Acht
Der Mann warf einen Tennisball über den Bürgersteig und grinste, als er an mir vorbeikam. Ein kleiner Hund trabte hinter ihm her und nahm die Jagd auf. Ich verfluchte Hal im Stillen dafür, dass er es geschafft hatte, mir meinen Seelenfrieden zu rauben, und machte mich auf den Weg zu meiner Verabredung mit Tomas Zakar in der Hoffnung, dass er mir die Hinweise lieferte, die ich dringend brauchte.
Auf dem St. Mark’s Place im East Village ging es so wild und ausgelassen zu wie immer an einem Sommerabend. Das Gedränge war enorm und die Leute frönten ihrer scheinbar grenzenlosen Vergnügungssucht. Einige Polizisten in Uniform standen neben ihren Streifenwagen und unterhielten sich mit zwei stämmigen Männern in Straßenkleidung, zweifellos das Dienst habende Undercover-Team. In den asiatischen Restaurants und den Sushi-Bars herrschte bereits reger Betrieb und die Kiffer-Shops machten gute Geschäfte. Die Reklametafel eines Ladens mit der Aufschrift UNISEX – 24 HOURS A DAY, SEVEN DAYS A WEEK reizte mich auch diesmal wieder zum Lachen. Auf dem Bürgersteig schwankte eine Gruppe Hare Krishnas auf mich zu, kahlköpfig, in ihre safrangelben Gewänder gekleidet und zum Klang ihrer großen Trommel das sattsam bekannte Mantra leiernd. Ich kam mir vor wie in den Sechzigerjahren. Einige Dinge und Orte ändern sich nie.
Das Khyber Pass, ein afghanisches Restaurant, hatte Samuel häufig besucht. Ich hatte vorher nie bewusst auf seinen Namen geachtet, aber nach meinen jüngsten Erlebnissen machte mich die Tatsache, dass wir uns ausgerechnet hier trafen, ein wenig nervös. Der Name bezog sich auf die berühmte, knapp fünf Kilometer lange Passstraße durch das gefährliche Hindukuschgebirge – ein englischer Offizier hatte einmal gesagt, dass an diesem Ort »jeder Stein in Blut getaucht worden sei«. Ein schlechtes Omen für mein bevorstehendes Treffen? Ich hoffte, dass es nicht so war.
Ich kam ein wenig zu spät. Als ich mit Samuel hier gewesen war, hatte der Laden gebrummt, aber ich war auch immer erst sehr spät abends dort aufgekreuzt. Heute saß nur ein Gast an einem kleinen Tisch auf dem briefmarkengroßen Patio auf der Vorderseite. Er schob den Stuhl zurück, erhob sich und nickte mir unauffällig zu. Zakar war kleiner als ich, um einiges schlanker und trug einen Straßenanzug. Das scharf geschnittene Gesicht und die dunklen Haare und Augen unterstrichen sein asketisches Aussehen. Seine Haut war genau wie meine olivfarben.
»Tomas Zakar?«, fragte ich, während ich ihm die Hand entgegenstreckte.
»Ja.« Er erwiderte meinen Händedruck und murmelte: »Danke, dass Sie gekommen sind.« Offenbar hatte er mich auf Anhieb erkannt. Ich verspürte ein leichtes Unbehagen, dass er mir in dieser Hinsicht etwas voraushatte.
Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich hoffe, ich habe mich nicht zu sehr verspätet«, sagte ich.
Er wischte meine Bemerkung mit einer Handbewegung weg. »Sie sind hier. Das ist die Hauptsache.« Er deutete auf den Eingang. »Wollen wir hineingehen?«
Wir mussten ein paar Stufen in einen Gastraum hinuntersteigen, der nach Orient duftete. Afghanische Musik drang aus einem nahen Lautsprecher an der Wand. Die Inneneinrichtung des Raums erstreckte sich über die gesamte Palette möglicher Rotschattierungen, von einem dunklen Burgunderrot bis hin zu grellen Scharlachtönen. Jeder Tisch war mit einem handgeknüpften Teppich bedeckt, auf dem jeweils eine Glasplatte lag. Die Wirtin geleitete uns zu einem Tisch unter dem Erkerfenster im vorderen Teil des Restaurants.
»Das ist der beste Tisch für unsere Unterhaltung. Hier sind wir völlig ungestört«, sagte Tomas, nachdem wir Platz genommen hatten. »Möchten Sie eine Pfeife?« Er deutete auf eine Kollektion großer Wasserpfeifen mit rubinroten und kobaltblauen Glasbehältern, die auf der Bartheke aufgereiht waren. Eine Speisekarte und eine Auswahl mit Früchten aromatisierter Tabake lagen schon auf unserem Tisch bereit.
»Nein, danke«, sagte ich.
Seine dunklen Augen blitzten überrascht auf. »Samuel hat sich immer eine Pfeife bringen lassen.«
Ich bin sicher, dass er es nicht so gemeint hatte, aber seine Feststellung klang fast wie eine Kritik. Als könnte ich meinem Bruder in keiner Hinsicht das Wasser reichen.
»Dann etwas zu trinken?«, fragte er.
Ich verzichtete einstweilen auf etwas Alkoholisches, weil ich absolut nüchtern bleiben wollte, und entschied mich für einen Espresso. Er bestellte Pfefferminztee und lächelte traurig. »Dieser Tee ist das einzige in Amerika, das mich an meine Heimat erinnert.«
»Apropos Heimat, woher wussten Sie, wo Sie mich finden können?«
»Oh, ich war früher mit Samuel schon einige Male in New York.«
Ich nehme an, mein Bruder hatte keine Notwendigkeit gesehen, uns miteinander bekannt zu machen, aber aus irgendeinem Grund traf mich diese Bemerkung wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich fragte mich, wie vertrauenswürdig mein Gegenüber wirklich war. »Ich will nicht allzu misstrauisch erscheinen, aber da wir einander nie begegnet sind, haben Sie irgendeinen Ausweis dabei?« Ich wusste zwar, wie er aussah, aber ich wollte nicht, dass er mein Vertrauen für selbstverständlich hielt.
Mein Bitte überraschte ihn offenbar, doch er bückte sich und griff in eine Außentasche seines Rucksacks, reichte mir seinen Reisepass und ein Foto von ihm und Samuel bei irgendeinem Treffen, auf dem sie in die Kamera lachten und der Hintergrund mit üppigen Topfpalmen und anderen Zimmerpflanzen ausgefüllt war.
Er erzählte mir, dass er in Mosul aufgewachsen sei und sein Diplom in Oxford gemacht habe. Wir hatten gleich ein wenig gemeinsamen Gesprächsstoff, als ich erfuhr, dass er im Rahmen eines Austauschprogramms auch an der Columbia University einige Kurse besucht hatte. Samuel hatte ihn während der letzten drei Jahre, die er mit Ausgrabungen in Ninive zugebracht hatte, als Assistenten beschäftigt. Nun war er nach Amerika gekommen, um die Schrifttafel zu suchen. Daher die dringende Bitte an mich, ihn zu treffen.
Der Kellner brachte unsere Getränke. Ich löffelte Zucker in meinen Espresso und rührte um.
Tomas blies auf seinen Tee, um ihn ein wenig abzukühlen. »Übrigens mein herzliches Beileid«, sagte er zu mir.
»Danke. Es war wirklich schlimm.«
»Ja. Selbst jetzt kann ich noch gar nicht glauben, dass er gestorben ist. Samuel war viel mehr als nur mein Arbeitgeber. Er hat mein letztes Jahr in Oxford finanziert und meinen Eltern unter die Arme gegriffen, als sie ihr Zuhause verloren. Ich kann nicht beschreiben, wie traurig ich war, als mich die Nachricht von seinem Tod erreichte. Es machte mich regelrecht krank.«
Ich verspürte einen Anflug von Eifersucht, als ich mir das anhören musste. Offenbar hatte er im Laufe der Zeit meinem Bruder sehr nahegestanden, aber ich war beruhigt, als ich hörte, dass seine Motive aufrichtig und echt waren. Der Schock in seinem Gesicht war offensichtlich, als ich ihm berichtete, dass Hal gestorben war, nachdem er die Schrifttafel gestohlen hatte. »Wissen Sie etwas darüber? Die Tafel stammte aus neoassyrischer Zeit, und es spricht alles dafür, dass Samuel sie aus dem Irak hierher verfrachtet hatte.«
»Genau deswegen bin ich hierhergekommen. Um sie nach Hause mitzunehmen. Aber Sie wissen sicherlich, um was es sich handelt. Sie müssen sie untersucht haben, als Sie sie fanden.«
»Da gibt es ein Problem. Hal hat sie versteckt, und ich habe keine Ahnung, wo.« Vorerst verkniff ich mir jede Erwähnung von Hals Spiel. Tomas wickelte eine Serviette um die Teekanne und saß schweigend da, hing seinen Gedanken nach und versuchte, diese unerwartete Wende der Ereignisse zu verarbeiten.
Ich versuchte es abermals. »Diese Schrifttafel. Sie steht vielleicht mit alten alchemistischen Lehren in Verbindung – wissen Sie irgendetwas darüber?«
Er hantierte mit seiner Serviette herum und murmelte: »Sie müssen entschuldigen, aber was Sie mir gerade erzählt haben, ist sehr beunruhigend.«
War dies ein Versuch, einer Antwort auf meine Frage auszuweichen? Ich entschied, dass es im Augenblick wohl besser wäre, ihn nicht zu sehr zu bedrängen, und erkundigte mich, wie er Samuel kennengelernt hatte.
»Während meines ersten Jobs im Nationalmuseum. Wie Sie sicher wissen, war Ihr Bruder regelmäßig als Berater für das Museum tätig. Die Leitung hat ihm blind vertraut. Sie konnten es sich nicht leisten, ihm ein Honorar zu zahlen, aber er hat immer irgendwelche Forschungsgelder aufgetrieben. Hat er nie von mir erzählt?«
»In der letzten Zeit hat er kaum über seine Arbeit gesprochen.«
Abermals hielt ich mich mit den Fragen zurück, deren Antworten ich eigentlich am dringendsten benötigte, aus Furcht, ihn endgültig abzuschrecken. Ich wollte diesen Mann ein wenig besser einschätzen können, daher versuchte ich es mit einem anderen Thema, in der Hoffnung, dass er etwas mehr aus sich herauskam. »Haben Sie es geschafft, den Irak noch vor Ausbruch des Krieges zu verlassen?«
»Nein, wir kamen erst raus, nachdem die Amerikaner in Bagdad einmarschierten. Die ganze Stadt befand sich in einem Zustand der totalen Selbstverleugnung. Es war reines Wunschdenken. Die Menschen hingen der Illusion nach, dass die Diplomatie in letzter Minute für ein Wunder sorgen würde. Dann fielen die ersten Bomben. Es war völlig grotesk. Ehe wir begriffen, was überhaupt los war, konnten wir auf CNN sehen, wie rings um uns herum die Gebäude explodierten. Es war unglaublich. Ich konnte im Fernsehen den Verlauf einer Katastrophe verfolgen, während ich mittendrin steckte.«
Ich spürte, wie der Schutzwall, den er um sich errichtet hatte, Risse bekam. Eine solche Erfahrung würde jeden Menschen in seinen Grundfesten erschüttern.
»Ich war einmal in Amiriya, wo während des Golfkriegs von den Amerikanern ein Luftschutzbunker bombardiert wurde. Man konnte die Umrisse der Leiber der armen Seelen, die sich dort verkrochen hatten, auf den Wänden sehen. Die Explosionshitze hatte sie dort wie Schattenwesen verewigt. Es war eine moderne Version dessen, was man gelegentlich bei Ausgrabungen finden kann. Ich denke an die Schauplätze bis dato unbekannter Schlachten, an Städte, die zerstört wurden, an Berge von Knochen, zermalmt und verbrannt. Waren Sie schon mal in Pompeji?«
»Ja.«
»Daran erinnerte mich der Bunker. In der Zeit erstarrte Leichen. Als dieser Krieg begann, war es fast genauso, als sei unsere gesamte Bevölkerung auf einen Schlag regelrecht verdampft worden. Keine Autos mehr auf den Straßen, kein Leben in den Städten. Dann sahen wir, wie sich der Himmel aufhellte. Dieses gespenstische, phosphoreszierende Grün auf den Fernsehschirmen. Wir konnten das Dröhnen der echten Bomben draußen hören und spürten, wie der Boden bebte, als würden wir von einem Erdbeben nach dem anderen heimgesucht.«
Was konnte ich dazu sagen? Krieg war für mich etwas vollkommen Fremdes. Ich fühlte mich genauso unsicher und hilflos wie bei jener Gelegenheit, als ein Freund mir erzählte, er habe Krebs, und ich mit irgendwelchen lahmen und völlig unangemessenen Aufmunterungsversuchen und Durchhalteparolen darauf reagiert hatte.
Tomas trank von seinem Tee. »Manchmal schien der Sauerstoff sich zu verflüchtigen und wir atmeten reinen Ruß ein. Unsere Leiber waren damit bedeckt. Wir husteten ihn heraus. Da wir kein Wasser hatten, benutzten wir altes Speiseöl, um ihn abzuwaschen. An Schlafen war nicht zu denken. Wir wussten nie, wo die nächste Rakete einschlagen würde. Wie bei einem Mörder, der auf einen wartet – man hat keine Ahnung, aus welchem Hauseingang oder hinter welcher Mauer er plötzlich auftaucht. Wir lebten in ständiger Angst.« Er stellte das Teeglas auf den Tisch. Das klang einigermaßen überzeugend. Ich hatte den Eindruck, jemanden vor mir zu haben, der stets auf Distanz achtete, der sich seine innersten Gefühlsregungen nicht anmerken ließ, aber der angespannte Zug um seinen Mund und seine Augen verriet mir, dass es ihn viel Mühe gekostet hatte, seine Erlebnisse zu berichten.
Ich suchte nach Worten, um ihm mein Mitgefühl auszudrücken. »Das Ganze weckt auch in mir eine ganze Reihe von Erinnerungen – an den 11. September. Ein Freund von mir, ein Künstler, hatte einen Sohn, der in den Türmen ums Leben kam. Ich verbrachte Tage damit, ihn so gut es ging zu trösten. Der Schlag war einfach zu heftig. Im Fall meines Freundes zerbrach seine Familie. Am Ende ließen er und seine Frau sich scheiden.«
»Es muss für diejenigen, die dabei waren, schrecklich gewesen sein.«
»Ich war nicht hier. Ich war an diesem Tag in Miami. Wie jeder andere saß ich gebannt vor dem Fernseher, sah mir immer wieder an, wie die Flugzeuge trafen, die Türme einstürzten. Sah Menschen wie Gespenster aus den Staubwolken auftauchten, schaute auf die verbogenen Skelette der Wolkenkratzer, die aus der Asche aufragten. Nicht am Ort des Geschehens zu sein, als meine Heimatstadt angegriffen wurde, fühlte sich an wie eine schlimme Unterlassungssünde.«
Er nickte verständnisvoll. »Es heißt, wenn man ein traumatisches Erlebnis hatte, soll man darüber reden, aber genau das scheint es nur noch schlimmer zu machen.«
»Gott sei Dank haben Sie die Invasion überlebt. Samuel erzählte, er sei zu der Zeit in Jordanien, in Amman, gewesen. Sind Sie dort mit ihm zusammengetroffen?«
»Was meinen Sie? Er war die ganze Zeit bei uns.«
»Wollen Sie mir erzählen, er war im Irak?«
»Wussten Sie das nicht? Er kam in der Woche vor der Invasion, weil er erfahren hatte, dass der Schrifttafel irgendeine Gefahr drohte.«
Für einen kurzen Moment spürte ich, wie in meiner Brust heißer Zorn aufloderte. Samuel hatte mich belogen. Warum hatte er das getan? Damit ich mir keine Sorgen machte? »Hat er deshalb die Tafel nach New York geholt? Um sie in Sicherheit zu bringen?«
»Ja.«
»In dem Moment, als er sie aus dem Museum entfernte, hat er sie, im juristischen Sinn, gestohlen. Ich kann nicht glauben, dass mein Bruder so etwas getan haben soll.«
Das war genau die falsche Reaktion, und Tomas stellte sofort die Stacheln auf. »Viele Leute haben das Gleiche getan. Zurzeit werden viele Antiquitäten zurückgegeben. Objekte, die die Leute mitnahmen, um sie vor den Plünderern in Sicherheit zu bringen.«
»Momentan sind sämtliche irakischen Antiquitäten verdächtig. Die Händler rühren sie nicht an. Wenn ich die Schrifttafel finde, geht sie sofort zurück ins Museum.«
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, glaubte er, dass meine Bemerkung gegen ihn gerichtet war. »Sie haben gut reden. Sie können sich gar nicht vorstellen, was während der Plünderungen im Gange war. Ich wäre beinahe getötet worden.«
Bislang klang seine Geschichte glaubwürdig. »Ich wollte Sie nicht kritisieren. Es muss das reinste Chaos gewesen sein.«
Er musterte mich mit einem düsteren Blick. »Es war so gewollt.«
»Das klingt ja fast wie eine Verschwörungstheorie.«
Er wedelte mit der Hand in der Luft herum, als wollte er Zigarettenrauch verteilen. »Dann erklären Sie mir doch mal, weshalb von allen Regierungsgebäuden das Innenministerium eines der wenigen war, die besonders geschützt wurden? Darin befanden sich die Dokumente von Saddam Husseins Geheimdienst. Es heißt, die Plünderungen hätten wegen der Anwesenheit der Scharfschützen der Republikanischen Garden im Museum nicht verhindert werden können, doch die Diebstähle dauerten noch mindestens zwei weitere Tage an, nachdem sie geflüchtet waren.«
»Das hat uns eine sehr schlechte Publicity eingebracht.«
»Haben Sie schon mal etwas von Schocktherapie gehört? Sie wird bei Geisteskranken angewendet.«
Ich war ein wenig verwirrt und hatte keine Ahnung, was er mit dieser Frage beabsichtigte. »Meinen Sie die Elektroschocktherapie?«
»Ja, genau die. Die Leute, die den Krieg geplant hatten, wollten keinerlei Erinnerung an die Vergangenheit. Ihre Vorstellung lief darauf hinaus, eine Gesellschaft ohne Geschichte zu erschaffen, eine Gesellschaft, die sozusagen bei null anfängt.«
Abermals erinnerte er mich an eine zusammengepresste Sprungfeder, die schon bei der geringsten Berührung ausgelöst wird. Ich beschloss, die Unterhaltung ein wenig aufzulockern. Ich würde nichts damit gewinnen, wenn ich diesem Mann irgendwelche Vorwürfe machte. »War Samuel demnach während der Bombardierungen und der anderen Kampfhandlungen wirklich im Irak?«
»Ich machte mir große Sorgen wegen seines Alters, aber er hielt sich erstaunlich gut.« Tomas hielt inne, als sei er unsicher, wie viel er offenbaren konnte. »Es war unsere einzige Option, wissen Sie. Sie haben sicherlich schon von dem Schatz von Nimrod gehört? Ich spreche von den Grabmälern der drei großen assyrischen Königinnen.«
»Sie meinen den goldenen Kopfschmuck und die Halsketten?«
»Die Kronjuwelen unseres Landes«, sagte Tomas. »Nur hatten wir keinen Tower von London, um sie dort sicher zu deponieren. Wir befürchteten, dass auch sie gestohlen worden waren, aber wir fanden sie am Ende in einer unterirdischen Stahlkammer in der Zentralbank. Vor längerer Zeit wurde die Bank von einer halben Million Gallonen Abwasser überflutet; das hat jeden Diebstahl verhindert. Die Bagdad-Batterien werden ebenfalls vermisst, ein weiterer schrecklicher Verlust. Unser Volk entdeckte die Elektrizität achtzehnhundert Jahre vor Ihnen. Haben Sie sie schon mal gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es waren vasenförmige Tongefäße, in denen sich Kupferröhren und jeweils ein kleiner Stab aus Eisen befanden. Wenn die Gefäße mit einer Säure, wie zum Beispiel Essig, gefüllt wurden, erzeugte diese Anordnung eine elektrische Spannung. Es war so sinnlos, dass sie gestohlen wurden.«
»Soweit ich weiß, wurde aber auch eine Menge gerettet.«
»Dank dem Museumspersonal, das Tausende von Objekten rechtzeitig in Sicherheit brachte. Diese Leute kann man getrost als Helden der Nation bezeichnen.«
Der Kellner unterbrach unser Gespräch, um sich zu erkundigen, ob wir unser Essen bestellen wollten. Tomas und ich verneinten und ich ergriff die Gelegenheit, um das Gespräch wieder auf das verschwundene Fundstück zu bringen. »Wie sieht diese Schrifttafel denn aus?«
»Sie ist ziemlich groß und rechteckig; etwa sechzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter breit. Der Text ist akkadisch und wurde in Keilschrift in den Stein gemeißelt. Nur wenige Leute wussten von der Tafel. Das nahmen wir jedenfalls an. Samuel, natürlich, ich und Hanna Jaffrey, eine wissenschaftliche Assistentin aus dem Programm für asiatische und nahöstliche Studien an der Universität von Pennsylvania. Und das ist eins der Probleme.«
»Was?«
»Jaffrey. Nachdem wir unser Lager in Ninive abbrachen, reiste sie in die Stadt Tell Afar in der Nähe der archäologischen Ausgrabungsstätte Tell al-Rimah. Sie hatte dort einen Freund, ebenfalls ein wissenschaftlicher Assistent an der Universität von Pennsylvania. Wir erfuhren, dass sie noch vor Kriegsausbruch nach Amerika zurückgekehrt ist, aber ich habe sie seitdem nicht mehr erreichen können. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich kann nicht in Erfahrung bringen, ob sie wieder hier oder immer noch drüben ist.«
»Sie wird doch sicherlich die Heimreise angetreten haben, bevor der Krieg ausbrach.«
»Einige Mitglieder des Hatra-Teams beschlossen, dort zu bleiben und die Ausgrabungsstätten zu sichern. Sie könnte dazugehört haben.«
»War sie denn in Ninive, als Sie die Schrifttafel fanden?«
»Ja, im vergangenen Dezember. Wir arbeiteten am Kujundschik-Hügel.« Er hielt mitten im Satz inne. »Das ist …«
»Ich weiß, wo das ist.«
Mir kam plötzlich in den Sinn, dass seine Zurückhaltung sich zum Teil damit erklären ließ, dass die Begegnung mit mir ihn irgendwie nervös machte. Wir umkreisten einander wie zwei konkurrierende Rüden, die es auf dieselbe Hündin abgesehen haben.
»Ninive ist eine der legendären versunkenen Städte Assyriens«, fuhr er fort. »Mehr als einhundert Jahre nach ihrer Entdeckung gibt es dort noch eine Menge auszugraben. Ich nehme an, Sie haben Samuel bei solchen Unternehmungen begleitet.«
»Natürlich.« Eine Lüge. Ich konnte Zakar gegenüber weder mein Unwissen noch mein Bedauern darüber eingestehen. Ich hatte darum gebettelt, dass Samuel mich auf seinen Reisen mitnahm, nur um mir eine endlose Litanei von Gründen anzuhören, weshalb das nicht möglich sei. »Warte, bis du älter bist«, tröstete er mich meistens. Und als ich ein Teenager war, fand er andere Begründungen. Irgendwann hörte ich dann auf, ihn zu fragen. Er unternahm mit mir viele Reisen nach Übersee. Wir waren in Florenz, im Louvre und im wunderschönen Pergamon-Museum in Berlin, aber ich schaffte es nie bis in den Nahen Osten.
»Ich beneide Sie darum, bereits in so jungen Jahren so viele fremde Länder bereist zu haben. Zeugen der Geschichte sehen zu können und nicht nur in der Schule davon zu hören und zu lesen … Sie hatten wirklich Glück. Ihre Erinnerungen an Ninive sind nach so langer Zeit sicherlich eher vage. Sie wissen sicherlich noch, dass es zwei Hügel gibt, den Kujundschik als Hauptgrabungsstätte und den Nebi Yunus, das alte Waffenarsenal. Die Ausgrabungen in Nebi Yunus gestalteten sich erheblich schwieriger, weil auf einigen Bereichen Häuser errichtet worden waren.«
»Wurde dort nicht auch ein Tempel für den Propheten Jonah gebaut?«, fragte ich.
»Ja«, erwiderte Tomas, »ein weiterer Grund, weshalb der Zugang zu der Grabungsstätte eingeschränkt ist. Der Tempel gilt im Islam als Heiligtum. Aber Samuel erhielt die Erlaubnis, sich noch einmal auf dem Kujundschik ausgiebig umzusehen. Das Ministerium für Archäologie und Antiquitäten war einverstanden, weil einige der Lehmziegel- und Steinmauern stark gelitten hatten. Wir wurden vom Ausland finanziert und hatten unter anderem den Auftrag, die Ruinen zu schützen.
Für mich ist es immer ein ganz besonderes Erlebnis, wenn der Hügel von Ninive vor mir auftaucht. Wie Sie sicherlich noch wissen, befindet er sich auf einer weiten, ebenen Fläche, aus der er plötzlich wie aus dem Nichts aufragt. Man erkennt sofort, dass er keine natürliche Erscheinung ist. Er hat fast so etwas wie eine spirituelle Ausstrahlung, und das sogar jetzt noch, nachdem einige Jahrtausende verstrichen sind.«
Ich konnte mich an die Berichte über Ninive, damals die größte Stadt der Welt, die ich im Laufe der Zeit gelesen hatte, recht gut erinnern. An Sanheribs prächtigen Palast mit seinen riesigen Statuen aus Stein, die die Türen und Durchgänge bewachten, und an die dekorativen Kalksteintafeln, auf denen jede Phase des Palastbaus festgehalten worden war. Wasserfälle, Karpfenteiche und achtzehn Kanäle verschönten die Parks, in denen Elefanten, Kamele und Affen frei umherwandern durften.
»Wie ist der augenblickliche Zustand der Ausgrabungsstätte?«, wollte ich von Tomas wissen.
Seine dünnen Lippen verzogen sich missbilligend. »Sehr schlecht, fürchte ich. Erdhaufen und tiefe Löcher, wohin man schaut. Die Stätte wurde während der Neunzigerjahre gründlich geplündert. Als wir im vergangenen Jahr unsere Arbeit wiederaufnahmen, konzentrierten wir uns auf ein Gelände in der Nähe des Shamash- und des Halzi-Tors, beides Bereiche, die Layard und Hormuzd Rassam bereits untersucht hatten.«
Ich wusste, dass in Layards Zeit, also zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, archäologische Ausgrabungen kaum mehr waren als notdürftig getarnte Plünderungen. Forscher der ersten Stunde hatten es vorwiegend auf besonders auffällige Stücke abgesehen und schnitten ganze Teile aus Palastreliefs heraus und nahmen nur mit, was ihnen am besten gefiel und was sie ohne große Schwierigkeiten abtransportieren und nach Hause schaffen konnten. Erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die deutschen Archäologen Robert Koldewey und Walter Andrae ihre Arbeit aufnahmen, wurden das sorgfältige Fotografieren und die präzise Dokumentation von Fundstätten zur gängigen Praxis.
»Es war harte Arbeit. Unsere Männer verbrachten die meiste Zeit damit, neue Stützvorrichtungen zu konstruieren und Mauern zu verschalen. Wir mussten riesige Schutthaufen durchsieben. Der Winterregen füllte unsere Gräben mit Wasser und beschädigte die Markierungen, die wir angebracht und fotografiert hatten. Vieles musste erneuert werden.«
»Warum haben Sie sich ausgerechnet diese Jahreszeit ausgesucht?«
»Unser Budget reichte bis Ende Dezember. Wir hatten keine andere Wahl. Es war eine der spannendsten Unternehmungen meines Lebens. Mein erstes großes Projekt, und Samuel übertrug mir die Gesamtleitung.«
»Haben Sie irgendetwas gefunden?«
»Wir machten eine unglaubliche Entdeckung. Wir hatten ein paar trockene Tage, die ich nutzte, um einen kleinen Geröllhaufen zu untersuchen. Die oberen Schichten waren durchnässt, aber durch den konzentrierten Einsatz von Kelle und Pinsel kam ich sehr gut voran. Und dann legte ich den ersten Knochen frei. Ich wusste sofort, dass ich etwas Sensationelles gefunden hatte.«
»Einen Friedhof?«
»Nein. Wir riefen das gesamte Team zusammen und brauchten eine halbe Ewigkeit, um alles auszugraben. Vollständige Skelette, vom Gewicht der Erde völlig platt gedrückt. Keine Spuren von Rüstung, Schilden oder Ähnlichem. Demnach waren es keine Soldaten, und Kleidungsstücke wären nach dieser langen Zeit sowieso längst verrottet. Aber außer einer Menge Asche, Holzkohle und Knochentrümmern fanden wir Bronzeschmuck – Armreifen, Ohrringe und so weiter.
Dadurch wussten wir, dass wir die Überreste von Bürgern gefunden hatten, die geflohen waren, als Ninive in Flammen aufging. Unglaublich. Als wären wir einige Tausend Jahre in die Vergangenheit gereist. Die Beweise für die Katastrophe lagen unübersehbar vor uns. Man konnte fast die Schreie der Menschen hören, als sie an dem schwarzen Qualm erstickten, während Aschewolken und glühende Holztrümmer auf sie herabregneten. Viele wiesen tödliche Wunden auf, die die Meder ihnen mit ihren Schwertern und Messern zugefügt hatten.«
»Gab es noch irgendwelche anderen Artefakte?«
»Ein paar kleinere Wächterstatuen und Rollsiegel, Dinge, die die Menschen vor dem Feuer retten wollten.«
»Haben Sie dort diese Schrifttafel gefunden?«
»Nicht weit davon entfernt. An einem Abend arbeiteten wir länger als üblich. Die Sonne stand schon ziemlich tief am Himmel. Ein wunderschöner, rötlicher Schimmer lag auf dem Land, hervorgerufen durch das verblassende Sonnenlicht. Über diesen alten Ausgrabungsstätten liegt immer ein ganz spezieller Erdgeruch. Ich weiß nicht, was es ist – bestimmt könnte ein Geologe dieses Phänomen als Folge chemischer Zerfallsprozesse genau erklären. Ich denke lieber, dass dieser besondere Geruch entsteht, wenn man Dinge ans Tageslicht holt, die jahrhundertelang unentdeckt in der Erde gelegen haben, wenn man sie aus ihren Gräbern befreit und der Welt wieder zugänglich macht.«
Demnach hatte Tomas sogar eine romantische Ader und war gar nicht so sachlich und nüchtern, wie es den Anschein hatte.
»Samuel war etwa dreißig Meter von mir entfernt«, fuhr Tomas fort. »Wir hatten einen langen Arbeitstag hinter uns. Ich hatte ständig Schwärme von Fliegen abwehren müssen, war müde und dachte nur daran, endlich mein Werkzeug zusammenzupacken und Feierabend zu machen. Ich hörte ihn rufen. Hanna Jaffrey und ich rannten zu ihm hin, da wir befürchteten, dass er sich verletzt hatte. Selbst im schwachen Licht konnte ich erkennen, dass er bleich geworden war. Er forderte uns auf, nach unten zu schauen. Er hatte in einer Art Höhle gearbeitet, die sich horizontal in die Erde bohrte. Zuerst konnte ich nichts Bedeutsames erkennen. Ich bückte mich. Der Teil der Tafel, den man erkennen konnte, sah aus wie ein Stück Fels, das zu den Schuttmassen gehörte, die wir gewöhnlich an solchen Ausgrabungsorten vorfinden. Dann begriff ich plötzlich, was ich da vor mir hatte. Es war ein bearbeiteter Steinklotz, der aus der Schuttwand ragte, und er war eindeutig mit Keilschriftzeichen versehen. Unsere Müdigkeit war wie weggeblasen. Angesichts der vielen Stunden Arbeit, die man in solche Orte hineinsteckt, sind bedeutende Entdeckungen wirklich dünn gesät. Unsere Herzen rasten.
Hanna und ich rannten los, um unsere mit Batterien betriebenen Lampen und die Fotoapparate zu holen. Wir bauten alles auf und verbrachten zu dritt mehrere Stunden damit, den Schutt und das Geröll wegzuräumen. Wir jubelten, als wir endlich die Steinplatte aus ihrem Bett heben konnten. Es war ein sehr großes Stück, dessen Oberfläche mit Schriftzeichen bedeckt war. Das Artefakt war völlig intakt, und weil es aus solidem Stein und nicht aus Ton bestand, war es auch bestens erhalten.«
»Konnte Samuel es auf Anhieb identifizieren?«, fragte ich.
»Schon nach einem Tag kannte er die Bedeutung der ersten Zeilen. Natürlich wissen Sie, dass es mehrerer Schritte bedarf, um Keilschriftsymbole in sinnvolle Worte unserer Sprache zu übertragen. Das hat nichts mit einer normalen Übersetzung zu tun.«
»Sicher«, sagte ich. »Man braucht dazu eine Menge Geduld.«
Er musterte mich prüfend. In seinem Blick lauerte der Verdacht, dass ich weit weniger wusste, als ich vorgab, aber er stellte mich nicht zur Rede, sondern fuhr fort: »Innerhalb einer Woche wusste Samuel, was er gefunden hatte. Und er war geradezu euphorisch.«
»Also wissen Sie, wie der Text auf der Schrifttafel lautet?«
»Nur was er uns darüber gesagt hat. Meine Fähigkeiten sind noch ziemlich begrenzt, daher hätte ich sehr viel mehr Zeit gebraucht, um den Text zu entziffern, und Hanna Jaffrey hat von solchen Schriften nur wenig Ahnung.«
Er hatte eine formelle Art, sich mitzuteilen, bei der ihm nur selten ein falsches Wort oder ein grammatischer Fehler entschlüpfte. Seine Ausdrucksweise entsprach in perfekter Weise einem kühlen und sachlichen Auftreten, das offenbar Teil seiner Persönlichkeit war.
Tomas schien sich auf vertrautem Terrain zu bewegen. Wahrscheinlich war er neben seiner praktischen Arbeit auch noch als Lehrer tätig.
»Schriftgelehrte«, fuhr er fort, »widmen ihr Leben dem Erlernen alter Sprachen, weil es viele Jahre in Anspruch nimmt, die Hunderte von Symbolen der frühen Alphabete auswendig zu lernen. Stellen Sie sich nur die Kanaaniter in den Türkisminen auf dem Sinai vor. Sie hatten als Erste die Idee, Symbole mit Lauten anstatt mit Bildern zu assoziieren. Deshalb war das phönizische Alphabet revolutionär. Dank seiner vierundzwanzig Zeichen bestand immerhin theoretisch die Möglichkeit, dass jeder Mensch in der damaligen Zeit Lesen und Schreiben lernen konnte.
Daran, dass die Schrift sich auf einer Steinplatte befand, erkannten wir, dass der Text eine große Bedeutung gehabt haben musste. Königliche Erlasse und spezielle Weissagungen wurden häufig auf Stein festgehalten, weil dieses Material dauerhafter war. Weniger bedeutsame Dokumente wurden auf weichen Lehmtafeln aufgeschrieben. Die Schreiber behandelten diese Lehmtafeln später mit Wasser, um sie erneut benutzen zu können.«
Ich wollte höflich sein, aber jetzt erzählte er mir Dinge, die mir bekannt waren. Ich bremste ihn mit einer Handbewegung. »Das weiß ich alles.«
Er reagierte mit der Andeutung eines Lächelns. »Tut mir leid. Ich vergaß.«
»Was sagte Samuel über den Text?«
»Er konnte nicht an sich halten. ›Einer der bedeutendsten Funde in der Geschichte des Irak‹, erklärte er uns.«
Ich dachte an meinen Bruder und daran, wie viel ihm das bedeutet haben musste. Er hatte sich gewiss genauso gefreut wie George Smith, der die Assyriologie als Hobby betrieb und in den Fünfzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts die Geschichte von Noah und der Sintflut entdeckte. Smith pflegte damals während der Mittagspause im Britischen Museum Keilschrifttafeln zu übersetzen. Seinen größten Moment erlebte er, als er die berühmte Geschichte auf einer Tafel als Teil des Gilgamesch-Epos entdeckte. Als Smith sich darüber klar wurde, was er gefunden hatte, soll er zahlreichen Anekdoten zufolge herumgerannt und sich vor Begeisterung vor seinen Kollegen die Kleider vom Leib gerissen haben. Samuel war um einiges reservierter, aber auch er dürfte über die Maßen begeistert gewesen sein.
»Jemand wollte sie stehlen«, fuhr Tomas fort. »Daher brachte Samuel sie am nächsten Tag ins Museum nach Bagdad und versteckte sie dort.«
»Wie hat er das geschafft, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hat? Ich habe mich überall erkundigt – beim FBI, bei Interpol und beim Art Loss Register – und nirgendwo wurde etwas von der Schrifttafel erwähnt.«
»Im Museum selbst sind viele Tafeln und Rollsiegel noch nicht abgeschrieben worden. Das trifft auch auf andere Museen zu. Das ist eine der großen Tragödien dieser Plünderung. Vieles wurde nicht in Verzeichnisse eingetragen. Selbst wenn einige Objekte wieder auftauchen, können wir, falls die Kennzeichnungen entfernt wurden, nicht beweisen, dass sie unser Eigentum waren.«
Tomas hielt inne, gab unserem Kellner ein Zeichen, dass er noch einen Tee wünsche, und deutete fragend auf meine Tasse. Ich schüttelte den Kopf. »Der Schreiber hat mit seinem Namen unterzeichnet – Nahum. Sagt der Ihnen etwas?«, fragte er.
»Nein.«
»Nahum war einer der zwölf geringeren Propheten des Tanach, der Bibel des Judentums. Das Buch Nahum mit dem Titel ›Gottesspruch über Ninive‹ prophezeit die Zerstörung der Stadt, die dann im Jahr 612 v. Chr. tatsächlich von einem Feuer vernichtet wurde.«
Diese neue Information traf mich wie ein Blitz. Damit stellte Tomas die Verbindung zu der Prophezeiung her, die Hal in seinem Brief erwähnt hatte. »Wollen Sie damit andeuten, dass die Schrifttafel, die ich suche, das Original einer Geschichte aus dem Alten Testament ist?« Mein Puls beschleunigte sich in Erwartung seiner Antwort.
»Ja, genau. Können Sie jetzt seine Bedeutung ermessen? Man hat Zitate aus dem Buch Nahum in den Schriftrollen von Qumran gefunden, aber nur einige Fragmente. Die Schrifttafel enthält den gesamten Text, und zwar vollständig. Sie ist ein phänomenales Fundstück – ich kenne nichts Vergleichbares. Sein historischer Wert ist kaum zu ermessen.«
Der Kellner brachte Tomas eine frische Tasse Tee. Er bedankte sich und fuhr fort: »Eine Statue aus Mesopotamien wurde vor kurzem in der Schweiz für zweiundzwanzig Millionen Doller verkauft. Und die war nicht annähernd so bedeutend wie das echte Exemplar eines Buchs der Bibel. Ich könnte noch nicht einmal andeutungsweise seinen Wert benennen.«
Meine anfängliche Erregnung legte sich, als ich das Ganze ein wenig nüchterner betrachtete. »Sicherlich haben Sie alle angenommen, dass auf der ganzen Welt über diese Sensation berichtet würde. Wie konnte Samuel nur darauf hereinfallen? Die Tafel kann unmöglich echt sein. Und Hal wurde deswegen ermordet.«
Tomas duckte sich, als träfen meine Worte ihn wie physische Schläge.
»Behauptungen dieser Art machen immer wieder die Runde«, setzte ich nach. »Erinnern Sie sich noch an die Meldung von der Kalksteinhöhle mit den Knochenfragmenten, die im vergangenen Jahr um die Welt ging? Angeblich sollte es ein Beinhaus sein, das die Knochen von Jakobus, des Bruders von Jesus Christus, enthielt. Experten sind sich heute ziemlich sicher, dass die Altersspuren an den Knochen künstlich erzeugt wurden. Aber es gibt immer irgendwelche Leute, die auf so etwas hereinfallen.«
»Sie haben es nicht gesehen und behaupten trotzdem, dass es sich um eine Fälschung handelt«, wehrte er sich. »Es ist doch möglich, dass ein hebräischer Schriftgelehrter in Assyrien lebte.«
»Ich weiß, aber das heißt noch lange nicht, dass dort auch ein Buch der Bibel geschrieben wurde.«
»Höchstwahrscheinlich war er ein gebildeter Schreiber, der für den assyrischen König arbeitete. Nahum heißt ›Tröster‹ und war möglicherweise nicht der richtige Name des Schreibers. Ursprünglich stammte er aus Juda, und obwohl der assyrische Staat in seinen letzten Zügen lag, wäre der Autor eines gegen Ninive gerichteten Textes wie des Buchs Nahum sicherlich mit dem Tode bestraft worden. Daher musste der Prophet seine Identität verschleiern. Ich kann Ihnen versichern, dass die Schrifttafel echt ist.«
Ich fasste das Gehörte zusammen. »Also, ein Sklavendienste leistender Schriftgelehrter verfasst eine Schmähschrift gegen eine seiner Meinung nach gottlose Stadt. Schön. Aber wenn die Schrifttafel zwischen den Trümmern der untergegangenen Stadt Ninive gefunden wurde, wie konnte sie dann in den Kanon des Tanach aufgenommen werden?«
Tomas ließ sich diese Frage für einige Sekunden durch den Kopf gehen. Ich erkannte, dass er sich nicht verraten und zu viel preisgeben wollte.
»In jener Zeit begann man, Papyrus zu benutzen. Irgendwie müssen Papyruskopien aus Assyrien herausgeschmuggelt worden sein.«
Damit könnte er recht haben. Ein Hebräer könnte gewaltsam in die assyrische Hauptstadt gebracht worden sein, und einige Kopien des Buchs könnten zurück nach Juda geschafft worden sein. »Es ist nur so, dass ich schon häufig erlebt habe, wie Leute sich von ihrer Begeisterung über einen vermeintlich wichtigen Fund haben überwältigen lassen, nur um nachher erfahren zu müssen, dass irgendein Schwindler das betreffende Objekt gefälscht hat. Auf diese Art und Weise sind sogar die bedeutendsten Museen getäuscht worden.«
»Aber nicht Samuel. Er hat alles sehr sorgfältig überprüft. Wir erfuhren dann von einem weiteren Versuch, die Tafel während der Plünderungen zu stehlen. Erst danach entschloss er sich, die Tafel hierher in Sicherheit zu bringen.«
Ich unterdrückte einen Fluch. Samuel war mehr und mehr von der Idee besessen gewesen, die Geschichte eines Landes vor dem Zugriff von skrupellosen Geschäftemachern zu schützen.
Tomas sah den Ausdruck in meinen Augen und nahm an, dass ich diesen Schritt missbilligte. »Wir hätten es ihm niemals ausreden können, wissen Sie. Wir haben es versucht. Irgendwie steckte eine gewisse Ironie in der Geschichte – die Plünderungen lieferten uns die Tarnung, um die Tafel unbemerkt wegzuschaffen. Ohne Samuel hätten wir es niemals über die Grenze geschafft.«
»Warum haben sie Ihren Fund nicht in Jordanien deponiert und das Ende des Krieges abgewartet?«
»Dort haben die Wände Ohren. Amerikanische Sammler machten ihren Einfluss geltend, so dass die amerikanische Regierung im Jahr 2002, also noch vor der Invasion, die Ausfuhrbestimmungen für irakische Antiquitäten lockerten. Sie erklärten, das irakische Ausfuhrverbot für Antiquitäten sei nicht hilfreich für den Schutz der Fundstücke.«
»Das wusste ich nicht.«
»Archäologen wandten sich dagegen in der Hoffnung, dass Tausende von archäologischen Ausgrabungsstätten geschützt würden, und man versicherte ihnen, dass nichts beschädigt würde. Eine absolute Farce. Gerüchte sprechen von umfangreichen Diebstählen und sogar dem Einsatz von leistungsfähigen Infrarot-Suchgeräten und Tiefenradar. Ehe der Krieg vorbei ist, dürfte alles Wichtige ausgegraben und abtransportiert sein.«
Ich konnte ihm ansehen, wie sehr ihn diese Vorstellung quälte. Seine Gefühle schienen echt und aufrichtig zu sein. »Hatte Samuel jemand bestimmten im Verdacht?«
»Einen amerikanischen Händler und dessen Geschäftspartner.«
Im Geiste ging ich die Liste der prominentesten Händler für Antiquitäten aus Mesopotamien durch. Viele waren es nicht und ich kannte so gut wie jeden. »Hat er Ihnen irgendeine Beschreibung gegeben? Irgendjemanden genannt, der es sein könnte?«
»Ich glaube, er hatte nicht mehr als eine Vermutung. Vielleicht wollte er auch niemanden ohne eindeutigen Beweis beschuldigen. Aber er erwähnte ein Büro in der 43. Straße West, ein oder zwei Straßen vom Hudson River entfernt. Er sagte, dass einige Objekte, die seiner Meinung nach aus dem Museum gestohlen worden waren, von Agenten in Bagdad an diese Adresse geschickt worden seien.«
»Das klingt vielversprechend. Wie lautet die Adresse?«
Tomas seufzte. »Es tut mir leid. Soweit ich mich erinnere, war das alles, was er dazu sagte, allerdings konnte er zwei Geschäftspartner des Händlers identifizieren, einen Mann und eine Frau. War Eris nicht der Name der Frau, die Sie bedrohte?«
»Ja«, antwortete ich und dachte an ihren Namen. Eris, die griechische Göttin der Zwietracht und des Streits. Der Name passte zu ihr.
»Das ist die Frau.« Tomas schnippte mit den Fingern. »Ihr vollständiger Name lautet Eris Haines. Sie hat früher in der Forschungsabteilung des Verteidigungsministeriums gearbeitet. Es ging um neue Waffensysteme und Forschungsaufträge im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit. Davor war sie als private Sicherheitsberaterin in Bosnien tätig.«
»Und der Mann?«
»George Shimsky. Er soll ein brillanter Chemiker sein. Er hatte wohl einen schweren Unfall. Sein Gesicht ist von furchtbaren Narben entstellt.«
Ich trank meinen Espresso. »Die beiden waren furchteinflößend. Möglicherweise gibt es eine Verbindung zwischen ihnen und einer Website mit dem Namen Alchemy Archives. Wissen Sie etwas darüber?«
»Ich kenne weder diese noch eine ähnliche Gruppe. Sie haben schon vorher mal von Alchemie gesprochen. Der Begriff leitet sich vom arabischen al-kimia ab. Ein Bereich der Chemie, den die Araber den westlichen Nationen zum Geschenk gemacht haben. Angeblich hat die Alchemie ihren Ursprung in Ägypten, aber man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass man die frühesten Quellen in Mesopotamien finden kann.«
»Warum sollte die Alchemie irgendetwas mit dem Buch Nahum zu tun haben?«, fragte ich abermals und war diesmal entschlossen, mich nicht ablenken zu lassen, sondern auf einer Antwort zu bestehen.
Er zuckte die Achseln. »Man findet in der Bibel zahlreiche Anspielungen und Hinweise in dieser Richtung. Samuel hätte Ihnen auf diese Frage vielleicht eine Antwort geben können. Aber wenn ja, dann hat er sie ins Grab mitgenommen.«
Er ließ diese Bemerkung für einen kurzen Moment im Raum stehen, ehe er das Thema wechselte. »Wenn ich richtig verstanden habe, wurden Sie in der Türkei geboren. Samuel erzählte, Sie seien erst drei Jahre alt gewesen, als Ihre Eltern bei einem Grubenunglück ums Leben kamen.«
Der plötzliche Themenwechsel war für mich der Beweis, dass Tomas mehr über die Bedeutung der Alchemie wusste, als er zugeben wollte. Zumal er sofort nachhakte. »Haben Sie denn niemals nach Ihren anderen Angehörigen gesucht?«
»Sie haben ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass sie an mir nicht interessiert sind. Warum also hätte ich das tun sollen?«
Eine leichte Rötung seines Halses verriet, dass er sich darüber im Klaren war, gegen die Regeln der Höflichkeit verstoßen zu haben, indem er jemandem, den er kaum kannte, derart persönliche Fragen stellte. »Sie hatten trotzdem großes Glück – sie hatten Samuel. Er hat nie geheiratet. Ich finde das sehr seltsam.«
»Er war verheiratet, vor sehr langer Zeit. Seine Frau starb, ehe er von meiner Existenz erfuhr. Das trug zu seinem Entschluss bei, mich unter seine Fittiche zu nehmen. Ihr Tod hatte bei ihm eine große Lücke hinterlassen und er hörte genau zum richtigen Zeitpunkt von mir.«
Die Luftfeuchtigkeit war derart angestiegen, dass man den Asphalt draußen regelrecht dampfen sehen konnte. Ich bestellte ein Glas mit Eiswürfeln und eine Flasche Lauquen, ein besonders wohlschmeckendes, frisches Brunnenwasser. Als ich Tomas davon anbot, lehnte er ab.
Die Hitze schien ihm nicht das Geringste auszumachen, obgleich ein Blick nach draußen, auf die Menschen, die unter der Hitze litten, mir bereits Unbehagen bereitete. Ich dachte über seine Enthüllung nach. Samuel hatte ein authentisches Buch der Bibel gefunden. Wenn das zutraf, war es eine Sensation. Aber einige wichtige Teile der Gesamtgeschichte wurden mir offenbar mit Absicht unterschlagen, und das beunruhigte mich.
»Wie dem auch sei, zurück zu Ihrer ursprünglichen Information. Samuel hatte Beziehungen zu den meisten bedeutenden Museen und damit eine ganze Reihe von Möglichkeiten, seinen Fund in sichere Verwahrung zu geben. Warum hat er die Schrifttafel ausgerechnet hierher gebracht? Ich glaube, Sie erzählen mir nicht die ganze Geschichte.«
Tomas atmete tief ein und ich gewahrte, wie ein Ausdruck der Besorgnis über seine Miene huschte.
»Steckt etwa noch mehr dahinter?«
Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Dazu darf ich mich nicht äußern.«
»Sie trauen mir nicht?«
Er wich meinem Blick aus. »Sie haben gesehen, was passieren kann. Es ist für Ihre Sicherheit zuträglicher, wenn Sie gar nichts wissen, solange die Gefahr nicht vorüber ist. Wahrscheinlich hat Samuel Sie aus diesem Grund nicht selbst informiert.«
Meine Geduld ging allmählich zu Ende. »Sie brauchen mich, um das Artefakt zu finden. Also erzählen Sie mir gefälligst alles, oder ich steige aus und lasse Sie hier sitzen.«
Eine Minute verstrich, in der er mit sich rang, was er mir offenbaren sollte. »Samuel glaubte, dass der Text eine verborgene Nachricht enthält.«
»Sprechen Sie von einer Art Code, den Nahum benutzt hat?«
»Nicht ganz. Ich meine keine Chiffre. Es hat etwas damit zu tun, wie er dieses Buch schrieb. Ich denke eher an Zeichen und Hinweise für seine Verbündeten, die er im Text versteckte.«
Er sah den Unglauben in meiner Miene. »Es ist durchaus möglich. Sicherlich haben Sie von der Kupferrolle gehört, die sie in Kirbet Qumran bei den Qumran-Rollen gefunden haben. Dort wird eine Reihe von Orten in Israel aufgezählt. Allesamt Verstecke für Gold und Silber.«
»Diese Texte wurden einige Jahrhunderte nach Nahum geschrieben. Es gab keine verborgenen Botschaften. Die Orte wurden genau beschrieben; unsere modernen Übersetzer können die Texte nur nicht verstehen. Glauben Sie nicht, dass irgendwelche versteckten Botschaften in Nahums Prophezeiung, sofern sie wirklich existieren sollten, im Laufe der Jahrhunderte längst entschlüsselt worden wären?«
»Nein.« Tomas’ Stimme war kaum zu hören, und ich spürte, dass wir endlich zum Kern der ganzen Angelegenheit vordrangen.
»Und warum nicht?«
»Weil der Text auf der Schrifttafel sich von der ältesten Version des Tanach, die wir besitzen, deutlich unterscheidet.«
Tomas’ Stimme war zu seinem Flüstern herabgesunken und seine dunklen Augen fixierten mich. »Sie müssen zugeben, dass ich sehr offen zu Ihnen war, John Madison. Jetzt sind Sie an der Reihe. Wenn Sie irgendeinen Hinweis haben, dann will ich ihn hören.«
»Noch gibt es nichts Konkretes. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, irgendeine Spur zu verfolgen.«
»Ich erwarte, dass Sie mich auf dem Laufenden halten. Es geht um das Eigentum meines Vaterlandes.«
»Es wird auf den vorgeschriebenen Wegen in den Irak zurückkehren.«
Tomas hatte zunehmend Mühe, sich im Zaum zu halten. »Meine Erfahrung mit wertvollen Antiquitäten ist die, dass Dinge sogar auf den, wie Sie es nennen, vorgeschriebenen Wegen verloren gehen können. Eine Originalausgabe der Bibel? Das wäre etwas, das man sich nicht so einfach entgehen lässt, vor allem wenn es keinen Hinweis darauf gibt, woher sie kommt. Samuel hat mir vertraut. Sie sollten es ebenfalls tun.«
Äußerte er etwa den Verdacht, ich wolle die Schrifttafel selbst an den Mann bringen, um sich praktisch im gleichen Atemzug auf meinen Bruder zu berufen? So ein Mistkerl. Ich hatte ganz sicher nicht vor, ihm das Ding einfach auszuhändigen. »Wir reden hier über ungelegte Eier«, sagte ich eisig. »Warten wir ab, ob ich die Tafel überhaupt aufstöbern kann.«
Wir hatten uns festgefahren. Keiner von uns hatte die Absicht, freiwillig mit weiteren Informationen herauszurücken. Er schaute auf die Uhr, sagte, dass er jetzt gehen müsse, und bückte sich nach seinem Rucksack. Er kritzelte eine Telefonnummer auf seine Visitenkarte und stand auf. »Sie können mich unter dieser Nummer anrufen. Die Rechnung hier ist bezahlt. Und wie kann ich Sie erreichen?«
Ich gab ihm meine E-Mail-Adresse und meine Telefonnummer. Nachdem er hinausgegangen war, wartete ich noch einige Zeit, ehe ich ihm folgte. Als ich in die 2. Avenue einbog, sah ich, wie er sich zu einem Pkw hinunterbeugte, den Arm ins Fenster auf der Fahrerseite stützte und sich mit dem Insassen, den ich nicht erkennen konnte, unterhielt. Dann ging er zur Beifahrerseite des Wagens und stieg ein. Der Fahrer fädelte sich in den Verkehr ein und entfernte sich. Ich setzte meinen Weg fort und wusste, dass er mir nur einen Teil der Wahrheit offenbart hatte. Aber ich war entschlossen, die vollständige Geschichte zutage zu fördern.