Vierzehn
Auf Laurels Vorschlag hin suchten wir uns im Park am Washington Square einen Platz, wo wir ungestört sitzen und an dem Dürer-Rätsel arbeiten konnten. Der Park war gut besucht und wir waren inmitten der vielen Menschen einigermaßen sicher.
»Phillip ist ein Arsch«, sagte ich. »Er steht in dem Ruf, bei Frauen ein totaler Versager zu sein.«
»Das wundert mich gar nicht. Wer ist Claire?«, wollte Laurel wissen.
»Phillips Exfrau und eine alte Freundin von mir. Es überrascht mich, dass er mir ausgerechnet sie empfohlen hat; ich dachte, zwischen ihnen herrsche totale Sendepause. Sie war Mitbesitzerin von Phillips Galerie und hat später ihre eigene eröffnet. Sie ist Kuratorin im Museum of Modern Art mit einer langen Latte von Referenzen – Diplome in Cambridge und an der Sorbonne und so weiter. Ihr Vater besitzt eine der bedeutendsten Sammlungen okkulter Literatur im ganzen Land. Wenn sie irgendetwas Interessantes wittert, dann lässt sie nicht locker, daher sollten wir versuchen, das Rätsel selbst zu lösen. Ich möchte sie eigentlich nicht um Hilfe bitten, es sei denn, mir bleibt nichts anderes übrig.«
Wir spazierten durch den Eingang am Waverly Place und gelangten zu den Schachspielern. Bei zwei Männern blieben wir stehen. Sie hatten die Köpfe über das Schachbrett gebeugt und konzentrierten sich auf das Spiel, als hinge ihr Leben davon ab.
Ich lehnte mich zu dem Spieler hinunter, der mir am nächsten saß, und flüsterte: »Springer f3.« Der Mann blinzelte noch nicht einmal.
»Spielst du viel Schach?«, fragte Laurel, während wir weitergingen.
»Früher mal. Ich habe seitdem nie wieder gespielt, weil ich meinen perfekten Rekord nicht einstellen wollte.«
Sie versetzte mir einen nicht ganz ernst gemeinten strafenden Klaps.
Wir setzten uns auf eine Bank in der Nähe der Hundeausläufe. In einer wahrlich bürgerfreundlichen Geste bot der Park separate geschlossene Ausläufe an, einen für die kleinen Rassen und einen zweiten auf der anderen Seite für die größeren Exemplare. Wir schauten kurz zu, wie ein Yorkshireterrier einem Langhaardackel einen Ball abjagte.
Ein Stück weiter kühlten Parkbesucher ihre Füße im Springbrunnen. Parkarbeiter flitzten in Golfwagen an uns vorbei. Der Washington Square hatte seit den Sechzigerjahren, als Pollock und de Kooning in der Nähe ihre Ateliers hatten und Allen Gisberg und Bob Dylan die Hofsänger des Viertels waren, viel von seinem Flair verloren. Nach dem, was ich gehört hatte, konnte man sich das Kraut für seinen Joint praktisch im Park pflücken.
Falls Dürer seinen Namen tatsächlich auf achtundsechzig verschiedene Weisen verewigt hatte, bezweifelte ich, dass ich jemals die richtige Version finden würde. Wir schauten uns Melencolia 1 noch einmal genau an. Zwei Websites, die ich auf meinem BlackBerry aufrief, erwiesen sich als hilfreich. »Was siehst du in der rechten oberen Ecke?« Das Bild war verschwommen und grau in grau, aber immer noch ziemlich deutlich zu erkennen.
»Die Glocke«, sagte Laurel, »und das magische Quadrat. Magische Quadrate kommen doch ursprünglich aus China, nicht wahr?«
»Ja. Die Babylonier hatten sie ebenfalls, und zwar Quadrate fünfter und sechster Ordnung, die sie für astrologische Zwecke benutzten. In Dürers magischem Quadrat ergibt die Addition der beiden Konstanten drei und vier, sieben. Multipliziert man sie miteinander, erhält man zwölf. Sieben und zwölf sind die heiligsten Zahlen.« Ich rief eine andere Website auf und las Laurel den dort enthaltenen Text laut vor. »Die Sieben erfreute sich bei den Mesopotamiern besonderer Verehrung wegen der sieben Himmelskörper, die mit dem bloßen Auge zu erkennen sind: der Mond, Merkur, Venus, die Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Pythagoras sah in der Sieben das Symbol vollkommener Harmonie, und der Judaismus sah sie als die perfekte Zahl an, war doch der siebte Tag der Woche, der Sabbat, ausschließlich für die Gottesverehrung reserviert.«
»Und da ist auch noch die Musik«, fügte Laurel hinzu, »und zwar die diatonische Tonleiter mit ihren sieben Tönen.«
»Richtig. Und hast du schon mal vom siebten Himmel gehört? Das ist die muslimische Vorstellung vom höchsten Himmel, wo einen die höchste Reinheit erwartet. Aber das hilft uns nicht weiter«, sagte ich. »Die Sieben passt nicht, da nur zwei Quadrate auszufüllen sind.«
»Zu was addiert sich der vollständige Name Albrecht Dürers?«, fragte Laurel.
Ich nannte die numerischen Werte jedes Buchstabens in seinem Namen und zählte sie zusammen. »Einhundertfünfunddreißig. Dafür braucht man drei Quadrate, und wir haben nur zwei.«
»Ich denke, es hat keinen Sinn, es mit der Konstanten, vierunddreißig, zu versuchen, denn sie stünde dann für die Buchstaben C und D«, sagte Laurel.
Ich nickte geistesabwesend. Nach einer weiteren halben Stunde waren wir keinen Deut weitergekommen und beschlossen, unsere Bemühungen abzubrechen und zu gehen. Die Sonne war hinter einer dunklen Wolkenbank verschwunden und verlieh dem spätnachmittäglichen Himmel einen rot-grauen Schimmer, ohne die Hitze auch nur ein wenig zu mildern. Schweiß rann mir in Strömen den Rücken hinunter und sammelte sich in meinem Kreuz.
Laurel blieb stehen, als wir uns dem westlichen Ausgang des Parks näherten. Zwei Gestalten waren ihr aufgefallen. Sie wandte sich halb zu ihnen um und ich folgte ihrem Blick. Die erste war ein silberner Elvis. Gegelte und silberne Haare, die an den Seiten nach hinten gekämmt waren, silbernes Gesicht, ein funkelnder, mit Strass besetzter Anzug, eine Sonnenbrille mit Chromgestell. Im Minutenabstand drehte er sich, schob die Hüften vor und nahm eine neue Elvis-Pose ein. Der andere Performancekünstler, ein paar Schritte entfernt, trug ein Narrenkostüm. Eine schwarz-goldene Mütze mit kleinen Glöckchen und einen schwarzen, hautengen Overall mit weißem Kragen. Auf jedem Revers seines Kragens befand sich das Symbol einer Spielkartenfarbe: Pik, Herz, Karo, Kreuz. Sein Gesicht wurde vollständig von einer weißen Porzellanmaske verhüllt. Auf seinem linken Handgelenk erkannte ich eine rote Tätowierung.
Laurel hob eine Hand und hielt sie sich vors Gesicht. »Wer ist das?«
»Gute Frage. Der Elvis ist wahrscheinlich ein echter Straßenkünstler, aber der Narr muss zu den Leuten hinter der Alchemie-Website gehören.«
Wir befanden uns in einem dicht bevölkerten Park, deshalb fühlten wir uns einigermaßen sicher. Wir warteten ab, um zu sehen, was er tun würde. Sein Blick wanderte zu Laurels Brüsten und saugte sich daran fest. Ich legte einen Arm um sie, um ihm unmissverständlich klarzumachen, dass sie zu mir gehörte, und dann hob ich die andere Hand und zeigte ihm den Stinkefinger.
»Verschwinden wir«, sagte ich. »Dieser Typ macht mich nervös.«
Damit waren es schon drei – Eris, Shim und dieser Typ im Narrenkostüm. Und sie stellten nicht nur für mich, sondern jetzt auch für Laurel eine Gefahr dar. Das Einzige, was mir dazu einfiel, war, mich schnellstens nach eigenen Verbündeten umzusehen, um mit ihrer Überzahl gleichzuziehen. Das bedeutete, dass ich Laurel ins Bild setzen und Tomas’ Hilfe in Anspruch nehmen musste. Ich wollte sowieso in Erfahrung bringen, was Tomas wusste, und dies lieferte einen geeigneten Vorwand. Ich könnte sie einweihen und hätte gleichzeitig noch etwas in Reserve. Ich hoffte, dass Hals Speicherstick bei Nina sicher war. Die einzige andere Datei befand sich auf meinem BlackBerry, und Eris und ihre Freunde würden ganz gewiss nicht an sie herankommen. Ich berichtete Laurel von dem Buch Nahum und was Tomas mir darüber erzählt hatte.
»Jetzt verstehe ich, weshalb sie so wild dahinter her sind«, sagte sie, als sie sich von ihrer Verblüffung über diese Information einigermaßen erholt hatte. »Kein Wunder, dass die Tafel ein Vermögen wert ist. Was sagtest du, wie er heißt – Tomas Zakar? Bist du dir bei ihm ganz sicher, was seine Motive betrifft?«
»Samuel hat ihn im Irak angestellt. Das stimmt eindeutig.«
»Woher weißt du, dass er dir nicht irgendeine Fantasiegeschichte erzählt? Er könnte wer weiß wer sein. Was wäre, wenn er mit irgendwelchen Terroristen in Verbindung steht?«
»Völlig unmöglich. Samuel hätte sich niemals so einen ins Team geholt. Ich möchte, dass du ihn kennenlernst. Ein drittes Augenpaar hilft uns vielleicht, das Rätsel zu knacken. Es hat sicherlich wenig Sinn, in dieser Sache getrennt zu marschieren.«
»Na schön. Aber wenn er dir irgendwie seltsam vorkommt, zieh dich sofort zurück. Hals Spiel hat uns völlig in seinen Bann geschlagen, und das scheint dir gar nicht bewusst zu sein. Es macht mir große Sorgen, wenn ich sehe, wie du dich blindlings auf alles stürzt, von dem du glaubst, dass es dich irgendwie weiterbringt.«
Bei dieser Bemerkung gingen mir die Nerven durch. »Laurel, ich wurde bedroht und mein Leben ist in Gefahr. Und sieh dir nur mal an, was gerade passiert ist. Diese Leute haben keine Hemmungen und tauchen auf, wo sie wollen, sogar in einem öffentlichen Park, wo es von Menschen wimmelt. Sie fürchten sich vor gar nichts. Und wie kommt es, dass sie mir ständig auf den Fersen sind? Du hast recht, ich handele überstürzt. Aber ich habe verdammt noch mal keine andere Wahl!«
»Warum bist du gleich so wütend? Ich will dir doch nur helfen.« Sie hakte sich bei mir unter. »Gemeinsam schaffen wir das schon.«
Die Wohnung stünde auf deren Liste der Orte, wo ich am wahrscheinlichsten zu finden wäre, sicherlich ganz oben. Ich musste schnellstens von dort verschwinden. Laurel wartete an der Ecke im Caffè Dante, während ich schnell ins Haus eilte, um ein paar Sachen zu holen. Ehe ich die Wohnung betrat, wartete ich jedoch unten im Eingang von Kenny’s und hielt Ausschau nach möglichen Verfolgern.
Sobald ich in meinen vier Wänden war, raffte ich einige Kleider und Toilettenartikel zusammen und verstaute sie mit Samuels letztem Tagebuch in einem kleinen Koffer. Meine Schatzkiste schob ich nach hinten in den Kleiderschrank, legte eine Decke darüber und stellte ein paar Schuhe darauf. Dann steckte ich Samuels Brieftasche mit seiner American-Express- und seiner Visa-Kreditkarte und etwa zweihundert Dollar in bar in die Tasche. Man hatte sie mir kurz nach dem Unfall ausgehändigt.
Ich wollte gerade gehen, als das Telefon klingelte.
»Mein Lieber, in was hast du dich denn jetzt wieder hineingeritten?«
Claire. Sie machte sich nie die Mühe, sich mit ihrem Namen zu melden, da sie annahm, die ganze Welt würde sie kennen. »Das ist aber seltsam, dass du mich anrufst.«
»Phillip hat mir eine Nachricht geschickt. Er sagte, du wolltest mich sprechen. Es habe irgendetwas mit Alchemie und Albrecht Dürer zu tun. Du steckst deine Nase immer in die verrücktesten Dinge, mein Lieber.«
»Zurzeit stelle ich einige Nachforschungen wegen eines Stichs von Alfred Dürer an, aber ich glaube, das kriege ich auch alleine ganz gut hin. Kann ich mich bei dir melden, falls ich deine Hilfe brauche?«
»Natürlich. Aber jetzt ist mein Interesse geweckt. Dir winkt doch sicher wieder eine fette Provision, nicht wahr? Dabei habe ich nichts darüber gehört, dass irgendwo ein echter Dürer angeboten wird.«
»Auf dem Markt ist alles zu kriegen, Claire, das weißt du ganz genau. Hör mal, ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich angerufen hast, aber ich muss jetzt Schluss machen.«
Sie legte abrupt auf. Offenbar war sie sauer, weil ich sie hingehalten hatte.
Ich setzte mich mit Tomas in Verbindung, und er schlug vor, dass wir uns in seinem Zimmer im Waldorf treffen sollten. Ehe ich aufbrach, holte ich die 1985er Flasche Barolo hervor, die ich für besondere Gelegenheiten aufbewahrt hatte. Ich schrieb ein Dankeschön an Nina auf die Rückseite meiner Visitenkarte.
Als sie nicht antwortete, nachdem ich bei ihr angeklopft hatte, lehnte ich die Flasche an ihre Tür und ging. Sie hatte sie sich redlich verdient.