Neun

Ich hatte die Absicht, nach Hause zurückzukehren und mich erneut an dem Rätsel zu versuchen, doch dann kam mir eine bessere Idee und ich begab mich stattdessen zu Hals Stadthaus, das in einem ruhigeren Abschnitt der West Twentieth stand. Mit einigen Bürgern aus der Nachbarschaft, die ihre Hunde ausführten, und Anwohnern, die aus den Restaurants kamen und über die Bürgersteige spazierten, machte die Straße einen relativ sicheren Eindruck. Es war ein völlig ruhiger, ereignisloser Abend. Und doch wurde ich wieder von einem Gefühl heimgesucht, als lauerte in der zunehmenden Dunkelheit etwas Böses.

Ich lehnte mich an den schmiedeeisernen Zaun der Schule gegenüber Hals Haus und beobachtete meine Umgebung. St. Peter’s Episcopal Church mit ihrem hellgrauen Kalksteinmauerwerk, den hellroten Türen und ihrem eleganten Glockenturm erhob sich im Westen. Das hohe, schwarze Eisentor des Kirchenvorhofs stand offen, wie es oft der Fall war, wenn im Kirchenraum eine Kunstausstellung oder eine Musikveranstaltung stattfand. Neben der Kirche war die Klinkerfassade des Atlantic Theater zu erkennen.

Da ich nichts Ungewöhnliches bemerkte, überquerte ich die Straße und ging zu Hals Haus hinüber. Es war ein typischer vierstöckiger Bau, weniger elegant als die meisten anderen, mit einer schlichten Stuckfassade in verblichenem Rosé mit schwarzen Verzierungen. Das Parterre befand sich auf Straßenniveau, nicht in halber Höhe der ersten Etage wie bei den eleganteren Villen. Gelbes polizeiliches Absperrband spannte sich als großes X über die Haustür. Ich schaute nach rechts und links, um mich zu vergewissern, dass ich nicht beobachtet wurde, und tippte den Code für das Haustürschloss ein. Peter hatte ein kompliziertes Sicherheitssystem einbauen lassen, aber Hal hatte auf dessen ständige Aktualisierung verzichtet, so wie er auch andere Dinge vernachlässigt hatte, die er sich finanziell nicht länger hatte leisten können. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken und ich schlängelte mich unter dem Absperrband durch und drückte die Tür hinter mir zu.

Ich hatte mich zu diesem Besuch entschlossen, weil es in Hals Papieren irgendeinen Hinweis auf das Versteck geben musste. Vielleicht hatte er die Schrifttafel sogar an einem Ort deponiert, den ich kannte.

Im Haus war es düster, aber ich kannte mich hier aus wie ein Kaninchen in den dunklen Gängen seiner unterirdischen Behausung. Ich wanderte durchs Parterre, wo die Zimmer immer noch nach dem Alkohol und dem Marihuana der letzten Party rochen, und vergewisserte mich, dass die Fenster und Türen verriegelt waren. Ich konnte beruhigt feststellen, dass die Polizei ihren Job sorgfältig erledigt hatte. In der zweiten Etage schien alles in Ordnung zu sein. Ein schaler Geruch stieg mir in die Nase, als ich an Peters Schlafzimmer mit seiner Ansammlung verschütteter Speisereste, Staub und nächtlicher Missgeschicke vorbeikam. Hal war als Hausmann wirklich keine Leuchte gewesen. Wahrscheinlich hatte er sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, die Bettwäsche zu wechseln, nachdem sein Vater ins Altenheim umgezogen war.

Hals Arbeitszimmer war ein fensterloser Raum in der Mitte der zweiten Etage, daher hatte ich keine Bedenken, die Schreibtischlampe anzuknipsen. Der Raum war mit einem schweren Eichenschreibtisch im holländischen Stil, zweifellos ein Erbstück von einem seiner erlauchten Vorfahren, und einem dazu passenden Holzsessel möbliert. Ein IKEA-Buchregal stand als seltsamer Kontrast vor einer Wand, vollgestopft mit Wälzern über Philosophie, Physik und Spiel-Theorie. Ich ging sie durch und fand auch einige Bücher über Alchemie.

Sämtliche wertvollen Bilder waren von den Wänden entfernt worden, wo helle rechteckige Flecken von ihrem Fehlen kündeten. Das einzige Bild, das noch übrig geblieben war, eine Reproduktion von Dürers Kupferstich Melencolia 1, war von so geringem Wert, dass sich der Versuch, es zu verkaufen, nicht lohnte.

Hals Laptop fehlte. Ich stöberte in seinen Papieren auf der Suche nach irgendeinem Hinweis auf das Versteck der Schrifttafel. Wie ich vermutet hatte, lag eine Kopie der Benachrichtigung von Teras Distributing weit oben in einem unordentlichen Stapel unterschiedlichster Post auf seinem Schreibtisch. Mit einer Heftklammer war eine Nachricht von Walter Taylor an dem Brief befestigt, einem Kulturattaché in Jordanien, der mit Samuel befreundet gewesen war.

Samuel, ich habe dein Paket, wie gewünscht, mit unserer Diplomatenpost verschickt. Es sollte im Juni bei Teras Distributing eintreffen. Würde ich dich nicht so gut kennen, könnte ich glatt auf die Idee kommen, dass der Arrak, den du in all den Jahren in dich hineingeschüttet hast, am Ende doch noch seinen Tribut gefordert hat. Aber ernsthaft – es ist durchaus möglich, dass du etwas Bedeutendes gefunden hast. Es wäre ein angemessener Höhepunkt deiner Karriere. Wir können uns ausführlich darüber unterhalten, wenn ich wieder zu Hause und auf sicherem Boden bin. Du kannst schon einen Gin mit Eis für mich bereitstellen. Denk nicht einmal daran, in den Irak zurückzukehren, mein Freund. Dort fliegt in Kürze alles in die Luft.

Also hatte Samuel außer seinen Assistenten auch noch jemand anderen ins Vertrauen gezogen. In Jordanien wäre es jetzt drei Uhr morgens. Ich würde wohl oder übel warten müssen, bis ich Taylor anrufen konnte.

In einer Schublade fand ich einen Computerausdruck:

Neoassyrische Steinschrifttafel aus dem Kujundschik-Hügel in Ninive. Siebtes Jahrhundert v. Chr. Ausführliche Beschreibung bei ernsthaftem Interesse. Seltene Antiquität.

Eine Telefonnummer am Ende des Textes war ausradiert oder weggekratzt worden. Wahrscheinlich ein Textentwurf der Anzeige, die Hal aufgeben wollte, um die Schrifttafel zu verkaufen. Wie laienhaft. Kein seriöser Händler würde ein solches Objekt ohne eine genaue Beschreibung, die Nennung seines möglichen Verkaufswertes und nachprüfbare Angaben über seine Herkunft auch nur anrühren. Wenn Hal wirklich geglaubt hatte, mit einem solchen Verkauf unbehelligt davonzukommen, musste er völlig verrückt gewesen sein. Egal welche Adresse er genannt hätte, Interpol hätte sie innerhalb von Minuten ausfindig gemacht. Genauso gut hätte er auf dem Times Square eine Reklametafel aufstellen können. Seitdem das Bagdad Museum ausgeplündert worden war, wurden Objekte aus dem Irak besonders genau unter die Lupe genommen. Die Ahnungslosigkeit, die er an den Tag legte, war geradezu atemberaubend.

Während der nächsten halben Stunde durchstöberte ich Hals restliche Rechnungen und Briefe. Er hatte weitaus tiefer in der Klemme gesteckt, als ich angenommen hatte, und war sogar die Telefonrechnungen und die Gebühren fürs Kabelfernsehen schuldig geblieben. Er tat mir aufrichtig leid. Die letzten Monate vor seinem Tod mussten trostlos gewesen sein.

Als ich in Hals Schreibtisch nicht fündig wurde, stieg ich die Treppe ins oberste Stockwerk hinauf. Er wurde nahezu vollständig von dem eingenommen, das ich das Ewigkeitszimmer nannte. Er war von Hals Großvater für Fechtübungen benutzt worden. »Sein Fechtlehrer wurde genau an dieser Stelle schwer verletzt.« Das war eher eine Fabel als die Wirklichkeit. Ich erinnere mich, wie begeistert Hal diese Geschichte erzählte, als wir noch im Jungenalter waren, und ich nach alten Blutflecken in den Ritzen des hellen Holzfußbodens suchte und mir dabei vorstellte, wie der Fechtmeister zusammenbrach, sein Säbel klappernd auf den Boden fiel und ein roter Fleck auf seinem weißen Hemd erschien, wie ich es in Zorro gesehen hatte.

Die Holzläden vor den beiden vorderen Fenstern waren geschlossen, daher konnte ich gefahrlos die Wandbeleuchtung einschalten. Die Lampen erzeugten ein weiches, gelbliches Licht, das von den Spiegeln reflektiert wurde. In dem Raum standen so gut wie keine Möbel. Soweit ich mich erinnern konnte, gab es nur einige Schränke an der hinteren Wand, in denen Peter den größten Teil seiner Sammlung aufbewahrte. An der vorderen Wand neben dem Fenster hingen Fechtmasken und Waffen an einem eigens dafür angefertigten Gestell – leichtgewichtige Florette, Degen und die um einiges tödlicheren Säbel. Einmal wurden Hal und ich dabei ertappt, wie wir mit ihnen spielten, und durften danach einige Monate lang den Raum nicht mehr betreten.

Die Schrankbretter waren jetzt frei und dick mit Staub bedeckt. Ich tastete nach dem Hebel, der in einer dekorativen Schnitzerei an der oberen Kante des ersten Schranks versteckt war, und hörte, wie das Schloss aufschnappte. Die Rückwand glitt zur Seite hinter den benachbarten Schrank und gab den Blick auf eine Mauernische frei. Gespannte Erwartung erfüllte mich plötzlich – ich war nahezu sicher, dass Hal die Schrifttafel an dieser Stelle deponiert hatte, wie sein Vater es mit seinen wertvollsten Stücken zu tun pflegte. Zwei Kartons standen vor der hinteren Wand der Nische, die Deckel offen. Die Kartons waren leer. Ich stieß einen lauten Fluch aus.

Das einzige andere Objekt war eine kleine bronzene Urne, die auf einem Schrankbrett etwa einen halben Meter unter der Decke stand. Ich holte sie herunter und öffnete sie. Darin befanden sich einige gelbliche Edelsteine. Ich nahm einen heraus und sah ihn mir an. Warum hatte Hal die Steine hier aufbewahrt? Sie waren ziemlich klein und ungeschliffen und daher nicht gerade von großem Wert.

Verärgert, dass meine Suche vergeblich gewesen war, achtete ich nicht mehr so wachsam wie vorher auf die Umgebung, als ich das Haus verließ. Das war ein Fehler. Als ich an der schmalen Lücke zwischen einem Haus und dem Kirchhof vorbeiging, schoss eine männliche Gestalt aus dem Schatten heraus und legte einen dicken Arm um meinen Hals. Mit seiner anderen Hand packte der Mann mein Jackett und quetschte mich so eng an seine Brust, dass ich das Heben und Senken seines Zwerchfells wahrnehmen konnte, als er ein paar heftige Atemzüge machte.

Ich drehte mich von ihm weg und spürte, wie sich sein Griff lockerte. Ich holte mit dem freien Arm aus, schlug mit aller Kraft zu und traf ihn. Gleichzeitig rutschte ich aus meinem Jackett, während ich mich weiter drehte. Dann war ich frei.

Ich hatte nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um zu reagieren, und entschied, nicht auf die Straße hinauszurennen, weil möglicherweise Eris dort auf mich wartete, und zwar bewaffnet. Stattdessen wählte ich den Weg über den Kirchhof und riss die schwere Kirchentür aus Holz in der Hoffnung auf, dass ich dort jemanden fand, der mir helfen könnte. Doch das Kirchenschiff war dunkel und völlig still.

Ich eilte eine schmale Treppe hinauf zu den Galerien im ersten Stock. Die Treppe endete in einer Nische, in deren hinterer Wand sich eine kleine Tür befand, die an den Eingang zu einer Mönchszelle erinnerte. Ich drückte dagegen, spürte, wie sie nachgab, und verstärkte den Druck. Die Tür sprang auf.

Nachdem ich sie so leise wie möglich wieder geschlossen hatte, befand ich mich in einem aus gelbem Klinker gemauerten, röhrenförmigen Gang, der so schmal war, dass ich nicht einmal die Arme ausstrecken konnte. Ich griff nach meinem Mobiltelefon, um die Polizei zu Hilfe zu rufen, und begriff in diesem Moment, dass es in meiner Jackentasche steckte. Damit blieb mir nur eine Möglichkeit – mich so gut wie möglich unsichtbar zu machen.

Eine schwarze Wendeltreppe aus Eisen schraubte sich in der Mitte des Turms in die Höhe. An den runden Wänden angebrachte Lampen erzeugten ein mattes, gelbliches Licht. Mein Schatten eilte mir voraus, als ich die Stufen hinaufstieg. Ich konnte über mir nicht weiter als höchstens zwei Meter blicken und hatte keine Ahnung, wie hoch die Treppe war. Die Luft im Turm war warm und stickig, und vor meinen Augen begann alles, sich zu drehen.

Am Ende der Treppe befand sich eine grau gestrichene Holztür, die sich zu einem etwa fünf mal fünf Meter großen Raum öffnete. Über mir wölbte sich in großer Höhe eine brüchige, mit Gips verputzte Decke. Stellenweise war der Putz bereits herausgebrochen und herabgefallen, so dass das hölzerne Lattenwerk zu sehen war.

Ein stetig pulsierendes Geräusch zu meiner Linken entpuppte sich als großes Eisenpendel, das sich in einem Holzgestell bewegte. Darüber klirrte ein System von Zahnrädern und Hebeln. Es war die Mechanik der Turmuhr. Das Pendel schwang hin und her und erzeugte dabei ein leises Rauschen wie die Sense eines Schnitters.

Poes berühmte Geschichte kam mir in den Sinn. Ich stellte mir vor, wie die Wände und die Decke mit jedem Pendelschlag dichter auf mich zurückten, um mich zu zerquetschen.

Eine vollständige Armeeuniform, staubig vom Alter, und Fahnen aus dem Zweiten Weltkrieg hingen an einer Wand. Geister toter Soldaten flüsterten in der Stille.

Ich lauschte auf Schritte eines möglichen Verfolgers, konnte jedoch nur das regelmäßige Ticken der Uhr wahrnehmen. Es war ein leises, dumpfes Pochen wie der Herzschlag eines Riesen. Eine wacklige Leiter führte zu einer geschlossenen Klappe in der Decke. Ich kletterte sie empor und drückte gegen die Holzplatte. Irgendetwas fiel und ich wich zurück, als hätte es auf meinen Kopf gezielt. Ein mumifizierter Vogelkadaver, der Größe nach ein Sperling, landete mit einem dumpfen Laut unter mir auf dem Holzboden.

Über der Klappe gähnte dunkle Leere. Der säuerliche Geruch von Vogelmist und Moder drang zu mir herab. Ich konnte das Schlagen von Flügeln hören. Tauben? Fledermäuse? Ich tastete den Holzrahmen über der Klappe ab, um zu überprüfen, ob der Boden sicher und stabil genug war, um mein Körpergewicht zu tragen. Als ich die Hand zurückzog, war sie mit Staub und den pelzigen Flügeln toter Motten bedeckt.

Konnte ich mich dort verstecken?

Schritte erklangen auf den Eisenstufen unter dem Raum. Sie kamen stetig näher und wurden vom Tick-Tack des riesigen Pendels begleitet, als zählte die Uhr die Sekunden ab, die in meinem Leben noch übrig waren. Knarrend schwang die Tür auf.

Der Fuß des Mannes schob sich über die Schwelle, und dann kam sein gesamter Körper in Sicht. Er hatte Mühe, sich durch die Türöffnung zu zwängen. Er tappte mit unsicheren Schritten in den Raum und blieb stehen.

Als er mich entdeckte, lief ein erregtes Zittern durch seinen Körper. Gepresste Laute drangen aus seinem Mund, als wären seine Stimmbänder zerstört. Wie eine aus Stein gehauene Skulptur machte er langsame, vorsichtige Schritte auf mich zu. Dies, so wusste ich sofort, war der Chemiker mit den schrecklichen Verbrennungen. Er kam mir vor wie ein urweltliches Wesen, das menschliche Gestalt angenommen hatte, als ob ein Gott ein riesiges Standbild geschaffen und dem Stein Leben eingehaucht hätte.

Die alten Griechen fesselten ihre Statuen mit Ketten, um sie an der Flucht zu hindern, da sie glaubten, sie seien lebendig. Ich begriff in diesem Moment, dass sie es aus Furcht taten und nicht, um ihre Flucht zu vereiteln.

Das Gesicht unter seiner vollkommen glatt rasierten Schädelplatte war abnorm flach. Seine Haut hatte einen grauen Schimmer und erinnerte an trockene Knetmasse. Mit einem Auge starrte er mich an. Der Anblick erzeugte Übelkeit in mir. Für einen kurzen Moment schien es, als wären die Zyklopen meiner jugendlichen Fantasie zurückgekehrt, um mich abzuholen.

Er wandte den Kopf, und jetzt erst konnte ich erkennen, dass er tatsächlich noch zwei Augen besaß. Jedoch war das linke schwer beschädigt und mit Narbengewebe bedeckt. Über die leere Höhle, in der sich sein linkes Auge hätte befinden müssen, war ungeschickt wächserne Haut gespannt worden.

Ich hatte einige Vorteile. Der Kerl war enorm stark, konnte sich aber nur mühsam vorwärtsbewegen. Meine Reaktionszeit war um ein Mehrfaches kürzer und ich befand mich über ihm. Das war immer eine gute Position, wenn man jemanden besiegen wollte.

Er hatte Probleme mit den Stufen, die so schwach waren, dass sie unter seinem großen Gewicht durchhingen und er beinahe das Gleichgewicht verlor. Ich versuchte, den optimalen Abstand zu bestimmen. Als er in Reichweite kam, packte ich die Geländer, stützte mich darauf und versetzte ihm einen Tritt vor die Brust, hinter den ich mein gesamtes Körpergewicht legte. Er verlor den Halt und stürzte die Treppe hinunter.

Beinahe hätte die Aktion Erfolg gehabt, aber als ich die Hände um den Rahmen der Deckenklappe legte, um mich in den Raum darüber hinaufzuziehen, zerbröselte das wurmstichige Holz unter meinen Fingern. Ich rutschte ein paar Stufen tiefer und kam ihm dabei nahe genug, so dass er mich packen konnte. Er erwischte meine Fußgelenke und zog mich das restliche Stück zu sich nach unten. Diesmal konnte ich mich nicht aus seinem Griff befreien.

Er schleifte mich aus dem Raum, die Wendeltreppe hinunter in den Kirchenraum und durch die Tür nach draußen. Am Bordstein stand ein Range Rover mit laufendem Motor.

Jemand öffnete die Tür. Der massige Kerl stieß mich mit dem Gesicht zuerst auf den Wagenboden, wo die zweite Sitzbank entfernt worden war. Im Wageninnern konnte ich die Gestalt eines anderen Mannes erkennen. Als ich den Kopf anzuheben versuchte, rammte ein schwerer Stiefel mein Gesicht wieder auf den Wagenboden. Blut sickerte in meinen Mund, als meine Schneidezähne sich in das weiche Fleisch meiner Unterlippe bohrten. Ich spuckte Dreck und Motoröl aus.

Eine Hand schob sich in meine Hosentasche. »Guck mich an«, sagte der Mann. »Wo sind deine Schlüssel?«

Ich hatte nicht die Absicht, ihm zu helfen. »Ich muss sie im Turm verloren haben.«

Die List hatte keinen Erfolg. Er öffnete das Fenster und sagte etwas zu dem Kerl draußen. Dabei nannte er ihn Shim. Das musste George Shimsky sein, von dem Tomas Zakar gesprochen hatte. Wenig später wurde mein Jackett auf den Vordersitz geworfen. Die Schlüssel wurden herausgeholt, wir starteten und ließen Shim zurück.

Falls sie mich zu meiner Wohnung brachten, hätte ich ihnen am liebsten erklärt, dass sie niemals am Portier vorbeikämen. Aber ich behielt das für mich. Sollten sie doch in ihre eigene Falle tappen.

Ein Telefon trällerte. Ich hörte den Fahrer antworten. »Ja bitte?« Eine Frauenstimme. »Wir haben ihn und sind schon unterwegs. Einen Moment.« Ich hörte ein Rascheln, als sie irgendetwas suchte. »Okay, ich hab’s bei mir. Ja, wir sind fast da.« Für einen längeren Augenblick herrschte Stille, als sie zuhörte. »Diesmal nicht«, erwiderte sie dann und klappte das Mobiltelefon zu.

Die Stimme gehörte Eris.

Nach weniger als zehn Minuten hielten wir an. Die Innenbeleuchtung flammte auf. »Kommen Sie hoch«, befahl der Mann.

Die Fahrertür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Klick, klick, klick – der Klang von Bleistiftabsätzen auf Asphalt. Sie bewegten sich vorne um den Wagen herum und blieben vor meiner Tür stehen. Als sie aufschwang, sah Eris mich an. Ihr platinblondes Haar schimmerte im Licht der Straßenlampen.

Sie betrachtete mich eingehend. »Sie haben Blut im Gesicht. So kann ich Sie nicht reinbringen.« Sie griff in ihre Handtasche, holte ein Papiertaschentuch heraus und beugte sich zu mir herab. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, sie zu packen und zu überwältigen, aber das Risiko, damit zu scheitern, war einfach zu hoch.

Ich konnte den schwachen, exotischen Duft ihres Parfüms riechen, als sie sich über mich neigte. »Okay«, sagte sie. »Sie legen den Arm um mich und bringen mich zum Fahrstuhl. Wir beide kommen aus einem Club. Wir sind leicht beschwipst. Wenn wir den Portier sehen, lächeln Sie. Versuchen Sie gar nicht erst zu flüchten. Sie sind nicht hart genug, um sich mit uns anzulegen.«

»Wirklich? Das letzte Mal war ich es aber doch.«

Das besserte ihre Laune kein bisschen. Sie reichte mir mein Jackett und befahl mir, es anzuziehen. Dann zog sie ihre Pistole, drückte sie mir in die Seite und hielt sich so dicht neben mir, dass die Waffe für niemanden zu sehen war. Wir betraten die Lobby, während der andere Mann wegfuhr.

Ich schaute zum Empfangspult. Keine Spur von Amir. An ruhigen Abenden ging er schon mal eine Tasse Kaffee trinken. Er hätte sich dafür keinen ungünstigeren Moment aussuchen können.

Eris ging sofort auf Distanz, kaum dass sich die Fahrstuhltüren hinter uns geschlossen hatten. Sie lehnte sich an die Kabinenwand und hielt mich mit der Pistole in Schach. Ich bemühte mich um eine tapfere, ungerührte Miene, aber in meiner Brust flatterte mein Herz wie ein sterbender Vogel. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass dies alles nur geschah, weil sie etwas von mir wollte. Ich brauchte nichts anderes zu tun, als mitzuspielen.

Wir verließen den Fahrstuhl und traten in einen leeren Korridor. Als wir an Ninas Tür vorbeikamen, konnte ich Jay-Z aus ihren Lautsprechern donnern hören, dazu lautes Partygeplapper. Wenn ich jetzt etwas riefe, würde mich niemand hören. Es schien, als habe sich das gesamte Gebäude gegen mich verschworen.

Eris reichte mir die Schlüssel, damit ich die Tür öffnete, und schob mich gleich weiter in mein Schlafzimmer. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass die Balkontür immer noch offen stand. Ich hatte eine kurze, verrückte Vision, wie ich mich hindurchschlängelte, unsichtbaren Pistolenkugeln auswich, mich über das Geländer schwang und auf dem Balkon eine Etage tiefer landete. So machten sie es im Kino und irgendwie schafften sie es immer und blieben am Leben.

Eris holte etwas aus ihrer Tasche und kam auf mich zu. Ein Pumpzerstäuber. Ich erinnere mich noch, dass ich etwas sagen wollte und den Mund öffnete, als der Sprühnebel mein Gesicht traf. Ein Krampf lähmte meine Brust, und um mich herum ging die Welt unter.

Babylon
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