Dreißig
Ein greller Blitz füllte den Korridor, gefolgt von einem langen, rollenden Donner. Ich hörte Ward brüllen, kurz bevor die Decke nachgab. Fast im gleichen Moment wurde ich mit dem Gesicht auf den Fußboden geschleudert. Ich wollte wegkriechen, aber mein linkes Bein war eingeklemmt. Ich verdrehte den Oberkörper, tastete mit einer Hand herum und konnte feststellen, dass der Gegenstand, der mich an Ort und Stelle festhielt, eine etwa tischgroße Steinplatte war, die irgendwo weggebrochen und auf mich gestürzt war. Mein Bein war bei meinem Sturz in der Rinne am Rand des Tunnels gelandet und daher nicht zerquetscht worden, als die Steinplatte daraufstürzte. Ich spürte keine Schmerzen und konnte den Fuß bewegen. Ich packte die Kante der Platte mit beiden Händen. Aber in meiner augenblicklichen Lage konnte ich meine Kraft nicht effektiv genug einsetzen und schaffte es nicht, den Stein auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
Ich konnte auch nichts erkennen. Der Steinstaub war so dicht, dass ich kaum atmen konnte. Ich zog mein Hemd aus und wickelte es mir um Mund und Nase.
Als wir den Tunnel betraten, hatte ich versucht, mir einzuprägen, welche Richtung wir eingeschlagen hatten, und vermutete, dass der Tunnel unter den Klippen endete, die dicht hinter dem Haus des alten Mannes aufragten. Das bedeutete, dass die Chance nur gering war, dass jemand im Dorf die Explosion gehört hatte. Irgendwann würde sicherlich jemand die Tunnel betreten und den Felssturz sehen, aber für mich wäre das viel zu spät. Das Schicksal hatte mir bereits so viele Tiefschläge versetzt, dass ich es aufgegeben hatte mitzuzählen. Und jetzt, als ich endlich der Gewalt meiner Peiniger entronnen war, war ich dazu verurteilt, in dieser staubigen Hölle zu sterben.
Wahrscheinlich waren nicht mehr als zehn Minuten vergangen, obgleich es mir viel länger vorkam, als ich die ersten Laute hörte. Zuerst ein Stöhnen und ein Plappern. Ich erkannte die qualvollen Versuche zu reden, die eigentlich nur von Shim kommen konnten.
Über mir leuchtete ein trübes Licht. Durch den wallenden Staub konnte ich erkennen, dass sich das Zentrum der Explosion unweit der beiden Kammern befand. Die Explosion war so stark gewesen, dass sie das Gestein geradezu pulverisiert hatte. Steine, nicht größer als Vogeleier bis hin zu kleinen Findlingen, versperrten den Durchgang und türmten sich auf bis zu einem gähnenden Loch in der Tunneldecke. Ich konnte nicht erkennen, wie weit das Hindernis reichte. Wäre ich nicht sofort losgerannt, hätten die Gesteinstrümmer mich lebendig begraben.
Von der Spitze des Geröllhaufens ging eine regelrechte Steinfontäne aus. Ich brüllte Shim eine Warnung zu, er solle sofort damit aufhören, ehe sich eine weitere Ladung über mich ergoss. Weitere Steine folgten, diesmal jedoch langsamer, und schließlich schob sich seine massige Hand aus den Trümmern. Sie schuf eine größere Öffnung, dann verschwand sie wieder. Als Nächstes tauchte Eris in dem Krater auf, schwang sich heraus und kletterte über das Geröll nach unten, gefolgt von Ward. Beide waren mit gelblichem Gesteinsstaub bedeckt.
Von Lazarus war nichts zu sehen. Ward betrachtete mich in meiner misslichen Lage und meinte: »Das geschieht Ihnen recht, Madison, am Boden festgenagelt wie eine tote Kakerlake.«
»Wie kommt es denn, dass Sie noch am Leben sind?«
»Der Felssturz hat hauptsächlich die andere Kammer erwischt. Er hat auch uns eingesperrt, aber Shim kann ganze Berge verschieben, wenn er will.«
»Heben Sie mal diesen Brocken von mir runter. Mein Bein steckt fest.«
Irgendwann während dieses Abenteuers hatte ich mir eingeredet, dass ich einen gewissen Wert für sie darstellte; wie allerdings dieser Wert für ihre weiteren Pläne einzuschätzen war, konnte ich nicht sagen. Mich als Kugelfang für Tomas und seine Männer einzusetzen, war nicht mehr nötig. Ward wusste, dass er alles an Informationen aus mir herausgeholt hatte, was ich ihm hätte liefern können. Das bedeutete, dass Laurel ebenfalls nicht mehr gebraucht wurde. Ich schloss meine Hand um einen scharfkantigen Stein. Ich musste mir irgendeinen Grund einfallen lassen, um Ward dicht an mich heranzulocken, und ihm dann den Schädel einschlagen. Wenn ich schon hier unten sterben musste, dann sollte er mir dabei Gesellschaft leisten.
Shim wuchtete weitere Trümmer beiseite, um für sich mehr Platz zu schaffen, und wühlte sich aus dem Geröllhaufen heraus. Ward richtete den Lichtstrahl seiner Laterne auf die andere Felskammer. Ich glaubte, einen dunklen Spalt erkennen zu können, wahrscheinlich die Umrisse des Eingangs zu dem Raum. Während die beiden anderen zurücktraten, machte Shim sich an die Arbeit, das Gestein wegzuräumen. Eris rief mehrmals Lazarus’ Namen, erhielt jedoch keine Antwort.
Shim packte eine größere Platte und schleuderte sie zur Seite wie ein Federkissen. Ein heiserer Schrei drang aus seiner Kehle und er zuckte vor dem grässlichen Anblick zurück, als hätte er einen Schlag erhalten. Lazarus’ Kopf und Schultern lagen frei. Eine Seite seines Gesichts war eingedrückt, die weißen Knochen seines Schädels lagen frei und sein blutverschmierter Mund stand weit offen, als hätte er im Moment seines Todes gegähnt. Er war außerdem mit Staub und Sand gefüllt. Sein Messer hatte das weiche Fleisch unter seinem Unterkiefer durchstoßen. Die Gesteinstrümmer hatten ihn mit solcher Wucht getroffen, dass sie ihm das Messer in voller Länge bis zum Heft in den Hals gedrückt hatten.
Ich erinnerte mich daran, was Corinne mir über Hanna Jaffreys Schicksal erzählt hatte. Sie sei gesteinigt worden und von ihrem Gesicht sei nicht mehr viel zu erkennen gewesen. Und jetzt hatte Lazarus in seiner Steinpyramide das gleiche Schicksal ereilt.
»Leg die Steine wieder zurück, Shim. Geben wir ihm wenigstens ein anständiges Begräbnis.«
Zu guter Letzt befreiten sie mich doch aus meiner Zwangslage. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits mit meinem Schicksal abgeschlossen, so dass ich mich schon gar nicht mehr fragte, warum. Schwerfällig humpelte ich hinter ihnen her. An der Kreuzung wandten wir uns nach links und sahen, wie Mazare es hatte schaffen können, uns davon zu überzeugen, dass Tomas sich hier unten aufhielt. Auf dem Gangboden stand ein Scheinwerfer. Da ich keinerlei Stromkabel entdecken konnte, nahm ich an, dass er von einer starken Batterie gespeist wurde. Mazare hatte ihn außer Betrieb gesetzt, indem er bei seiner Flucht mit einem Fußtritt das Schutzglas und die Halogenbirne dahinter zerstört hatte.
Dieser Tunnel entfernte sich in einem Winkel von schätzungsweise fünfundvierzig Grad von dem Hauptgang, dem wir bis zur Kreuzung gefolgt waren. Wir hatten keine Ahnung, wohin er führte, aber Mazare hatte ihn benutzt, daher musste er einen Ausgang haben. Unsere einzige Lampe begann zu flackern. Wenn wir nicht bald einen Weg nach draußen fanden, konnten wir uns nur noch mithilfe unseres Tastsinns fortbewegen. Nachdem wir eine Zeitlang schweigend weitergewandert waren, deutete Eris auf einen weiter entfernten Lichtfleck, der beständig heller wurde, je näher er rückte. Er entpuppte sich als eine der Öffnungen in der Felswand, die wir bei unserer Ankunft im Dorf gesehen hatten. Wir traten hinaus in den Sonnenschein, brauchten einen Moment, um unsere Augen an das helle Tageslicht zu gewöhnen, und machten uns auf den Weg zum Wagen.
Der Mercedes war verschwunden, was sonst. Sie hatten den blauen Kombi stehen gelassen, aber wir hatten keine Schlüssel für ihn. Eris machte sich an die Arbeit, den Wagen fachmännisch aufzubrechen und die Zündung kurzzuschließen, während Ward sich bemühte, seine Wut im Zaum zu halten, und Shim mich bewachte. Wards Satellitentelefon hatte die harte Behandlung durch die Explosion offenbar unbeschadet überstanden. Ehe wir losfuhren, führte er noch ein kurzes Gespräch. Er verbannte Eris auf den Beifahrersitz, weil er das Lenkrad übernehmen wollte. Shim wartete, bis ich mich auf den Rücksitz geschlängelt hatte, und quetschte sich dann neben mich. Ich fragte mich, ob Eris möglicherweise ihr chemisches Arsenal verloren hatte, entschied jedoch, dass ich es zu diesem Zeitpunkt gar nicht in Erfahrung bringen wollte.
Wards unverhohlene Wut darüber, von Tomas überlistet worden zu sein, sorgte dafür, dass die Atmosphäre im Wagen fast körperlich spürbar war. Mazare hatte Ward belogen und aufs Kreuz gelegt und hatte am Ende seine Loyalität zu Tomas bewiesen. Die Aussicht auf eine höhere Geldsumme war ein Köder, von dem er und Tomas genau wussten, dass Ward ihn schlucken würde. Es bereitete mir einige Genugtuung, erleben zu dürfen, wie der selbstsichere Professor, der stets alles unter Kontrolle zu haben glaubte, allmählich ins Schleudern geriet. Weit entfernt von seinem Luxusleben in New York befand er sich hier auf unsicherem Terrain, und das war ihm mittlerweile schmerzhaft klar geworden.
Zutiefst beschämt, dass er seinem vermeintlichen Gefolgsmann so blind in die Falle getappt war, bewahrte Ward während des ganzen Weges trotziges Schweigen, das er nur einmal brach, um anzukündigen: »Sobald wir im Irak sind, wird sich einiges ändern. Dann haben wir alle Karten in der Hand.«
Er hatte mit seinem Ausflug in die Türkei einen Riesenfehler gemacht. Ich konnte nur hoffen, dass seine Gewissheit, im Irak erfolgreicher zu sein, sich als genauso grundlos erwies.
Wir fuhren zum Erkilet Airport vor den Toren der Stadt Kayseri, wo die Maschine schon auf uns wartete, und flogen nach Amman. Nachdem wir dort für zwei Stunden aufgehalten wurden, erhielten wir das Okay, um nach Bagdad weiterzufliegen. Das überraschte mich. Ich hatte angenommen, wir würden von Jordanien aus mit dem Automobil einreisen. Wards Beziehungen zu den Machthabern mussten glänzend sein.
Als wir in Bagdad eintrafen, stand die Maschine für mindestens eine Stunde auf der Landebahn. Ein streng dreinblickender amerikanischer Vertreter in Uniform kam herein, musterte mich eingehend, schaute in meinen Reisepass und ging wieder. Ich vermutete, dass er für meine Einreiseerlaubnis verantwortlich war. Wir stiegen aus dem Flugzeug, landeten in einem Hochofen und auf einer asphaltierten Fläche voller Risse, in denen Unkraut wucherte. Das Thermometer musste mindestens dreißig Grad Celsius anzeigen. Wie Soldaten diese Hitze in vollem Kampfdress und mit achtzig Pfund Ausrüstung auf den Schultern ertragen konnten, war mir ein Rätsel. Ich atmete und hatte sofort den Mund voller Staub, der zwischen meinen Zähnen knirschte. Ein weißer Humvee mit getönten Scheiben, zerbeult und mit einer dicken Staubschicht bedeckt, stand für uns bereit.
Zwei Muskelmänner besetzten die Vordersitze, moderne Barbaren mit Helmen und ACU-Jacken über schweißfleckigen Unterhemden und Khakijeans. Sie hatten ID-Marken an Ketten um den Hals hängen. Beide waren glatt rasiert und hatten kurze Bürstenhaarschnitte. Einer trug eine lange Reihe Aufnäher auf dem linken Ärmel. Außerdem trugen sie Waffen, die so gefährlich aussahen, als könnte man mit ihnen ganze Gebäude in Schutt und Asche legen.
Ich musterte Ward von der Seite. »Wer ist dieses Vorauskommando?«
»Privates Militär. Ohne sie hat man hier kaum eine Überlebenschance.«
»Sie sehen aber noch ziemlich jung aus.«
»Was sollen Sie sonst tun, sich zu Hause irgendeinen mies bezahlten Aushilfsjob suchen? Hier können sie bis zu eintausend pro Tag einsacken.«
»Wohin genau fahren wir jetzt?«
»Zum Hotel Al-Mansour. Sie werden sich kaum beklagen können. Es hat fünf Sterne.«
Zu einem Hotel? Das war eine Überraschung. Ich hatte befürchtet, auf mich wartete eine Art Gefängnis. Wenn Ward schon gezwungen war, mein Gefangenenwärter zu sein, dann, so vermutete ich, wünschte er sich dazu so viel Luxus wie möglich.
»Sie werden nicht gefesselt, wenn wir das Hotel betreten. Bleiben Sie nur bei uns. Unsere Freunde hier gehen die ganze Zeit dicht hinter uns, daher lohnt es sich wirklich nicht, irgendwelche dummen Sachen zu versuchen. Falls Sie irgendwohin außerhalb des Hotels flüchten wollen, wird auf Sie geschossen.«
Wir verließen den Flughafen und bogen auf die Schnellstraße zur Stadt ein. Wie oft hatte Samuel genau diese Strecke benutzt? Ich stellte mir vor, wie er den Abend in einem Teehaus verbrachte, Chai trinkend, süßes Fladenbrot und brutzelndes Kebab verspeisend. Die glitzernden Kuppeln der Moscheen bewundernd. An den trägen Fluten des Tigris entlangspazierend. In einem der sharayua – kleinen Parkanlagen am Flussufer – sitzend. Sich mit seinen Freunden in den Souks und im alten jüdischen Viertel treffend.
»Die Stadt hat eine ganze eigene Art, einen zu verführen«, hatte er mir einmal geschrieben. »Wenn man sie verlässt, empfindet man seinen Besuch als eine kurze Episode, eine vorübergehende Affäre. Aber dann stellt man fest, dass man immer wieder an sie denken muss. Und über kurz oder lang denkt man darüber nach, wie man möglichst bald und oft wieder zu ihr zurückkehren kann. Eigentlich spricht sie den Intellekt nur oberflächlich an; ihr wirklicher Reiz zielt tiefer und ist eindeutig erotisch. Sie ist wie eine Geliebte, von der man nicht lassen kann, egal wie viel Kummer sie einem bereitet, wie schwer sie einem das Leben macht. Und für mich kommt noch ihre reiche Geschichte hinzu.«
Ich fragte mich, wie er sich jetzt äußern würde, wenn er sie in diesem angeschlagenen, misshandelten Zustand sehen müsste.
Durch die Fenster blickte man auf eine öde Landschaft, durchsetzt mit grünen Inseln, in deren Mitte jeweils mehrere Farmgebäude standen. Näher zur Straße hin hätte die Landschaft als Hintergrund für einen Mad-Max-Film dienen können: verbogene Leitplanken, Granattrichter, Schutthaufen, wo der Asphalt gesprengt worden war, am Straßenrand der Kadaver eines verendeten Esels, dessen Verwesungsgestank sogar durch die geschlossenen Fenster an unsere Nasen drang, zerbeulte Lastwagen und Pkw, die Wracks tödlich getroffener Panzer. Alles war mit Staub und Asche bedeckt. Leute in der traditionellen Kleidung des Landes stapften müde durch die Gräben und suchten nach Gott weiß was. An einer Stelle glaubte ich eine Pfütze getrockneten Blutes auf der Fahrbahn erkennen zu können.
Wir rollten durch die Außenbezirke der Stadt in Richtung Zentrum und passierten zahlreiche Ruinen. Bei einigen Gebäuden war das Parterre intakt, und die großen maurischen Fenster und die hellbraunen Ziegelmauern erschienen völlig unberührt. Im krassen Gegensatz dazu waren die oberen Stockwerke ein albtraumhaftes Gewirr von angesengten Holzbalken und verbogenen Stahlträgern. Ich sah lange Reihen von vorwiegend heilen Häusern, unterbrochen von einem, das bis auf die Grundmauern zerstört worden war wie ein herausgebrochener Zahn in einem ansonsten makellosen Gebiss. Überall lagen außerdem stinkende Müllhaufen herum.
Wir gelangten auf eine pariserisch anmutende Prachtstraße mit einem breiten Mittelstreifen, der die Fahrspuren voneinander trennte. Der Mittelstreifen war einst mit sich majestätisch im Wind wiegenden Palmen bewachsen gewesen. Die meisten waren zerhackt worden. Ihre Stämme ragten auf wie ins Erdreich gerammte Wurfspieße, während ihre braunen Wedel nebenan auf hohen Haufen verfaulten. Ich bemerkte, dass Ward sie ebenfalls betrachtete. »Was ist denn hier passiert?«, fragte ich.
»Sie mussten gefällt werden, weil sie den Aufständischen zu viel Deckung boten. Diese Flughafenautobahn ist eine der gefährlichsten Straßen im gesamten Stadtbezirk.«
»Was für eine Schande.«
Ward verdrehte die Augen. »Hat man Ihnen schon mal die Beine weggeschossen? Sie würden auch ein paar Bäume fällen, wenn Sie meinen, dass Sie damit Ihr Leben retten können.«
Aufgrund der zahlreichen Kontrollpunkte, an denen wir anhalten mussten, brauchten wir fast eine ganze Stunde, um unser Ziel zu erreichen. Betonsperren, die man aufgetürmt hatte, um Anschlägen mit Autobomben vorzubeugen, sowie eine umfangreiche militärische Präsenz verhinderten, dass wir direkt vor dem Hotel vorfahren konnten. Daher parkten wir ein gutes Stück vorher und gingen zu Fuß zum Eingang.
Stämmige, kampferprobt aussehende Soldaten in schwarzen Uniformen sicherten das Hotel. Sie führten genug Waffen mit sich, um ein kleines Land zu besetzen und unter ihr Kommando zu bringen. Ich wunderte mich, dass es keine Amerikaner waren. »Peschmerga«, erklärte Ward. »Kurdische Soldaten; sie arbeiten mit dem amerikanischen Militär zusammen. Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen.«
Nachdem wir von den Wachen überprüft worden waren, suchten wir unsere Suite auf – ein Schlafzimmer mit einer Sitzecke und einem Bad. Das Hotel befand sich in einem mitgenommenen Zustand, und Ward erzählte mir, es sei geplündert worden, als die Besatzungsmächte in Bagdad einmarschierten. Er brachte mich ins Schlafzimmer und beendete meinen kurzen Flirt mit der Freiheit, indem er mein Handgelenk ans Bettgestell fesselte. Diesmal ließ er meine rechte Hand frei.
»Ich muss das Hotel verlassen, um einige Vorbereitungen zu treffen. Ich bestelle Ihnen etwas zu essen. Wenn ich zurück bin, können wir reden.« Ward sagte das, während er zur Tür ging. Eris begleitete ihn. Die beiden Söldner machten es sich im Wohnzimmer gemütlich und starteten sofort einen Film im DVD-Player.
Ich stellte fest, dass ich das Armband der Handschelle über die Bettstange zu der Seite schieben konnte, wo sich das Fenster befand, und schaute hinaus. In einiger Entfernung konnte ich die türkisfarbene Kuppel der Moschee des 14. Ramadan erkennen, eines der letzten gigantischen Neubauprojekte Saddam Husseins. Er war ganz groß darin gewesen, Denkmäler zu bauen; die meisten, um sich selbst zu feiern.
Ich schaute hinunter auf das Hotelgelände und konnte ein Rudel Hunde sehen, früher einmal harmlose Haustiere, doch jetzt durch den Hunger gezwungen, zu ihren wilden Wurzeln zurückzukehren und sich ihre Nahrung im urbanen Dschungel selbst zu suchen. Sie zerrten an einem weißen Bündel herum, das auf einem Rasenstück lag. Ich wandte den Blick ab, weil ich eigentlich gar nicht so genau wissen wollte, was sie gefunden hatten.
Der Verkehrslärm verstummte nach und nach. Die einschmeichelnden Klänge des Adhan wehten durch die warme Abendluft zu mir herüber. Dies war der fünfte und letzte Gebetsruf des Tages, verkündet zwischen dem Einbruch der Dunkelheit und Mitternacht. Ich gab mich der Schönheit des Gesangs hin und versuchte, mich zu entspannen und durch die exotische Melodie wenigstens für einen kurzen Moment in eine andere Welt entführen zu lassen. Das Rattern von Schüssen erklang. Die Hunde stimmten ein wütendes Geheul an und störten den Ruf des Muezzins. Laurel war so weit weg, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich ihr jetzt helfen sollte. Meine eigenen Aussichten waren kaum besser.
Als wir das Foyer durchquert hatten, waren mir ein paar westliche Besucher aufgefallen. Ihrem freundschaftlichen Umgang miteinander und ihrer lässigen Kleidung nach zu schließen, waren die meisten von ihnen Journalisten. Mir kam der Gedanke, dass einer von ihnen, falls mir die Flucht gelang, vielleicht dabei helfen könnte, von hier wegzukommen. Aber ohne Geld und ohne Papiere hatte ich keine Chance, das Land zu verlassen. Und selbst wenn ich eine Möglichkeit fände, das trotzdem zu schaffen, würde Ward Laurel dafür büßen lassen.
Ich nutzte die Zeit, um ein wenig nachzudenken, und glaubte schließlich zu wissen, weshalb er mich in den Irak mitgenommen hatte. Wenn ich mit meiner Überlegung recht hatte, würde es schon bald offenbar werden.
Ich machte mich durch lautes Rufen bei meinen Wächtern bemerkbar. Einer von ihnen steckte den Kopf durch die Tür. »Was ist los?«
»Ich möchte etwas zu trinken. Können Sie mir was aus der Minibar holen?«
»Wir sind keine Kellner.«
Ich konnte die Hot Dogs riechen, die sie soeben in einem Mikrowellenherd angewärmt hatten. »Woher haben Sie die Hot Dogs?«
»Das kommt alles aus Kuwait. Wir essen nichts von diesem irakischen Mist.«
Trotz seines Einwands, dass er kein Kellner sei, brachte er das Tablett mit meinem Essen wenig später herein und stellte es auf den Nachttisch. Hähnchengeschnetzeltes, Reis und irgendetwas Grünes, von dem ich vermutete, dass es mal Gemüse gewesen sein musste. Dazu eine Kanne stark gesüßten Chai mit einem Schraubdeckel, der als Becher verwendet werden konnte. Ich schlang die gesamte Mahlzeit herunter, als wäre sie ein Feinschmeckermenü.
Nachdem Ward wieder zurückgekehrt war, nahm er mir die Handschellen ab, damit ich die Toilette benutzen konnte. Ich ließ mir Zeit, seifte meine Hände und Arme ab, hielt einen Waschlappen unter den heißen Wasserstrahl und rieb mir damit das Gesicht sauber. Danach kämmte ich mich. Mein Bart sah ziemlich unordentlich aus, aber dagegen konnte ich in diesem Moment nichts tun.
Als ich ins Schlafzimmer zurückkehrte, meinte ich zu Ward, ich bräuchte einen Drink.
»Bedienen Sie sich«, sagte er.
Wie tief ich bereits gesunken war, erkannte ich daran, wie glücklich ich mich fühlte, als er mich unbewacht zur Minibar im Wohnraum gehen ließ. Die Wächter behielten mich im Auge, während ich eine Miniflasche Scotch aus dem Kühlschrank holte, ihren Inhalt in ein Glas schenkte und wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte.
Ich setzte mich auf die Bettkante und baumelte mit den Beinen, um den Blutkreiskauf anzuregen, während Ward sich einen Sessel heranzog. Er kam mir ein wenig entspannter, ja, sogar deutlich besser gelaunt vor.
»Eris hat die Adresse, die Sie uns genannt haben, überprüft. Sie scheint echt zu sein. Sie ist sogar ganz in der Nähe, im Stadtteil Al-Mansour. Der Eigentümer des Hauses ist Assyrer genauso wie die Zakar-Brüder. Es ist durchaus möglich, dass Tomas die Schrifttafel dort deponiert hat.«
»Warum stürmen Sie nicht einfach das Haus und schauen nach? Sie haben schließlich die nötigen Mittel. Wozu brauchen Sie mich?«
»Ich will nicht das Risiko eingehen, die Tafel bei einem gewaltsamen Eindringen zu beschädigen. Außerdem muss ich noch ein wenig mehr wissen, ehe wir zu dem Haus gehen. Wir haben es unter ständiger Beobachtung. Was vor ein paar Tagen in dem Haus war, ist immer noch dort.«
»Hätte Tomas die Zeit gehabt, um hierher zurückzukommen? Er kann die Tafel am Flughafen kaum durch den Zoll geschmuggelt haben.«
»Wie lange ist es her, seit Sie ihn das letzte Mal gesehen haben? Drei Tage?«
»In etwa.«
»Ich bezweifle, dass er überhaupt in der Türkei war. Mazare hat alles für ihn inszeniert. Damit hätte er genügend Zeit gehabt, um nach Syrien oder Jordanien zu fliegen und mit dem Auto in den Irak zu kommen. Die Grenzen sind mittlerweile durchlässig wie ein Sieb. Es gibt tausende von Löchern, durch die man ins Land gelangen kann, und mit dem Auto ist man schon nach einem halben Tag in der Hauptstadt.«
Er legte den Kopf in den Nacken und streckte sich. Trotz der Hitze trug er einen ziemlich eleganten Anzug. Dazu ein weißes Oberhemd mitsamt Krawatte. Vielleicht um lässiger zu erscheinen und mich ein wenig in Sicherheit zu wiegen, dass mir im Augenblick keine Gefahr drohte, zog er sein Jackett aus, lockerte die Krawatte und krempelte die Ärmel hoch.
Eine Tätowierung auf seinem Unterarm leuchtete wie eine Neonreklame. Ein kleines h mit einem kurzen Strich oben drüber.
Ward lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Kinn auf seine Fäuste. »Morgen früh schicken wir Sie zu der Adresse, die Sie uns gegeben haben. Wir wollen, dass Sie hineingehen.«
»Warum ich? Es muss doch jede Menge Leute geben, die Sie dorthin schicken können.«
»Ich denke an die Schockwirkung. Sie sind absolut die letzte Person, die Tomas Zakar in Bagdad erwarten würde. Auf diese Art und Weise treiben wir ihn aus seinem Versteck.« Er hielt kurz inne, um seinen nächsten Worten Nachdruck zu verleihen. »Außerdem sind Sie entbehrlich. Ich möchte nicht, dass einer meiner Leute in dem Haus zu Schaden kommt.«
»Und nach dem, was in der Türkei geschah, was soll ich da sagen? Wie erkläre ich, wie ich hierhergekommen bin oder warum ich mir überhaupt die Mühe gemacht habe, nach Bagdad zu kommen?«
»Das brauchen Sie gar nicht. Tomas wird wohl kaum an die Tür kommen, doch derjenige, der Ihnen aufmacht, wird ihm erzählen, wer draußen steht. Er wird sicher stolz auf sich sein und sich auf seinen Lorbeeren ausruhen. Es wird ihn ziemlich aus der Fassung bringen zu erfahren, dass Sie am Leben sind und es bis hierher geschafft haben. Er wird wissen wollen, ob Sie alleine sind oder ob wir alle heil herausgekommen sind. Das ist der Zustand, in dem wir ihn haben wollen. Unsicher und in dem Bewusstsein, dass seine Pläne durchkreuzt wurden.«
Ich stand auf und ging zum Fenster. Ward machte keinerlei Anstalten, mich aufzuhalten. In der Ferne schwankten die Palmen im leichten Wind. Die Luft flimmerte vor Hitze und Dunst. Ich kam mir vor, als wäre ich Teil dieses Trugbildes, als wäre nichts von dem, was um mich herum geschah, real.
Ich drehte mich zu Ward um. »Ich werde es nicht tun. Welchen Sinn hätte es überhaupt? Sie werden mich und Laurel ohnehin umbringen.«
Ward zuckte zusammen und verriet, unter welcher inneren Anspannung er stand. Es war das Handy in seiner Hosentasche, das sich mit einem Vibrationsalarm gemeldet hatte. Er holte es heraus und meldete sich, dann wandte er sich ab, ging ein paar Schritte in den Durchgang zum Nebenzimmer und redete leise weiter. Seine Gestalt füllte die Türöffnung nahezu vollständig aus, so dass die beiden Wächter so gut wie nichts sehen konnten.
Als er sein Gespräch beendet hatte und das Telefon ausschaltete, war Wards Haltung wieder kühl und geschäftsmäßig. Er nahm den Koffer und seinen Inhalt vom Bett und fesselte mein Handgelenk wieder an das Bettgestell. »Ich komme erst spät wieder zurück und wir brechen schon früh wieder auf.«
»Ich habe mich noch zu nichts bereit erklärt.«
»Sie haben keine andere Wahl.« Er sagte leise etwas zu den Wächtern, verließ die Suite und schlug die Tür hinter sich zu.
Ich griff nach dem Glas Scotch, das ich zu dem schmutzigen Teller auf das Tablett gestellt hatte. Ich legte die Hand um das Glas und setzte es an die Lippen. Eine weitere Gewehrsalve zerriss die Stille, diesmal so laut, als zielte der Schütze direkt auf unser Fenster. Ich ließ das Glas fallen und schüttete mir seinen Inhalt über das Hemd. Dann lag ich da, nach Alkohol stinkend und mit meinem Schicksal hadernd.