische Göttin Ischtar. Nahum benutzt sie, um die Göttin zu tadeln.«

»Wollen Sie damit sagen, dass diese Zeilen von Ischtar handeln?«

Er war zu erregt, um lange sitzen zu bleiben, daher stand er auf und begann im Raum auf und ab zu gehen. »Der Vers spricht von einer Königin, die an einen geheimen Ort gebracht wird, während ihre Mägde wie girrende Tauben schluchzen. Die Tauben sind ein weiterer Hinweise auf Ischtar; ihr wurden häufig Tauben zugeordnet. Nahum wies seine Helfer an, nach Ischtars Ruheplatz zu suchen. Das konnte eigentlich nur ihr Tempel sein.«

»Und was haben Sie gefunden – einen Tempel?«

Sein Gesicht strahlte. »Einen höchst bemerkenswerten sogar.«

»Das ist erstaunlich. Aber er kann nicht mehr ganz heil sein.« Ich dachte an die Maya-Tempel, die immer noch von Zeit zu Zeit im dichten Dschungel Mexikos entdeckt werden. So etwas wäre hier unmöglich. Sämtliche historischen Gebäude waren bekannt.

Tomas ging durch den Raum und hob die Bibel hoch. »Sie hätten recht, wenn sich der Tempel über der Erde befände.«

»Und wie haben Sie ihn gefunden? Was enthält er?«

Er blätterte einige Seiten um. »Das wollte ich Ihnen gerade verraten. Ah! Da ist es. Lesen Sie noch mal Nahums Text. In Kapitel 2 beschreibt er die Schlacht, und plötzlich werden wir in Vers zehn abgelenkt. Er passt überhaupt nicht dorthin. ›Raubt Silber, raubt Gold! Denn unermesslich ist der Vorrat, die Fülle von Kostbarkeiten jeder Art.‹«

»Sie meinen demnach, Nahum wollte, dass der Vers über die Plünderung sofort ins Auge fiel«, erwiderte ich.

»Richtig. Wo ist der Tempel? Wenden wir uns einer anderen Passage zu: ›Wo ist nun das Versteck der Löwen und die Lagerstätte der jungen Löwen, wo der Löwe, die Löwin umherstreifte und das Löwenjunge, von niemand aufgeschreckt?‹«

Er achtete darauf, dass ich alles genau mitbekam. Kindliche Begeisterung stand in seinem Gesicht geschrieben. »Der Löwe ist ein Hinweis mit doppelter Bedeutung. Er symbolisierte den König von Assyrien, ist aber auch eng mit der Göttin verhaftet. Daher der Verweis auf die Löwin. Nahum verleiht damit seinem Hinweis, den Tempel der Ischtar zu suchen, Nachdruck.

Das ist der Ort, wo der Löwe sich unbehelligt aufhalten kann. Daher ist er versteckt. Und ein paar Zeilen später erwähnt er eine Höhle. Nahum verrät uns, dass der Tempel sich in einer ungewöhnlichen Umgebung befindet. Die Rede ist von einem geheimen Ort in der Nähe einer Höhle oder sogar in ihr.«

Die Aussicht auf einen solchen Fund hellte meine bislang unverändert düstere Stimmung auf. »Das ist ja fabelhaft. Sind Sie sich ganz sicher mit Ihrer Deutung? Ich habe noch nie gehört, dass die Mesopotamier unterirdische Tempel angelegt haben sollen.«

»Von einigen wissen wir, obgleich die eigentlichen Tempelbauten längst verfallen sind. Ein solcher Ort insbesondere, dem Mondgott Sin geweiht, befindet sich in einer Höhle mit dem Namen Sweetha D’Gannawe, was so viel heißt wie ›Schlafstätte der Räuber‹.«

Ich ließ mir durch den Kopf gehen, was er soeben erzählt hatte. Assurbanipal wusste, dass sein Königreich vor dem Zusammenbruch stand. Wenn der König etwas besaß, das er für außerordentlich wertvoll hielt, dann leuchtete ein, dass er dafür ein Versteck suchte, das so gut wie unmöglich zu finden war.

Tomas hob einen Finger. »Noch eine weitere Überlegung. Nach seiner Tirade gegen Ischtar setzt Nahum Ninive mit No Ammon gleich. Das ist das ägyptische Theben, das ebenfalls von Assurbanipal wegen seiner Schätze geschleift und ausgeplündert wurde.«

»Haben Sie das gefunden? Den verschollenen Schatz von Theben?« Eine solche Entdeckung würde Riesenschlagzeilen machen. »Aber ich dachte, er käme aus Anatolien.«

»Ich meinte nur, dass Nahum sagt, Ninive sei genau wie Theben zerstört worden. Aber auch in diesem Fall gibt es eine doppelte Bedeutung. In dem in den Schriftrollen vom Toten Meer enthaltenen Fragment der Buchs Nahum wird das ›No‹ fallengelassen und es ist nur noch von ›Ammon‹ die Rede. Ammon ist Amun, der höchste ägyptische Gott. Sein Name hat die Bedeutung von ›verbergen‹. Er symbolisiert alles Versteckte, Geheime.

Es liegt auf der Hand, dass Nahum oder vertrauenswürdige Freunde innerhalb der Gemeinschaft der Deportierten in Ninive sein Werk nach Juda schmuggelte, sonst hätten wir das Alte Testament nicht. Sehr wahrscheinlich gab es eine zweite Kopie auf einer Papyrusrolle oder auf Pergament, das sich relativ einfach transportieren ließ.

In den letzten Tagen des assyrischen Reichs herrschten in der gesamten Region ständige Unruhen. Der hebräische König Joschija wurde in Megiddo von den Ägyptern ermordet. Nicht allzu lange danach versank Juda im Chaos und geriet schließlich unter die Herrschaft der Babylonier. Unter diesen Bedingungen wäre es unmöglich gewesen, eine Karawane zusammenzustellen, mit einer bewaffneten Eskorte auszurüsten und auf eine Reise von einigen Hundert Meilen nach Assyrien zu schicken. Also könnten die Judäer den Standort des Ischtar-Tempels richtig gedeutet haben, jedoch haben die historischen Ereignisse verhindert, dass sie ihr Ziel erreichten.«

»Und wo soll das sein?«

»In der Nähe eines Dorfs nicht weit von hier.« Tomas’ Gesicht verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. »Nun – möchten Sie Nahums Geheimnis sehen?«

Babylon
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