Dreiunddreißig

Das Erste, was ich wahrnahm, war ein stechender Schmerz in meinen Schläfen. Ich schlug die Augen auf und sah nur das graue, amorphe Nichts der Welt eines Blinden. Ich blinzelte und rieb mir die Augen in dem verzweifelten Bemühen, meinen Gesichtssinn wiederzubeleben. Meine Sicht klärte sich allmählich und ich konnte erkennen, dass meine Umgebung wirklich grau war: Wände aus Zementblöcken, ein gefängnisgrau gestrichener Fußboden, keine Möbel, ein kleines Fenster dicht unter der Decke, durch das ein wenig Tageslicht hereindrang.

Ich lag auf einer Schaumgummimatte in einer Ecke des Raums. Ich konnte keinen Laut hören und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass die Explosion nicht meine Trommelfelle verletzt hatte. Ein laienhafter Verband um meinen Unterarm bedeckte die Brandwunde, die ich mir am glühenden Fensterrahmen des Kombis zugezogen hatte.

Als ich versuchte aufzustehen, gaben meine Beine sofort nach, als hätte man mich meiner Knochen beraubt und das Fleisch intakt gelassen. Ich schaffte es immerhin, mich auf die Knie zu kämpfen, und kroch auf den Umriss einer Tür in der gegenüberliegenden Wand zu. Ich fand weder eine Klinke noch irgendeinen Schließmechanismus, daher trat ich wieder den mühsamen Rückweg an und ließ mich auf meine Schaumgummimatte fallen.

Als die Tür schließlich aufging, traf mich ein greller Lichtstrahl im Gesicht. Ich schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen und erkannte Tomas, der in der Türöffnung stand. »Hallo, John«, sagte er, »willkommen in unserer Welt.« Seine Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir, aber ich war froh, dass meine Ohren während der Schießerei nicht völlig taub geworden waren.

Einer seiner Männer musste mir die Treppe nach oben helfen. Es fühlte sich an, als erkletterte ich einen kleinen Hügel aus Morast. Im zweiten Stock benutzten wir eine weitere Treppe, die zu einem kleinen Dachgarten führte. Dort befand sich ein Brunnen mit einer kleinen Steinskulptur eines Fauns. Roststreifen markierten den Weg, den das Wasser nahm, das aus den Röhren seiner Panflöte herausströmte. Ich ließ mich in einen Plastiksessel fallen.

Tomas reichte mir ein Glas Tee. »Trinken Sie das«, sagte er. »Es erfrischt Sie ein wenig.«

Jeder Widerstand, den ich vielleicht hätte leisten können, war durch das Trauma der Explosion weggewischt worden. Das frische Mentholaroma des Tees kühlte meine Kehle. Über die Mauer hinweg konnte ich andere Dachgärten auf anderen unauffälligen Häusern in unterschiedlichen Braun- und Beigeschattierungen vor dem Hintergrund eines azurblauen Himmels sehen. In einiger Entfernung ragten Palmen auf, die im Wind sacht hin und her schwangen. Ich spürte die Sonne auf meinem Gesicht, das gleichzeitig von einer kühlen Brise umfächelt wurde. Ich kam mir vor, als säße ich auf der Terrasse einer Ferienpension an der Côte d’Azur. Ich wollte gar nicht mehr von hier fortgehen.

Tomas hatte sogar ein wenig Sonnenbräune abbekommen. Er sah entspannt und zufrieden aus und war offensichtlich froh, wieder zu Hause zu sein.

Ich leerte mein Teeglas und stellte es auf den Tisch zwischen uns. Tomas griff nach einem Teller mit Datteln und Nüssen und fragte, ob ich etwas essen wolle. Ich schüttelte den Kopf. Der Tee war schon fast zu viel gewesen und hatte einen Anflug von Übelkeit ausgelöst. Ich wollte meinem Körper nicht zu viel zumuten.

»Sie werden sich schon bald besser fühlen«, sagte Tomas. »Sie haben keinen bleibenden Schaden davongetragen.«

»Stimmt das mit Laurel?«

Tomas’ Miene verdüsterte sich. »Sie ist tot, John.«

So schwach ich auch immer noch war, stemmte ich mich trotzdem aus dem Sessel hoch und stürzte mich auf ihn. »Sie mieses Stück Scheiße! Sie haben uns verraten. Es ist genau so, als hätten Sie sie eigenhändig umgebracht.«

Seine Männer zogen mich von ihm weg. Einer von ihnen zückte eine Pistole. Tomas winkte ab und massierte die Stelle, wo meine Faust ihn am Kinn getroffen hatte. »Steck das weg; das ist nicht nötig.« Er sah mich an. »Sie tun sich damit nicht den geringsten Gefallen, Madison.«

Für einige Sekunden herrschte Stille, ehe Tomas weiterredete. »Sie hatten sie schon geschnappt, als ich die Schrifttafel an mich nahm. Es gab nichts, was ich hätte tun können.«

»Ward wollte sie haben. Er war bereit, sie auszutauschen.«

»Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass sie das wirklich getan hätten, oder?«

»Es war meine einzige Hoffnung, sie zu retten. Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, die Polizei einzuschalten, ohne das Ward etwas bemerkte. Sie haben alles verdorben und mir jede Chance genommen. Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, das Mausoleum aufzusuchen und sich dort umzuschauen?«

»Laurel erwähnte mal etwas von Hals enger Beziehung zu seiner Mutter. Dann berichtete Ari, was Sie über das Grabmal auf dem Trinity Cemetery gesagt haben. Ich erinnerte mich daran, weil ich ganz in der Nähe wohnte, während ich die Columbia University besuchte. Sie sagten Ari, dass Sie es nicht geschafft hätten hineinzugelangen. Ich suchte und fand das Mausoleum ohne Namen und nahm ein Werkzeug mit, um das Schloss zu knacken.«

»Und was war mit mir? Sie haben mich im Stich gelassen.«

Tomas hatte auch zu seinen besten Zeiten keine besonders hohe Toleranzgrenze, daher dauerte es nicht lange, bis ihm der Geduldsfaden riss. Er schimpfte: »Was hätte ich denn Ihrer Meinung nach tun sollen? Mir saß einer von Wards Leuten im Nacken, und ich habe es kaum geschafft, das Land unbehelligt zu verlassen. Mazare und ich sind ein hohes Risiko eingegangen, Sie hierherzubringen. Sie können von Glück reden. Wir hätten Sie genauso gut Ihrem Schicksal überlassen können.«

»Weshalb diese Mühe?«

Tomas gestattete sich ein Lächeln. »Vielleicht bin ich doch kein so schlechter Mensch, wie Sie annehmen.«

»Tatsächlich? Nachdem Sie kaltblütig einige Leute umgebracht haben?«

»Nachdem sie das Gleiche mit uns versucht haben, meinen Sie sicher, oder?«

»Sind sie alle tot?«

»Eris und Shim gewiss. Und die beiden Helfer. Was Ward betrifft, bin ich mir nicht sicher. Er wurde zumindest schwer verletzt. Sie können froh sein, dass meine Männer nicht lange gefackelt haben.«

»Wie haben sie uns gefunden?«

»In das Jackett, das sie Ihnen gaben, waren Peilsender eingenäht.«

»Sie haben mich fliehen lassen, um Sie zu finden.«

»Ja.«

»Aber Mazare hat mein Jackett untersucht und nichts gefunden.«

Tomas lächelte abermals. »Ja, er hat das Jackett untersucht.«

Es dauerte einige Sekunden, ehe mir ein Licht aufging. »Mazare wusste über die Peilsender Bescheid. Sie wollten, dass sie uns folgen.«

Tomas strahlte jetzt regelrecht. »Wir haben ihnen einen Köder hingehalten, und sie haben ihn geschluckt.«

Abermals gewann bei mir die Wut überhand über meine Erschöpfung. »Sie und Ward sind sich völlig gleich, wissen Sie? Menschenleben bedeuten Ihnen gar nichts.«

Tomas wischte diesen Vorwurf mit einer Handbewegung beiseite. »Nicht gar nichts. Aber es steht bei uns nicht unbedingt an erster Stelle.«

Ich ließ das fürs Erste auf sich beruhen. »Jemand muss die New Yorker Polizei darüber informieren, was wirklich vorgefallen ist.«

»Wenn Sie zurückkommen, können Sie alles erzählen, wem immer Sie wollen. Ich werde es ganz sicher nicht tun. Aber nehmen Sie sich in Acht. Sie gehörten zu den letzten Personen, die Hal und Laurel lebend gesehen haben. Es könnte für Sie gefährlich werden.«

»Das Risiko gehe ich ein. Wo ist die Schrifttafel Nahums? Ich möchte sie wenigstens einmal sehen.«

»Zu gegebener Zeit.«

»Was reden Sie da – zu gegebener Zeit? Sie müssen sie doch hierhaben. Sie würden sie niemals aus den Augen lassen.«

Tomas wedelte mit der Hand herum, als verscheuchte er ein lästiges Insekt. »Nicht einmal dieser Ort ist hundertprozentig sicher. Sie muss ständig beschützt werden.«

Mein Zorn loderte wieder hoch. »Ich glaube Ihnen kein Wort.«

Er hatte nur Verachtung für mich übrig. In seiner überlegenen Position konnte er sich das erlauben.

»Nach dem, was mit Samuel geschah, nach allem, was er durchgemacht hatte, haben Sie kein Recht, mir die Tafel vorzuenthalten.«

Damit berührte ich offensichtlich einen wunden Punkt. »Erzählen Sie mir nichts von Samuel. Ich war es schließlich, auf den er sich verlassen konnte. Sie waren für ihn nichts anderes als ein Stein des Anstoßes. Er tat den Leuten leid, weil er sich mit Ihnen herumschlagen musste. Das hat Laurel mir in New York erzählt.«

Hatte sie das wirklich gesagt oder sog er sich das aus den Fingern? Die Scham, die ich plötzlich empfand, verriet mir, was ich wissen wollte.

Seine Männer schoben sich zwischen uns. Tomas wandte sich zum Gehen und machte damit klar, dass unser lautstarker Disput beendet war. Er hatte sich besser unter Kontrolle als ich. Es schien, als hätte die Stadt ihn irgendwie verändert. Oder es war die freudige Genugtuung, einen Gegner besiegt zu haben. »Ich bin für den Rest des Tages außer Haus«, sagte er beiläufig, während er die Treppe hinunterging. »Meine Männer kümmern sich um Sie, während ich unterwegs bin.«

Er brauchte mir nicht zu drohen, was geschehen würde, wenn ich zu fliehen versuchte.

Vom Nachmittag war nicht mehr viel übrig. Ich stemmte mich hoch, zog meinen Sessel bis zur Brüstung und saß dort, während das allabendliche Farbenspiel den Himmel pink und violett erstrahlen ließ, bis er schließlich grau wurde und sich verdunkelte. Ich war froh, dass man mich alleine gelassen hatte. Trübe Gedanken suchten mich heim und erinnerten mich qualvoll an mein mehrfaches Versagen. Der Verkehrsunfall hatte meinen Absturz ausgelöst. Obgleich ich ihn wie durch ein Wunder überlebt hatte, glaubte ich nicht, dass ich mich jemals davon erholen würde.

Mit der hereinbrechenden Nacht wanderten meine Gedanken zu Samuel. Ich erinnerte mich an eine Eisenbahnfahrt, die wir nach einem seiner langen Auslandsaufenthalte unternommen hatten, um Freunde in der Nähe von Utica zu besuchen. Fast während der ganzen Fahrt hatte ich dagesessen, meine Nase am Fenster platt gedrückt und die Landschaft draußen betrachtet. Wir rollten vorbei an Getreidefeldern, die sich im hellen Sonnenschein golden färbten; an schon seit langem nicht mehr benutzten Wasserläufen, deren Oberflächen mit saftig grünen Wasserpflanzen bedeckt waren; an Weinranken, die sich an Telegrafenmasten hochwanden; an Straßen, die ins Nichts führten; an Wäldern; an Rotwild, das äsend durch das Gras an den Flussufern wanderte. Ich hatte mir an diesem Tag vorgestellt, ich sei der letzte Mensch, der noch auf dem Planeten existierte und miterlebte, wie die Erde wieder die Herrschaft über sich selbst übernahm.

Irgendwann überquerten wir eine weitläufige Sumpflandschaft, die mit kerzengerade aufragenden Binsen überwuchert war. Es waren idyllische Tage, die ich mit ihm in meiner Jugend verbracht hatte. Was war geschehen, dass sie so schrecklich hatten enden müssen? Durch welchen Fehler, welchen Bruch, war eine Persönlichkeit entstanden, die jedem Unglück brachte, der mir wert und teuer war?

Während der nächsten sechs Tage erholte ich mich langsam, aber sicher. Mein Gehörsinn kehrte nach und nach zurück. Die Brandwunde an meinem Arm schmerzte kaum noch. Meine Erinnerung an die Schießerei auf dem Friedhof verblasste wie ein böser Traum. Ich kam körperlich wieder zu Kräften. Emotional schwankte ich zwischen Selbstvorwürfen wegen Laurels Tod und einer tiefen Depression, eine der schlimmsten Stimmungen, die ich je durchlebt hatte.

In meinem Gefängnis gab es kein Fernsehen und kein Radio. Die Terrasse wurde schnell zu meinem Refugium. Wenigstens hier war ich zum Glück von der übrigen Welt abgeschnitten. Der einzige Lichtblick, so winzig er auch war, ergab sich aus der Tatsache, dass ich ein Gefühl der Zuneigung für diese Stadt entwickelte. Völlig untypisch für mich war, dass ich morgens schon sehr früh aufstand, um miterleben zu können, wie die kastenförmigen Gebäude von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurden und allmählich Gestalt annahmen. Sosehr ich eigentlich Nachtmensch war, nahm ich ländliche Verhaltensweisen an, indem ich sozusagen mit der Sonne aufstand und zu Bett ging, so dass ich von den Stromschwankungen, die sich durch ein Flackern der Beleuchtung bemerkbar machten, oder den totalen Stromausfällen kaum etwas mitbekam. Im Stadtzentrum von Bagdad gab es zahlreiche Hochhäuser, von denen ich jedoch nur sehr wenig sehen konnte. Daher vermutete ich, dass das Haus, in dem ich mich aufhielt, in einem der Vororte stand.

Natürlich brachte sich auch hier immer wieder der Krieg in Erinnerung. Häufig waren am Himmel Militärhubschrauber zu sehen, die über uns kreisten wie zornige Wespen. Eines Tages loderte am Horizont eine Flammenzunge in den Himmel, gefolgt von einem lauten Donner, der ewig zu dauern schien. Das bereitete mir jedoch keine Sorgen. Wie eine Motte, die sich in ihren Kokon eingesponnen hat, fühlte ich mich vor den Unruhen draußen völlig sicher. Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass die Möbel im Dachgarten mit einer Schmutzschicht bedeckt waren. Ich holte mir einen Lappen und wischte alles so gut es ging sauber. Es erschien so einfach, den Schrecken einer Bombe mit einer einfachen Handbewegung zu bannen. Vielleicht war das mein Versuch, so etwas wie Stabilität in mein Leben zurückzuholen.

Einmal glaubte ich, Laurels Stimme zu hören. Ich ging schnell zur Brüstung. An einigen Stellen war die Straße so schmal, dass es aussah, als könnte man das gegenüberliegende Gebäude mit ausgestreckter Hand berühren. Ich sah drei Frauen, jede mit einem schwarzen Tschador bekleidet, im Spaziertempo die Straße hinunterschlendern. Ihr glockengleiches Lachen drang bis zu mir herauf. Eine streckte einen Fuß vor; eine silberne Kette zierte ihr Fußgelenk. Ihr Kopftuch rutschte zurück und entblößte glänzendes dunkles Haar. Sie schaute hoch, weil sie offenbar spürte, dass ich sie von oben beobachtete. Natürlich war es nicht Laurel. Meine Fantasie hatte mir nur einen üblen Streich gespielt.

Ob es meine neue Verbundenheit mit der Stadt war, die Samuel geliebt hatte, mein Beinahe-Tod oder mein nüchternes Nachdenken über Laurel, auf jeden Fall war dies der Moment, als ich erste bewusste Schritte unternahm, mit Samuels Tod Frieden zu schließen. Es war nicht so, dass ich mir diesen Unfall verzieh, aber das ständige Leugnen hörte auf und ich war endlich bereit einzugestehen, dass ich ihn verursacht hatte.

Nach unserer ersten Begegnung sah ich Tomas nur noch selten. Als ich ihn einmal fragte, weshalb er mir nicht einfach dabei behilflich war, das Land zu verlassen, wehrte er meine Frage mit einem Scherz ab und fragte: »Warum? Wird hier nicht angemessen für Sie gesorgt?« Und als ich verlangte, dass er mir Nahums Schrifttafel zeigte, oder wissen wollte, welche Fortschritte er bei ihrer Entschlüsselung gemacht habe, antwortete er nur vage und ausweichend. Ansonsten war er höflich und manchmal sogar um mein Wohl besorgt, blieb aber auf Distanz. Nur bei einer Gelegenheit öffnete er sich mir gegenüber ein wenig.

Sehr spät an einem Abend hörte ich seine Schritte auf der Treppe zum Dachgarten. Er brachte Gläser und eine Karaffe eines sehr süßen Weins mit. Er setzte sich und schenkte unsere Gläser voll. Er schien aufgeräumter Laune zu sein. Ich hatte nicht geringste Ahnung, was diesen Stimmungsumschwung bewirkt haben konnte.

»Sie haben eine ziemlich schwierige Zeit hinter sich, Madison«, sagte er. »Ich wüsste nicht, was ich an Ihrer Stelle hätte anders machen können, aber ich muss mich bei Ihnen für die Rolle, die Sie gespielt haben, bedanken.«

Ich ließ beinahe das Weinglas fallen. Als Nächstes fragte er mich sicher, ob er bei meiner Hochzeit Trauzeuge sein dürfe. Ich hatte mich derart an seine feindselige, ablehnende Haltung gewöhnt, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte.

»Ich hoffe, Sie können ein wenig nachvollziehen, wie es ist, hier drüben um sein Überleben zu kämpfen«, fuhr er fort. »Während der letzten Monate habe ich mich oft gefragt, wie ich es überhaupt so lange habe schaffen können. Als die Invasion begann, war ich überzeugt, dass wir alle den Tod finden würden.«

Ich erinnerte mich an das, was Ari mir von seiner Verlobten erzählt hatte. »Es muss die reinste Hölle gewesen sein, überhaupt aus Bagdad herauszukommen.«

»Was die Flucht aus der Stadt betrifft, kann ich mich nicht mehr an allzu viel erinnern. Es war chaotisch, so viel weiß ich noch. Die Menschen waren in heller Panik. Sie stapelten Kisten und Matratzen auf die Autodächer und zwängten sich in alles, was vier Räder hatte und aus eigener Kraft fahren konnte. Sämtliche Hauptstraßen waren verstopft und auf den Bürgersteigen stritten die Plünderer sich um die Beutestücke. Ich beobachtete einen Mann, der alleine einen Kühlschrank hinter sich herschleifte, den er irgendwo gestohlen hatte. Als er umkippte, sprang die Tür auf. Er war mit Lebensmitteln gefüllt. Die Leute rafften alles zusammen, was ihnen in die Hände fiel – Plastikrohre, Schläuche, sogar Stromkabel, deren Kunststoffhülle sie entfernten, um den Kupferdraht zu verhökern. Die Plünderer drängten sich ungehindert durch die Straßensperren. Niemand hielt sie auf.

An unserem letzten Tag fuhren wir zu einem Freund, um uns Benzin zu borgen. Ich wartete mit dem Kombi, während die anderen nur dafür sorgten, dass ihre Tanks gefüllt wurden. Ich sah eine Frau auf der Straße, die mindestens Ende vierzig war. Sie trug ihr traditionelles Gewand, nur der Hijab fehlte. Sie hatte das Haar gelöst und es wallte ihr auf den Rücken. In einer Hand hielt sie einen Laufschuh.

Sie verhielt sich sehr seltsam, indem sie sich bückte und einen Haufen Abfall durchsuchte, dann wandte sie sich um, machte ein paar Schritte in die andere Richtung und versetzte einem Dreckhaufen einen Fußtritt. Ein jüngeres Paar näherte sich ihr, fasste sie am Arm und wollte sie wegziehen, doch sie schrie sie an und schüttelte sie ab.

Unser Freund berichtete, dass sie sich schon seit mehr als einem Tag so seltsam verhielt. Offenbar waren ihre drei Söhne auf dem Heimweg gewesen, als eine Rakete einschlug und sie auf der Stelle tötete. Ihrem Jüngsten war das Bein abgerissen worden. Die Frau war überzeugt, dass sie nur den anderen Laufschuh finden müsse, dann würde sein Bein wieder heilen und er erwachte wieder zum Leben. Offensichtlich hatte sie den Verstand verloren.«

Mein schlechtes Gewissen meldete sich, als ich ihm zuhörte, obgleich ich die Invasion niemals befürwortet hatte. »Das klingt genau wie eine von Aris Geschichten.«

»Einiges davon hat er gefilmt, aber ich glaube, es ist nicht über den Schneideraum hinausgekommen.«

»Laurel erwähnte, er habe einige Preise gewonnen. Deshalb muss er nichts mehr beweisen. Er könnte sicherlich einen weniger gefährlichen Posten irgendwo im Mittleren Osten finden. Weshalb will er unbedingt hierbleiben?«

Tomas lehnte sich in seinem Sessel zurück und ließ den Wein in seinem Glas kreisen, während er nachdachte. »Ich wünschte, ich könnte diese Frage beantworten. Lange Zeit glaubte ich, er würde von dem Geschehen angezogen wie ein Soldat, der sich an der Gefahr berauscht. Das denke ich nicht mehr. Jetzt glaube ich, dass er einfach zu jung war, als er mit dieser Tätigkeit begann. Er war zu leicht zu beeindrucken.«

»Wie meinen Sie das?«

»Während seines ersten Studienjahres schickte ihn ein Nachrichtendienst während des Golfkriegs in den Irak.« Tomas grinste spöttisch. »Sie können sich sicherlich vorstellen, dass sich dazu, als Hussein noch an der Macht war, nicht sehr viele Freiwillige meldeten. Eigentlich wollte Ari Porträtfotograf werden; er dachte nicht einmal entfernt an Journalismus. Aber er nahm das Angebot an. Ich wünschte, er hätte es nicht getan. Er sah Dinge, die ihm das Herz brachen. In den Krankenhäusern waren die Fußböden glitschig von Blut. Menschen hatten so schlimme Verbrennungen, dass sich ihre Haut ablöste, wenn man sie nur sacht berührte. Das hat ihn für immer verändert.«

Er leerte sein Glas und stand auf. »Aber Ari ist ein geborener Überlebender. Er geht keine unsinnigen Risiken ein.« Er schaute auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen. Wir können uns morgen beim Mittagessen weiter unterhalten.«

»Schön«, sagte ich. »Was ist geschehen, dass Sie so guter Stimmung sind?«

Er lächelte verschmitzt und wandte sich ab. »Morgen. Dann werden Sie es erfahren.«

Der Raum, in dem wir am nächsten Tag zu Mittag aßen, war klinisch sauber und kahl. In ihm standen nur ein großer, rechteckiger Tisch mit einer billigen Plastikdecke darauf, einige Gartenstühle und ein Leinenhocker, auf dem eine Bibel lag. An einer Wand hingen ein Kruzifix sowie einige Bilder – billige Drucke in Goldrahmen aus Plastik, alle mit christlichen Motiven: Jesus bei der Verwandlung von Wasser in Wein, eine Szene aus dem Garten Gethsemane, das Abendmahl. Tomas sprach ein kurzes Gebet, ehe wir begannen, und schien während der Mahlzeit seltsam erregt zu sein. Nicht auf unangenehme Art, sondern eher in einer Weise, als hätte er Mühe, seine Begeisterung über irgendetwas im Zaum zu halten. Ich versuchte mehrmals, ihn zu überreden, mir doch die Neuigkeit mitzuteilen, doch er bat mich, Geduld zu üben.

Als wir unsere Mahlzeit beendet und uns die obligatorische Tasse Kaffee eingeschenkt hatten, ließ er die Bombe platzen. »Ich habe den assyrischen Schatz gefunden.«

Babylon
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