Sechsundzwanzig
Der Wagen rollte in eine ziemlich große Tiefgarage, die, wie ich annahm, zu dem Gebäude in der 34. Straße West gehörte. Wir stoppten vor einer Laderampe. Eris und der Spaßvogel schleiften mich unsanft durch das Halbdunkel und ein paar Treppenstufen zu einer Stahltür hinauf.
Auf den ersten Blick erinnerte mich der Raum, den wir betraten, an eine Leichenhalle, allerdings eine stinkvornehme, speziell für Reiche hergerichtete. Dicke, hellbeige Auslegeware bedeckte jeden Quadratzentimeter Fußboden. Eine hohe, silberne Vase stand auf einer Anrichte im Queen-Anne-Stil. Sie war derart auf Hochglanz poliert, dass die Vase sich darin perfekt widerspiegelte. Rund um ihren Fuß waren die fünf alten Planetensymbole eingraviert, die ich zuerst auf der Website der Alchemy Archives gesehen hatte: Jupiter, Venus, Mars, Saturn und Merkur. Ein süßlicher Duft lag in der Luft, als ob jemand versucht hätte, einen unangenehmen Geruch mit einem billigen Blumenduftspray zu kaschieren. In dem Raum herrschte eine bedrückende Atmosphäre, die einem fast die Kehle zuschnürte, ähnlich wie im Wartezimmer einer Notaufnahmestation oder neben einem Grab.
»Setzen Sie sich dorthin.« Eris deutete auf zwei Polstersessel.
Ich schaute mich in dem Raum um, suchte nach einer Fluchtmöglichkeit und hörte plötzlich hinter mir eine Stimme.
»Ich denke, diesmal wird unsere Unterhaltung ein wenig ehrlicher sein.«
Als ich mich umwandte, stand Jacob Ward nur ein paar Schritte von mir entfernt. Meine erste Überraschung ließ schnell nach. Dort war, ohne Zweifel, Jupiter. Nach meiner Vorstellung konnte er nichts anderes sein als die Nummer eins. Meine Gedanken rasten. Jacob Ward war Tomas’ Kontaktmann. War diese ganze Geschichte von Anfang bis Ende inszeniert worden? Ward hatte ein ausgeprägtes Interesse für die infrage stehende Periode und sicherlich auch genug Geld, um das Artefakt zu kaufen. Aber wenn er und Tomas im Besitz von Nahums Schrifttafel waren, warum setzte Ward mich dann jetzt unter Druck?
»Eines muss ich Ihnen lassen, Ward. Sie haben wirklich schauspielerisches Talent. Wie haben Sie es geschafft zu verschleiern, dass Sie im Grunde nichts Besseres sind als irgendein mieser Killer in Rikers?«
Er errötete leicht und wischte sich mit einer Hand übers Kinn, als hätte ich ihm soeben ins Gesicht gespuckt.
»Wo ist Laurel? Bringen Sie mich sofort zu ihr.«
So wie er gekleidet war, schwarzer Maßanzug, weißes Oberhemd, dezente Krawatte, sah er aus wie ein Bestattungsunternehmer. Ich bemerkte ein leichtes Zucken, das einzige Zeichen für die Anspannung, unter der er offensichtlich stand.
»Ich habe Ihre Gesellschaft in meinem Heim durchaus genossen, John. Daher sollten wir heute jeden falschen Zungenschlag vermeiden.« Er kam ein paar Schritte näher und klopfte mir in einer Weise auf die Schulter, wie ein Onkel es bei seinem Lieblingsneffen tun würde.
Ich wich vor seiner fleischigen Hand zurück; in diesem Moment hatte ich wirklich keinen Sinn für seine verlogene Demonstration von Höflichkeit. »Sie haben mir noch immer keine Antwort gegeben. Ich sagte, dass ich sie sehen will.«
»Und wenn wir uns weigern? Kommen Sie dann mit donnernden Colts angeritten?« Er lachte. »Madison, betrachten Sie das Ganze als einen Hundekampf. Wir sind die Rottweiler und Sie sind der Pudel – und zwar einer von den kleinen, ein Zwergpudel. Das ist kein echter Wettstreit. Suchen wir uns einen ruhigen Platz, wo wir reden können. Hier werden wir ständig gestört.«
Meiner Wut Ausdruck zu verleihen, sorgte sicherlich dafür, dass ich mich besser fühlte, aber Laurel würde es nicht im Mindesten helfen. Ich käme sicherlich weiter, wenn ich mitspielte und nach einer Lücke Ausschau hielt, die ich für mich ausnutzen konnte. Wir gingen durch den Flur und betraten einen Fahrstuhl. Der Spaßvogel ging voraus und ließ Eris als Nachhut zurück. Ward drückte auf den Knopf für den fünften Stock und wir gelangten in einen Raum mit den Ausmaßen eines Saals. Vom Fußboden bis zur Decke war er sicherlich um die zwei Stockwerke hoch. Der Saal war riesig, besaß einen runden Grundriss und keine Fenster. Ich vermutete, dass die Fenster, die ich von außen gesehen hatte, hermetisch verschlossen worden waren. Die Wände waren weiß, seidig schimmernd tapeziert. Die Decke, eine leicht gewölbte Kuppel, trug in der Mitte ein Oberlicht in einem bronzenen Rahmen. Ich konnte über mir einen ellipsenförmigen Ausschnitt des Himmels erkennen, aber das meiste Licht strömte indirekt in den Raum und kam von Lampen, die hinter einem Sims versteckt waren. In dem Raum herrschte eine kalte Atmosphäre, als gehörte er zu einer fremden Welt. Kreisförmig angeordnet waren eine Reihe Kästen mit Glasfronten, deren Krümmung auf die runde Außenwand dieses Saales abgestimmt war.
Ward machte mit dem Arm eine weit ausholende Geste. »Unsere Galerie«, sagte er.
Weiße Plastikmonitore, jeder mit einer Reihe blinkender grüner Lichter ausgestattet, waren an den Kästen befestigt. Fast zwei Drittel enthielten Artefakte und der Rest Bücher und Manuskripte. Ich schätzte, dass nicht alle einwandfreier legaler Herkunft waren. Einige stammten sicherlich aus Plünderungen, während es sich bei anderen wahrscheinlich um Fälschungen handelte. Ich glaubte, eine aus dem Nationalmuseum gestohlene Statue erkennen zu können. Mit einem einzigen Telefonanruf könnte ich wahrscheinlich dazu beitragen, dass das FBI imstande war, eine ganze Reihe ungelöster Fälle zu den Akten zu legen.
»Das Glas ist bruchsicher«, sagte Ward. »Man könnte hier drin eine Granate zünden und es würde nicht bersten. Der gesamte Saal ist gegen ultraviolettes Licht abgeschirmt. Die einzelnen Vitrinen verfügen sogar über eine eigene Belüftung, damit Luftfeuchtigkeit und Temperatur stets auf einem konstanten Niveau bleiben. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist das Erdreich im Irak besonders salzhaltig. Wenn tönerne Gegenstände aus dieser Erde geholt werden, dann trocknen sie sehr schnell aus, bekommen Risse und zerfallen schließlich. Ich nehme mir jeden Tag die Zeit, um hierherzukommen. Man kann es spüren, wissen Sie, wie die alten Handwerker und Künstler durch das Glas zu einem sprechen.«
Die Seiten vieler Bücher und Manuskripte waren dünn wie Pergament und bräunlich verfärbt, teilweise nahezu durchsichtig und so brüchig wie Greisenhaut. Sie lagen auf kleinen hölzernen Podesten oder Gestellen, die aussahen wie miniaturisierte Lesepulte. Ich drückte mit der Hand gegen eine Glaswand, um sie aufzuschieben, doch sie war natürlich verriegelt.
»Die Artefakte können käuflich erworben werden, aber diese Abteilung beherbergt meine eigene Sammlung. Einige dieser Stücke sind wirklich sehr selten. Ich kann für Sie eines herausholen, wenn Sie möchten.« Ward deutete auf einen in Leder gebundenen Folianten mit Schließen, wie ich sie beim Picatrix gesehen hatte. »Das ist das Secretum Secretorum, das Geheimste des Geheimen. Es stammt aus dem zwölften Jahrhundert.«
Er deutete nach rechts. »Das Münchener Handbuch der dämonischen Magie, ein deutsches Buch über verbotene Rituale. Es ist in Latein geschrieben. Das Buch daneben ist ein Werk über Astrologie des Russen Wladimir Apriagnev. Und hier sehen Sie meinen ganzen Stolz – ein französisches Werk, Le Mystère des Cathédrales. Der Autor verschwand im Jahr 1953; niemand weiß, was mit ihm geschehen ist. Einige glauben, dass er den Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden hat.« Ward tippte gegen das Glas vor dem Buch. »Nur dreihundert Exemplare wurden davon gedruckt. Erheblich weniger sind jetzt noch im Umlauf.«
»Glauben Sie wirklich an all diese absurden Ammenmärchen? Unsterblichkeit? Alchemie?«
Ward lief rot an. »Dann erklären Sie doch mal, warum Heinrich Himmler das alles ernst genommen hat. Er hatte die Absicht, die Nationalsozialistische Partei mit Alchemistengold zu finanzieren.«
»Sie erwarten, dass die Schrifttafel Sie, ja wozu, zu irgendeiner Formel zur Goldherstellung führt?«
Eris, die ungewöhnlich still geblieben war, ergriff das Wort. »Wir brauchen uns vor Ihnen nicht zu rechtfertigen, Madison.«
Ich entschied in diesem Moment, ihren Ballon platzen zu lassen. »Nein, das brauchen Sie wirklich nicht. Aber Sie sind absolut nicht mehr auf dem Laufenden. Vanderlins Rätsel wurde gelöst, und Tomas Zakar hat jetzt die Schrifttafel.«
Es war ein kühner Schritt zu behaupten, dass Tomas jetzt die Tafel besaß, aber ich löste die Reaktion aus, die ich mir erhofft hatte. Diese Neuigkeit war ein Schock für sie. Vor allem für Ward. Seine Unfähigkeit, sein Entsetzen zu verbergen, verriet mir, wie tief diese Information ihn getroffen hatte. Er rieb sich die Wange, als hätte ihn dort eine Wespe gestochen. Als er wieder redete, klang seine Stimme brüchig und schwach. »Wo ist er?«
Ich sah ihn an und versuchte zu lächeln. »Ich weiß das genauso wenig wie Sie. Irgendwo über dem Atlantik, nehme ich an. Er hat Laurel und mich einfach hängen gelassen. Sie haben Ihre Zeit vergeudet, indem Sie uns hierhergeschafft haben.«
»Glauben Sie bloß eines nicht, Madison, nämlich dass meine umgängliche Art Ihnen gegenüber irgendetwas zu bedeuten hat.« Ward deutete mit einem Kopfnicken auf Eris. »Laurel hat bereits eine Kostprobe von Eris’ ganz speziellen Talenten erhalten. Sie ist ziemlich gut darin, Leuten ihre Geheimnisse zu entlocken.«
»Richtig. Wie zum Beispiel bei Hal. Das hat sie wohl vermasselt.«
»Er hat versucht, uns auszutricksen«, verteidigte Eris sich.
Ich kaschierte meine Überraschung. Allmählich setzte sich das Bild zusammen. Laurel hatte recht gehabt. Hal hatte tatsächlich zu ihrer Gruppe gehört und musste am Ende dafür genauso zahlen wie Hanna Jaffrey. Mein Gott, Hal. In was hast du dich verstrickt?
»Er war bereit, das Stück zu verkaufen. Sie brauchten ihn nicht zu töten.«
»Er wollte sechs Millionen. Viel zu viel. Ich habe all dies nicht erreicht, indem ich mich verhalten habe wie ein Narr«, sagte Ward.
»Die Schrifttafel ist noch um einiges mehr wert.«
»Zweifellos, aber ich bin nun mal gerne derjenige, der die größten Profite macht.«
Ich spürte einen Anflug von Furcht. Aber man ist niemals ein guter Verkäufer, wenn man sein Gegenüber nicht richtig beurteilen kann, und irgendetwas sagte mir, dass hinter seinen Drohungen auch eine Menge Bluff steckte. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat. Sie würden ihre Zeit erheblich besser nutzen, wenn Sie versuchten, Tomas aufzustöbern, und mich und Laurel gehen lassen. Uns zu bedrohen, wird Sie keinen Deut weiterbringen.«
Er nahm eine Angriffshaltung ein, und das falsche Lächeln war in seinem Gesicht wie weggewischt. »Ich vermute, der Nachmittag, den Sie in meinem Haus verbrachten, hat Ihnen einen völlig falschen Eindruck vermittelt. Dieses nette Beisammensein sollte mir die Möglichkeit geben, Sie einzuschätzen. Sie können sich Ihre Freiheit nur damit erkaufen, indem Sie uns verraten, wo Tomas sich aufhält.«
Ich wich vor ihm zurück. Das erzeugte in der Magengegend, wo der Taser mich getroffen hatte, heftige Schmerzen.
»Tomas hat mich getäuscht. Ich denke, er will in den Irak, aber ich bin mir nicht sicher.«
Eris musterte mich mit kalten Augen. »Wie soll er denn das Land verlassen haben? Er hat kein Flugticket gekauft.«
»Als er seinerzeit herkam, landete er auf einem Privatflugplatz in den USA und hat jetzt dem Land wahrscheinlich auf dem gleichen Weg Adieu gesagt.« Ich war immer noch wütend auf die Art und Weise, wie die Zakars mich hinters Licht geführt hatten, und wollte ihnen so viele Steine wie möglich in den Weg legen. Ward musterte mich einige Sekunden lang und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob ich die Wahrheit sagte.
»Ich dachte, Sie hätten jeden Beteiligten ständig unter Beobachtung. Wie konnten er und Ari Ihnen durch die Finger schlüpfen?«
»Wir haben Ihnen so viel Spielraum wie möglich gelassen, um erfolgreich nach der Schrifttafel zu suchen. Wir haben keine unbegrenzten Mittel, also mussten wir uns vorwiegend auf Sie konzentrieren. Wir wussten, dass Ari alleine nach London fliegen würde, und Tomas haben wir ganz einfach aus den Augen verloren.«
»O Mann, seid ihr ein dämlicher Verein.«
Ward bewegte sich für jemanden seiner Gewichtsklasse erstaunlich schnell. Sein Rückhandschlag riss meinen Kopf herum.
Der Raum schwankte. Mein Gehirn fühlte sich an, als hüpfte es unkontrolliert im Schädel herum. Ich musste warten, bis das Klingeln in meinen Ohren nachließ und ich hören konnte, was er als Nächstes sagte.
»Wir müssen allmählich zum Ende kommen. Erzählen Sie mir, wo Tomas die Tafel versteckt hat.«
»Nicht, bevor ich und Laurel freigelassen wurden.«
»Ich glaube, so läuft das nicht«, erwiderte er. Sie brachten mich zurück zum Fahrstuhl. Wir fuhren in den Keller hinunter. Er und Eris nahmen mich zwischen sich und marschierten mit mir durch einen Flur. Schließlich blieben wir vor einem Durchgang zu einem kleinen Raum stehen. »Bis zu diesem Moment haben wir Ihre Spielchen mitgemacht. Wir hatten nicht die Absicht, Ihnen irgendeinen Schaden zuzufügen, zumindest keinen nicht wiedergutzumachenden. Sie hatten Ihre Chance. Damit ist es jetzt vorbei.«
Sie stießen mich hinein. Der Raum hatte einen Kachelboden und gekachelte Wände, keine Fenster und ähnelte dem Raum aus dem Video mit Laurel. Licht kam nur von einer Glühbirne hoch oben in einer Ecke. Das Einzige, was an diesem Raum auffiel, war eine Nische in der hinteren Wand. Sie hatte oben eine Wölbung, war an ihrer höchsten Stelle etwa zweieinhalb Meter hoch und durchweg einen Meter zwanzig breit. Sie sah aus, als sei sie für eine lebensgroße Statue maßgeschneidert worden. Darin stand Shim, wuchtig und schweigend. Meine ganz persönliche Abrissbirne.
Die Tür schlug mit einem lauten metallischen Krachen von Stahl auf Beton zu. Ich wich zu der Wand zurück, die von dem Zyklopen am weitesten entfernt war. Er bewegte keinen Muskel. Er starrte mich nur an. Im Raum herrschte Totenstille, abgesehen vom Presslufthämmern meines eigenen Pulsschlags. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so standen, aber wir behielten unsere Positionen bei, keiner willens, den ersten Schritt zu tun, wie Figuren auf einem Schachbrett.
Sie hatten mir mein Telefon und meine Brieftasche abgenommen, und ohne Uhr oder Fenster, um wenigstens das verblassende Licht der untergehenden Sonne beobachten zu können, verlor ich schnell jedes Zeitgefühl. Ein paar Stunden konnten verstrichen sein oder auch der größte Teil eines Tages. Ich konzentrierte mich auf den Kachelboden, zählte die Quadrate und hoffte, die Angst zu verdrängen, die mein Bewusstsein zu lähmen drohte. Ich bemerkte, dass der Boden sauber war, fast schon zu sauber für einen Fußboden in einem Keller, und es roch in dem Raum nach Bleichmitteln. In den Fugen zwischen den Kacheln konnte ich vereinzelte Flecken erkennen.
Irgendwann gaukelte mir mein Geist vor, der Riese in seiner Nische sei ebenfalls aus Stein gehauen. Shim konnte völlig reglos dastehen. Wenn von ihm keine Aktion verlangt wurde, schaltete sich sein Geist einfach ab, als wäre er eine riesige Aufziehpuppe. Sein heiles Auge starrte mich ohne zu blinzeln an wie ein riesiger prähistorischer Raubvogel. Ich merkte, wie ich einzudösen drohte und an der Wand, an der ich lehnte, hinabzurutschen begann, als mich ein Adrenalinstoß wachrüttelte und mein Blick zu Shim wanderte, der nach wie vor völlig starr in seiner Nische stand und keinen Laut von sich gab.
Ich fragte mich, wie er wohl vor der Explosion in seinem Labor gewesen war. Ein junges Genie, das kaum erwarten konnte, seinen Platz in dieser Welt zu finden und ihr seinen Stempel aufzudrücken. Vielleicht war er gar kein so übler Kerl gewesen. Er musste noch immer so etwas wie Gefühle bewahrt haben. Das erkannte ich an seiner bedingungslosen Anhänglichkeit gegenüber Ward und Eris.
Ab und zu hörte ich draußen gedämpfte Geräusche: Schritte, die im Korridor widerhallten, zwei Männer bei einem Gespräch, ein Räuspern. Gespenstisch, solche normalen Geräusche und Laute zu hören, während ich in dieser Zelle gefangen war. Was gewannen sie damit, wenn sie mein Elend weiter in die Länge zogen? Wollten sie mich auf irgendeine Weise zu einem Zusammenbruch treiben, ehe sie jede noch so unwichtige Information aus mir herausholten?
Ich nahm wahr, wie ein Schlüssel im Türschloss gedreht wurde. Shim war mit einem einzigen riesigen Schritt bei mir, drückte mich gegen die Wand und drehte mir die Arme auf den Rücken. Meine Schulter stieß einen stummen Schmerzensschrei aus und mir traten Tränen in die Augen. Ich versuchte mich innerlich für die Folter zu wappnen, die jetzt unweigerlich beginnen würde. Ich war jung und in einigermaßen guter Form. Also würden sie wohl einige Zeit brauchen, bis ich endgültig zusammenbrach.
Die Tür schlug gegen die Wand, als Jacob Ward hereinkam. »Fangen wir an. Sie hatten jetzt genug Zeit, über Ihre Lage nachzudenken. Rücken Sie endlich damit heraus, wohin Tomas verschwunden ist.«
»Zuerst will ich Laurel sehen.«
»Ich dachte, diesen Punkt hätten wir geklärt.«
»Nicht zu meiner Zufriedenheit.«
Ein betäubender Schmerz jagte durch meinen Arm, als Shim ihn hochriss. Ward bedeutete ihm mit einer Geste innezuhalten. »Ich will Ihnen meinen guten Willen beweisen«, sagte er. Er gab Shim ein Zeichen. Die beiden brachten mich aus dem Raum und durch einen Kellerflur in einen ähnlichen Raum, allerdings war dieser mit einem einfachen Bett und einem einzelnen Stuhl möbliert.
Laurel lag auf dem Bett. Eris erhob sich von dem Stuhl neben dem Bett, als ich den Raum betrat.
Ich rannte zu Laurel, die bäuchlings im Bett lag und sich nicht rührte.
»Laurel«, flehte ich, »ich bin’s, John.«
Sie bewegte sich und drehte sich auf die Seite. Ich legte einen Arm um ihre Schultern und half ihr, sich aufzurichten. Sie ließ sich gegen meine Seite sinken, so dass ich sie mit meinem Oberkörper stützte. Ihre Augen waren trübe. Sie blinzelte und starrte mich an, als könnte sie nicht glauben, dass ich tatsächlich bei ihr war. Ich fasste nach ihrer Hand. Sie war kalt und schweißnass. »Bist du es wirklich?«, fragte sie. »Wie bist du hierhergekommen?«
»Sie haben mich hergebracht. Ich wollte nicht mit ihnen reden, ohne dich vorher gesehen zu haben.«
Sie entzog sich mir. »Fass mich nicht an.«
Mir fiel zu spät ein, dass man ihr die Hände gefesselt hatte. »Deine Handgelenke müssen noch ganz wund sein.«
Als sie mich ansah, konnte ich erkennen, wie zornig sie war. »Was hast du denn geglaubt, würdest du damit bewirken, wenn du mich siehst? Du hast mir jetzt alles genommen. Zu wissen, dass du irgendwo da draußen bist, hat mir ein wenig Hoffnung gegeben. Ich wünschte, ich hätte dir niemals die Tür geöffnet bei jenem ersten Mal, als du zu mir kamst, voller Mitgefühl. So besorgt. Um mich wegen Hal zu trösten. Mir zu schwören, dass du mich beschützen willst. Ich kann es nicht einmal ertragen, dich anzusehen.«
Ich wollte ihr erklären, dass sie sich irrte, dass Eris sie wahrscheinlich schon längst getötet hätte, wenn ich nicht so bemüht gewesen wäre, das zu verhindern. Aber sie war nicht in der geistigen Verfassung, zuzuhören und zu verstehen. Hatte ich mich nicht außerdem schon selbst verflucht, weil ich offensichtlich jedem Unglück brachte, um den ich mich glaubte kümmern zu müssen?
Ich stand auf und suchte nach einem letzten Wort, um ihr ein wenig Mut zu machen. »Versuch, bei Kräften zu bleiben, Laurie. Ich werde schon einen Weg finden, um uns hier herauszuholen. Alles, was sie wollen, ist die Schrifttafel.« Ich wollte ihr nicht noch zusätzlich Angst machen, indem ich ihr erzählte, dass Tomas dafür gesorgt hatte, dass wir sie niemals in die Hände kriegen würden.
Sie erschauerte heftig. Und sie hatte noch eine letzte bittere Bemerkung für mich. »Mach dir nichts vor. Wir werden einander nie wiedersehen. Aber das ist eigentlich ein Segen.«
»Sie braucht medizinische Hilfe«, sagte ich zu Eris. »Sie müssen sie freilassen.«
»Ärzte sind hier dünn gesät«, erwiderte Eris. »Es wird Zeit zu gehen.«
Ward und der Spaßvogel warteten draußen vor Laurels behelfsmäßiger Gefängniszelle. »Jetzt sind Sie an der Reihe, Ihren Teil unserer Abmachung einzuhalten. Wo ist Tomas?«
So leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben. »Eines müssen Sie mir vorher noch verraten. Es war Eris, die Laurel geholt hat, nicht wahr? Ich nehme an, Laurel wurde betäubt, oder?«
Ward nickte.
»Demnach weiß Sie gar nicht, wo sich dieser Ort hier befindet.«
»Richtig«, erwiderte Ward.
Ich kochte vor Wut, aber ich hielt mich wegen Laurel im Zaum. »Außerdem vermute ich, dass sie Sie gar nicht kennt. Wahrscheinlich ist Eris die einzige Person, die sie hier gesehen hat.«
Eris schnaubte ungehalten. »Vergessen Sie es, Madison. Ist schon klar, worauf Sie hinauswollen.«
»Wir lassen sie nicht laufen«, sagte Ward in einem gleichgültigen Tonfall, mit dem er auch eine Pizza hätte bestellen können. »Zumindest nicht jetzt. Aber ich glaube, ich kenne Ihre Überlegungen, und Sie haben recht. Sie wird der Polizei so gut wie nichts erzählen können, wenn wir sie freilassen. Das sollte sie ein wenig zuversichtlich stimmen. Sie haben demnach die Wahl zwischen Himmel und Hölle. Es ist immer gut, die Dinge so einfach zu halten. Kooperieren Sie mit uns, und sie kommt frei; tun Sie es nicht, wird sie sterben.«
Ich musste zugeben, dass ich mein Pulver verschossen hatte. Meine einzige Option war, auf eine neue Gelegenheit zu warten. »Er ist in Bagdad – ich habe die Adresse.« Ich suchte in meiner Hosentasche nach dem zerknüllten Notizzettel, auf dem ich die Adresse notiert hatte, die mir in Tomas’ Zimmer in die Hände gefallen war, und gab ihn Ward. Er warf einen Blick darauf und reichte ihn an Eris weiter. »Überprüf das«, sagte er.
Sobald Ward sicher war, dass ich alles, was ich wusste, preisgegeben hatte, brachten sie mich zu Shim zurück. Ungefähr eine Stunde später erschienen Ward und Eris und trieben mich durch den Korridor, wobei der Narrenkostüm-Mann, den sie als Helfer mitgebracht hatten, meinen Kopf nach unten drückte, so dass ich nur Wards breiten Rücken im schwarzen Anzugjackett sehen konnte. »Wohin geht es jetzt?«, wollte ich von ihm wissen.
»Nach Babylon«, sagte er. »Sie Glückspilz.«