Dreiundzwanzig

Das Video begann mit einem grauen und körnigen Hintergrund. Alles war unscharf, dann wurde das Bild klarer und die Kamera richtete sich auf Laurel. Sie hatten sie an ein senkrecht aufragendes Leitungsrohr in einem Raum mit gekacheltem Fußboden und ebensolchen Wänden gefesselt. Es war kein Ton zu hören. Die Bilder wackelten und erinnerten an ein amateurhaftes Hochzeitsvideo. Laurels Körper war zusammengesunken und ihr Kopf wackelte hin und her, als wäre das Genick gebrochen. Ich versuchte zu erkennen, ob ihre Brust sich noch hob und senkte, und suchte nach Anzeichen, die meine Sorge um sie zerstreuen würden.

Jemand außerhalb des Bildes musste einen Befehl gegeben haben, denn sie hob ruckartig den Kopf. Zumindest lebte sie. Noch. Ihr Gesicht war weiß und schlaff, der Ausdruck in ihren Augen spiegelte Schrecken und Angst wider. Sie redete, aber ich konnte von ihren Lippen nicht ablesen, was sie sagte.

Ich stürmte die Treppe hinunter, stolperte mehrmals, stürzte sogar, verspürte jedoch keinen Schmerz. Ich besaß wenigstens noch so viel Geistesgegenwart, halbwegs Haltung anzunehmen, ehe ich die Lobby betrat. Gip wäre sicher nicht hinter seinem Pult. Ich drückte die Tür auf und grüßte den Nachtportier mit einem Kopfnicken. »Kennen Sie Laurel Vanderlin?«

»Ja«, antwortete er.

»Haben Sie sie hinausgehen sehen?«

»Vor fast einer Stunde, ja. Ihre Freundin wollte sie ins Krankenhaus bringen. Ich fragte, ob ich einen Krankenwagen rufen soll, aber die Dame hatte einen Wagen, der direkt vor dem Haus stand. Das war auch gut so, denn Miss Vanderlin hatte Schwierigkeiten, aus eigener Kraft dieses kurze Stück zu überwinden.«

»Ihre Freundin. Eine ziemlich gut aussehende Blondine?«

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Warum? Können Sie sich nicht mehr erinnern, mit wem Sie zusammen waren?«

Er behielt seine ausdruckslose Miene bei, aber ich wusste genau, was er dachte. Ein Dreier mit einer Menge Alkohol und diversen Designerdrogen, der ein wenig aus dem Ruder gelaufen war. So etwas hatte er schon oft genug erlebt. Er verfolgte aufmerksam jeden meiner Schritte, während ich die Lobby verließ, und sagte kein Wort.

Ich rannte einige Blocks weit die 7. Avenue entlang. Es schüttete wie aus Eimern; es war mir egal. Ich musste so etwas wie einen Schutzschild zwischen mir und den Ereignissen der letzten Stunde errichten.

Als meine Lunge bei jedem weiteren Atemzug zu brennen begann, suchte ich Schutz unter einer Markise. Ich hatte keinen trockenen Faden mehr am Leib. Meine Kleidung klebte am Körper, als wäre ich in voller Montur schwimmen gegangen, und Wasser rann mir über das Gesicht. Das Bild von Laurel in diesem Raum hatte sich förmlich in mein Gehirn gebrannt.

Ich stolperte weiter und achtete nicht darauf, wohin meine Füße mich trugen. Eine wahre Horror-Show lief vor meinem geistigen Auge ab – der Autounfall, Hals Ermordung, Shim und Eris auf der Jagd nach uns, der grinsende Mann im Narrenkostüm und jetzt Laurel. Egal was ich tat, es endete immer mit einem Desaster. Ich hatte das Gefühl, als würde jeden Moment mein Gehirn explodieren.

Mein Mobiltelefon meldete sich. Eine weitere E-Mail. Knapp und präzise.

Kommen Sie um 21:00 Uhr zum Wasserturm an der High Bridge. Laurel gegen die Schrifttafel. Sie stirbt, wenn Sie die Polizei mitbringen.

Ich wanderte durch die Straßen und suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser Situation. Am Ende setzte ich mich in einen kleinen Park; die Bänke waren nass vom Regen, aber ich nahm es kaum zur Kenntnis. Selbst bei Nacht versammelten sich hier die Raucher und hinterließen unter jeder Bank einen regelrechten Hügel aus Zigarettenstummeln. Ein Mann neben mir in einem eleganten Nadelstreifenanzug warf seinen immer noch glimmenden Zigarettenrest auf den Boden, ergriff einen Aktenkoffer und einen Sturzhelm und ging hinüber zu einem Motorrad. Es war eine schwarze Ducati S4R, ein wahres Prachtstück auf zwei Rädern. Er schwang sich in den Sattel und ließ den Motor aufheulen. Ich hätte wer weiß was dafür gegeben, ebenso wie er in die sommerliche Nacht hinauszufahren und den Müllhaufen meines Lebens hinter mir zu lassen.

Die High Bridge wurde in den Vierzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts als Aquädukt erbaut, durch das Trinkwasser vom Croton River nach Manhattan transportiert wurde. Sie ist die älteste Brücke Manhattans und verfällt zusehends, auch wenn man davon spricht, sie bald renovieren zu wollen. Nachdem die Polizei Kinder dabei ertappt hat, wie sie Steine des Mauerwerks auf die Boote der Circle Line warfen, wurde die Brücke gesperrt. Ich hatte einmal Fotos von ihr gesehen und schon damals gedacht, dass sie architektonisch eng mit dem alten Römischen Reich verbunden ist. Aus Stein erbaut, erinnern die klassisch anmutenden Bögen, die den Harlem River überspannen, an die alten Aquädukte, die das Tibertal durchschnitten. Hinter den glatten Außenwänden erstreckt sich über die gesamte Länge der Brücke ein Tunnel, in dem sich das Rohr befand, das bis 1917 Wasser in die Stadt transportierte. In jener Zeit wurden auch funktionale Bauwerke noch unter ästhetischen Gesichtspunkten geplant und entworfen, und diese Konstruktion zeichnet sich durch ihre kunstvoll gestalteten romanischen Stützpfeiler und Bogengewölbe aus.

Der Wasserturm selbst steht an einem einsamen Punkt im Park. Jemand war dort im vorangegangenen Jahr ermordet worden. Mich dorthin zu begeben, wäre in etwa genauso, als würde ich mich selbst auf einen elektrischen Stuhl schnallen und den Schalter umlegen. Ich musste irgendeinen anderen Weg finden, um Laurel zu retten.

Donner grollte, als ich das Waldorf-Hotel betrat. Der Regen vorher hatte die Schwüle nicht lindern können. Die Luft war heiß und schwer wie im Innern eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch.

Auf dem Zimmer wühlte ich in meinem Koffer herum und suchte die Pistole. Ich brauchte jetzt alle Hilfe und Unterstützung, die ich aufbieten konnte.

Sie war verschwunden. Hatte etwa jemand den Sicherheitsdienst alarmiert, damit er sie aus meinem Zimmer herausholte? Wenn ja, dann war ich so gut wie tot. Sicherlich hätte man längst die Polizei benachrichtigt. Falls sich jemand beklagt hatte, hätte der Sicherheitsdienst sofort eingreifen müssen, doch es war ungewöhnlich, dass die Leitung eines Hotels zuließ, dass die Privatsphäre eines Gastes verletzt wurde. Und wer hätte sich überhaupt beklagen sollen? Niemand außer mir hatte Zutritt zu meinem Zimmer. Ich zog mich schnell um und ging zu den Zakars.

Ari begrüßte mich wieder auf seine überschwängliche Art und Weise, als er die Tür öffnete. »Ah, John, wir haben uns schon gefragt, wo Sie bleiben. Wir haben schon vor Stunden mit Ihnen gerechnet. Tomas wollte nicht mehr warten und ist in die Bar hinuntergegangen. Wo ist Laurel?«

»Sie haben sie sich geholt, Ari. Was, um Gottes willen, soll ich jetzt tun?«

Er sank auf die Couch und schlug die Hände vors Gesicht. »Das ist schlimm. Ich fürchte fast, Sie sehen sie nie wieder.«

»Wie konnte Hal nur so etwas tun?«

Ari ließ die Hände sinken. »Das spielt jetzt keine Rolle. Er hat es getan und wir müssen zusehen, dass wir irgendwie damit zurechtkommen. Aber ich fürchte, da ist noch ein anderer Punkt, den ich ansprechen muss.« Er stand auf, ging ins Schlafzimmer und kam mit einem Plastikbeutel zurück.

Ich war gespannt, was als Nächstes kommen würde.

Ari öffnete das Fenster und fragte, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er rauchte. Er griff in seine Hosentasche und holte eine kleine silberne Dose mit Klappdeckel heraus. Ein Mini-Aschenbecher. Er holte seine Packung Gitanes hervor, schüttelte eine heraus und zündete sie an. Er hielt die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch seufzend aus. Dann öffnete er den Beutel und brachte die Pistole zum Vorschein.

»Tomas hat dies in Ihrem Koffer gefunden. Sie haben keine Erlaubnis dafür. Wir mussten feststellen, dass die Seriennummer weggefeilt wurde. Er ist sehr wütend, dass Sie das Ding hierher mitgenommen und uns in Gefahr gebracht haben.«

»Soll das ein schlechter Witz sein? Er hatte kein Recht, in meinen Sachen herumzuwühlen. Wie ist er überhaupt in mein Zimmer gekommen?«

»Das hätte er nicht tun dürfen. Aber es ist auch nicht in Ordnung, dass Sie die Waffe bei sich haben, wenn Sie mit uns zusammen sind. Tomas benutzt hier falsche Papiere. Wenn wir zusammen sind und Sie werden damit erwischt, oder, was noch schlimmer wäre, Sie benutzen die Pistole, dann gibt es für uns alle jede Menge Ärger. Tomas hat sie sowieso funktionsunfähig gemacht. Sie können sie nicht mehr benutzen.«

»Was ich tue, geht Sie beide nicht das Geringste an. Und ich darf wohl hinzufügen, dass Laurel aufgrund der Entscheidungen, die Sie und Ihr Bruder getroffen haben, jetzt in Lebensgefahr schwebt.«

»Das stimmt, aber wir stecken jetzt alle in dieser … in diesem Sumpf. Ich tue, was ich kann, um uns dort herauszuziehen. Ich bin eigentlich nur hierhergekommen, um auf Tomas aufzupassen, doch ich muss schon morgen früh nach London fliegen. Ich will aber erst abreisen, wenn ich sicher sein kann, dass zwischen Ihnen beiden Frieden herrscht.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Wie ist er in mein Zimmer gelangt?«

»Im Irak zwei Kriege und die schlimme Zeit dazwischen zu überleben, kann der Auslöser dafür sein, Dinge zu lernen, die Leute wie Sie niemals für notwendig erachten würden.« Er legte den Plastikbeutel neben sich aufs Bett.

»Warum müssen Sie nach London fliegen?«

»Ich habe mit der Geschichte, an der ich arbeite und von der ich Ihnen erzählt habe, einige Fortschritte gemacht. Und da liegt auch das Problem – ich war ein wenig zu erfolgreich. Irgendwelche hohen Tiere in der amerikanischen Regierung haben Wind davon bekommen. Drohungen sind gegen mich laut geworden und ich wurde nach London zurückgerufen. Ich soll ein wenig auf Tauchstation gehen.«

»Lassen Ihre Chefs die Story in der Schublade verschwinden?«

»Nein. Ich denke, Sie suchen zurzeit einen freien Journalisten, der nicht so bekannt ist wie ich, damit er an der Sache weiter dranbleibt. Es muss jemand sein, der nicht so prominent ist und sich daher freier bewegen kann. Sie wollen mich schützen.«

Seine Zigarette war halbwegs heruntergebrannt. Er seufzte und drückte sie in seinem Mini-Aschenbecher aus. »Was mit Laurel geschehen ist, passiert im Irak täglich. Leute werden entführt, in die Luft gesprengt oder auf andere Art und Weise getötet, und all das ohne irgendeinen besonderen Grund. Kurz bevor ich hierherkam, haben ein anderer Reporter und ich Bagdad verlassen, um einer Sache in Al-Nasiriyah nachzugehen. Es war glühend heiß und wir mussten ein beträchtliches Stück durch die Wüste fahren. Dabei rasten alle nasenlang amerikanische Versorgungsfahrzeuge an uns vorbei.

Etwa zwanzig Minuten nachdem wir einen Konvoi passiert hatten, sahen wir ein Stück voraus etwas. Zuerst war es nur ein heller Fleck neben der Straße, wie ein Stück weißen Stoffs, der im Wind flatterte. Als wir näher kamen, konnten wir erkennen, dass es ein halbwüchsiger Junge in einer Dischdascha war. Er machte ein paar Schritte auf die Straße und wich dann wieder zurück, als wäre da eine unsichtbare Linie, die er nicht überqueren konnte. Dabei weinte und schrie er und winkte wie wild.

Unser Fahrer bremste scharf. Ein dunkler Klumpen lag mitten auf der Straße, ein kleines Mädchen oder das, was von ihm noch übrig war. Es war von dem Konvoi überfahren worden. Wir erfuhren später, dass die Kleine, als sie die Versorgungsfahrzeuge sah, auf die Straße rannte, weil die Soldaten ein paar Tage vorher angehalten hatten, um Süßigkeiten an die Kinder zu verteilen. Ich bezweifle, dass sie überhaupt bemerkt haben, dass sie das Kind überfuhren. Sie sind immer sehr schnell unterwegs, um möglichen Angreifern kein Ziel zu bieten. Ihr Bruder wagte nicht, zu ihr hinzugehen, aus Angst, dass ihm das Gleiche zustieß.«

Das Donnergrollen kam näher. Ich dachte daran, das Fenster zu schließen. »Sie haben anscheinend gelernt, mit Gefahr umzugehen. Sie wissen, auf was Sie achten müssen. Als ich jünger war, habe ich auch einiges abgekriegt, aber das war nicht annähernd so schlimm wie dies hier.«

»Wir …«, sagte Ari. »Wir stecken auch in dieser Sache drin. Sie sind nicht alleine – vergessen Sie das nicht.«

»Trotzdem bin ich in etwas hineingeraten, das ich überhaupt nicht verstehe. Mein Leben wurde mehr als einmal bedroht, und Gott allein weiß, was sie mit Laurel tun. Ich dachte heute Morgen, ich hätte Hals Versteck gefunden – ein Mausoleum auf dem Trinity Friedhof, wo seine Mutter beerdigt wurde – aber ich kam nicht hinein. Ich muss Hals Rätsel bis zum Ende lösen, muss sein Spiel mitspielen, ganz gleich, was es kostet. Um ehrlich zu sein, ich kann mir die weitere Suche finanziell nicht mehr leisten.«

Ari legte mir seine große Hand auf den Arm. »Ich kann zwar nicht versprechen, dass alles gut ausgehen wird, aber ich werde alles tun, damit es dazu kommt. Und machen Sie sich wegen des Geldes keine Sorgen – dafür sorgen wir schon.«

Ich musterte ihn misstrauisch. »Woher soll das Geld denn kommen? Sie sind Journalist und Tomas ist Anthropologe. Es muss jemanden geben, der Sie finanziert.«

»Ein Teil wurde gespendet.« Er wich meinem Blick aus, als verheimlichte er mir etwas.

Laurels Warnung vor Terroristen schoss mir plötzlich durch den Kopf. »Wer?«, fragte ich. »Irgendeine militante Organisation? Ich muss das wissen oder ich mache nicht weiter.«

Ari angelte sich eine weitere Zigarette aus der Packung und rollte sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, ohne sie anzuzünden. Er wollte Zeit gewinnen, vermutete ich, um sich eine Geschichte auszudenken, die ich ihm abkaufen würde. Er lächelte. »Wir Assyrer haben genug damit zu tun, um unser Überleben zu kämpfen. Wir waren froh, das Ende Saddam Husseins miterleben zu dürfen, aber jetzt ergreifen viele unserer Leute die Flucht. Es wird für uns im Irak immer gefährlicher. Das Geld kommt nicht von uns.«

Er studierte mein Gesicht. Ich gewann den Eindruck, dass er überlegte, ob ich die Wahrheit ertragen würde. »Samuel gab uns das Geld. Es kommt von ihm.«

Draußen zuckte ein Blitz über den Himmel. Es kam mir vor, als ob er mich getroffen hätte. »Das ist unmöglich. So viel Geld hat mein Bruder nie besessen.«

»Soweit ich es verstanden habe, hat er irgendwelche Dinge verkauft.« Ari zögerte. »Ich glaube, Ihre Immobilie, Ihre Eigentumswohnung, gehörte dazu. Sie ging an einen Investor in Dubai. Das hat er uns erzählt. Offenbar war der Käufer mit einer längeren Übernahmefrist einverstanden. Die Rede war von vier oder fünf Monaten.«

»Das ist unmöglich.«

»Er wollte Sie darüber informieren. Ich denke, dazu hatte er am Ende nicht mehr die Gelegenheit.«

Ich las in seinem Gesicht, dass er die Wahrheit sagte. Trotz allem hatte er keinen Grund zu lügen. Samuel hatte mein Vertrauen immer in einem ganz besonderen Maß besessen. Und das hatte Ari soeben zerschlagen.

Ein seltsames Zischen lag plötzlich in der Luft. Kurz danach erhellte ein Blitz die Nacht mit seinem kalten Licht, als sei plötzlich ein Flutlichtscheinwerfer auf das Fenster gerichtet worden. Ari beeilte sich, es zu schließen. Ich saß da, völlig benommen von dieser neuen Information. Ich hatte Samuel verloren und möglicherweise Laurel, und jetzt war das Zuhause, das ich liebte, ebenfalls weg. Ich stützte den Kopf in die Hände. Die Trauer überwältigte mich und ein trockenes Schluchzen drang aus meiner Kehle.

Ari versuchte gar nicht erst, mich zu beruhigen. Er wartete, bis ich mich ein wenig gefasst hatte, und brachte mir dann ein Handtuch, das er in kaltes Wasser getaucht hatte. Er reichte es mir seufzend. »Es scheint, als sei ich dazu verurteilt, die schlechten Nachrichten zu übermitteln. Kein Wunder, dass ich Journalist werden wollte.

Sie haben Samuel immer für ein wenig naiv gehalten, nicht wahr?«, sagte er. »Sie nehmen an, Tomas hat ihn vielleicht zu diesem Komplott überredet. Das stimmt nicht. Samuel hat es sich ausgedacht und in Gang gesetzt. Er war sich der Risiken durchaus bewusst und machte uns unmissverständlich klar, dass wir uns hundertprozentig auf Sie verlassen könnten, falls ihm etwas zustoßen sollte.«

»Ich wüsste nicht, warum er so etwas gesagt haben sollte.«

»Trauen Sie sich so wenig zu? Manchmal sehen die Menschen, die uns nahestehen, in uns Fähigkeiten, von denen wir nicht die geringste Ahnung haben. Tomas beweist mir das jeden Tag aufs Neue. Überlegen Sie es sich. Dank Ihrer bisherigen Bemühungen haben wir eine reelle Chance, die Schrifttafel zu retten.«

»Ich weiß nicht, ob ich den Mumm habe, weiterzumachen. Während der letzten zwei Tage schaue ich ständig über meine Schulter und frage mich, wann ich mit der nächsten Attacke zu rechnen habe. Dass ich noch am Leben bin, kann ich meinem sprichwörtlichen Glück verdanken. Und morgen Abend gibt es vielleicht Laurel nicht mehr.«

»Ich will Ihnen etwas geben.« Ari griff in den Ausschnitt seines verknautschten Jeanshemdes und zog sich eine Kette über den Kopf. Ein goldener Talisman hing daran. Ich konnte die Wärme seiner Haut in dem Metall spüren, als er mir die Kette reichte. Auf einer Seite befand sich das eingravierte Bild einer geflügelten Scheibe. Es war das berühmteste Symbol Assyriens.

»Ein ktiwyateh. Ein assyrischer Talisman. Das Symbol Samas’, des Sonnengottes«, sagte Ari. »Es hat eine beschützende Wirkung. Wir Assyrer haben viertausend Jahre überlebt. Damit dürfte es seinen Wert bewiesen haben. Ehe Sie lachen, sollten Sie wissen, dass es mich sicher durch zwei Kriege, drei Schusswunden und zahlreiche Beinahe-Treffer begleitet hat. Irgendwo gibt es sicherlich eine Kugel, auf der mein Name steht, aber bisher konnte ich ihr immer wieder entgehen. Das Medaillon wurde ausgiebig getestet und hat seine Prüfung bestanden. Ich möchte, dass Sie es nehmen. Wir sind jetzt miteinander verbunden. Brüder im Kampf?« Er hielt für einen kurzen Moment inne, ehe er fortfuhr.

»Und bitte nehmen Sie das, was Tomas gelegentlich von sich gibt, nicht persönlich. Er steht ebenso wie wir alle unter enormem Druck. Das entschuldigt natürlich in keiner Weise sein Benehmen. Ich könnte nicht nach London fliegen, wenn ich nicht glaubte, dass er sich in guten Händen befindet. Auch er wird zutiefst getroffen sein, wenn er das mit Laurel erfährt. Er mochte sie sehr.«

Rede nicht in der Vergangenheit von ihr! Diesen Gedanken ertrage ich nicht. »Tomas macht auch Ihnen das Leben schwer?«

Ari lachte verhalten. »Was haben Sie erwartet? Ich bin der große Bruder. Wir haben einiges zu verarbeiten. In den Augen meines Vaters habe ich nichts falsch gemacht. Bei Tomas ist es genau das Gegenteil. Dafür zahle ich schon lange. Ich komme damit klar. Wie heißt es so schön auf Englisch? Ich habe große Arme.«

»Breite Schultern.«

»Ja.« Ari lachte wieder und tippte auf seine Schulter. Seine Aura war so stark, dass, als sein Lächeln in diesem Moment verflog, das Licht im Raum matter zu werden schien. »Und noch etwas. Ich verrate ein Geheimnis, aber es ist gut, wenn Sie es wissen. Vor kurzem ist Tomas’ Verlobte gestorben.«

Ich sah ihn verblüfft an. »Laurel meinte, sie hätten sich getrennt und dass sie jemand anderen geheiratet habe.«

»Tomas schämt sich zu sehr, um die wahre Geschichte zu erzählen. Er nimmt die ganze Schuld auf sich.«

»Was ist geschehen?«

»Hat Laurel Ihnen erzählt, mein Bruder habe Priester werden wollen?«

»Ja, und dass er seine Pläne geändert habe, weil er heiraten wollte.«

»Mit dieser Ausrede kam er nur hier drüben durch.« Er schüttelte mit trauriger Miene den Kopf. »Assyrische Priester dürfen heiraten. Das war nicht der Grund.

Seine Verlobte wohnte bei seinen Eltern in Bagdad – im Al-Karāda-Distrikt. Als die Bombardierungen einsetzten, hatte sie Angst und bat Tomas, bei ihm bleiben zu dürfen, doch er hatte alle Hände voll zu tun, Samuel zu helfen, und dachte, dass sie zu Hause sicherer sei. Nachdem wir die Schrifttafel geborgen hatten, fuhren Tomas und ich zu ihr rüber.« Ari ließ den Kopf hängen. »Was wir fanden, war eine Katastrophe. Der gesamte Wohnblock war eingestürzt. Er stand nur noch zur Hälfte. Wir konnten zum Teil die Eingeweide des Gebäudes noch erkennen. Aber der Rest? Eisenträger, die in den Himmel ragten, und massenweise Schutt und Trümmer.

Sie kennen Tomas als zurückhaltenden Menschen, und das ist er gewöhnlich auch. Aber an diesem Tag drehte er durch. Bei dieser einzigen Gelegenheit, bei der er mich brauchte, konnte ich ihm nicht helfen. Ihre Leiche wurde nie gefunden.«

»Ich weiß, wie schlimm das ist.«

»Natürlich – Samuel«, sagte Ari. »Und Sie sollen auch wissen, dass ich Ihr Erbe nicht vergessen werde. Ich sorge dafür, dass Sie fair behandelt werden.«

Ari sorgte dafür, dass ich mich beruhigte, ehe er zu Tomas hinunterging. Er nahm die Pistole mit. In Wahrheit, so glaube ich, wollte er mich nur für einige Zeit alleine lassen, damit ich mich wieder sammeln konnte.

Ich nutzte die Gelegenheit. Ich hatte keinerlei Gewissensbisse, Tomas’ Gepäck zu filzen, nachdem er sich an meinem Koffer zu schaffen gemacht hatte. Darin fand ich zwei Reisepässe, den irakischen auf seinen Namen, den er mir im Restaurant Khyber Pass gezeigt hatte, und einen zweiten, der ihn als George Anapolis, einen griechischen Bürger, auswies. Dazu Kleider, Toilettenartikel, ein zweites Paar Schuhe und nichts weiter, das von Interesse war. In einer Reißverschlusstasche an der Seite fand ich ein Buch, das ich durchblätterte. Ovids Metamorphosen. An einer Seite in der Mitte war ein Zettel im Format einer Visitenkarte angeheftet. Darauf befand sich eine Adresse in Bagdad. Die Tatsache, dass Tomas sie auf diese Art und Weise versteckt hatte, sagte mir, dass sie für ihn von besonderer Bedeutung sein musste. Ich fand einen Notizblock, notierte die Adresse, riss den Zettel ab und steckte ihn in die Tasche.

Donner rollte über die Stadt, begleitet von einer ganzen Speersalve greller Blitze. Regenschwaden schlugen wie große Hände gegen die Fenster.

Trotz der Qual, die es mir verursachte, spielte ich in meinem Zimmer mehrmals das Geisel-Video ab für den Fall, dass mir irgendwelche Hinweise auf den Ort, wo Laurel festgehalten wurde, entgangen waren. Der Hintergrund bestand aus absolut unauffälligen Kachelwänden und einem genauso unauffälligen Fußboden. Es konnte jedes beliebige Badezimmer, jeder Keller oder jeder Gewerbebau in der Stadt sein.

Ich schaltete das Hotelradio ein in der Hoffnung, dass das laufende Programm mich ein wenig von meinen Problemen ablenkte. Zu hören waren Titel von Dwight Yoakams CD mit dem für meine Situation allzu treffenden Titel Last Chance for a Thousand Years. Dabei kam es mir vor, als hätten Laurel und ich unsere allerletzte Chance schon vor langer Zeit verspielt.

Babylon
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