Nur zwei Quadrate mussten diesmal ausgefüllt werden. Ich versuchte es mit den nächstliegenden Buchstaben, den Initialen Albrecht Dürers, A und D, und dann mit den Zahlen für ihre jeweilige Position im Alphabet, eins und vier, doch nichts davon passte.

»Hat Hal irgendwann mal eine Bemerkung gemacht, was ihn in diesem Bild besonders ansprach?«

»Ich weiß nicht. Er hatte eine Vorliebe für Dürer und M. C. Escher, weil sie sich in der Mathematik des Raums und der Beziehung zwischen Zahlen und visueller Kunst auskannten.« Sie überlegte einige Sekunden lang. »Nein, mir fällt nichts ein, was ihm daran besonders gefallen hätte.«

»Was hatte er wirklich im Sinn?« Ich war verzweifelt. »Ich habe nicht die Zeit, mich lange damit herumzuschlagen. Wollte er mit mir bloß irgendein Spielchen treiben?«

»So wie ich Hal kenne, dürfte da noch mehr sein. Er hat sich diese Rätsel nicht so einfach ausgedacht. Sie haben irgendeine tiefere Bedeutung, eine gemeinsame Thematik. Wie bist du vom ersten Rätsel auf dies hier gekommen?«

Ich wich ihrer Frage aus. »Du traust ihm viel zu viel zu. Hal war im Grunde nicht besser als ein gemeiner Dieb. Dank ihm ist mein Leben zurzeit die reinste Hölle.«

Laurel reagierte ungehalten. »Und das ganze Geld, das du mit dem Verkauf der Sammlung seines Vaters verdienst hast, vergisst du tunlichst.«

Ihre spitze Bemerkung traf mich völlig unvorbereitet. »Ich habe nicht mehr als zwanzig Prozent bekommen. Das ist weniger, als die meisten Händler verlangen. Und dann habe ich noch immer einen Teil der Summe von ihm zu kriegen, die ich ihm geliehen habe.«

»Du jammerst ständig, dass die Welt dich schlecht behandelt. Das ist dein großes Problem, John. Von Samuel und Hal und jedem, der dir Gutes tut, nimmst du, was du kriegen kannst. Und wenn das aufhört, beklagst du dich.«

Ich stand kurz davor, laut und heftig zu widersprechen, als mir einfiel, dass Laurel als seine Ehefrau seinen gesamten Besitz geerbt hätte. Da Peters Sammlung verkauft und der Grundbesitz hoch belastet war, blieb nichts für sie übrig. Mit dem Verdienst eines Teilzeitjobs als Lehrerin und einem Stipendium kam man in dieser Stadt nicht sehr weit.

Sie fuhr zu mir herum und funkelte mich an. »Warum tust du das überhaupt? Wegen des Geldes, nicht wahr? Du sagtest, das Ding sei sehr wertvoll.«

»Es geht nicht um Geld. Ich will, dass diese Leute mich in Ruhe lassen. Und dich auch. Ich muss das Stück finden. Und wenn ich es gefunden habe, mache ich eine Riesenschau daraus, es dem FBI zu übergeben. Das ist die einzige Möglichkeit, uns vor diesen Leuten zu schützen.«

»Irgendjemand wird es sicherlich aufstöbern. Sollen die sich damit herumschlagen.«

»Das kann ich nicht zulassen. Eris hat mich gestern angegriffen. Sie ist überzeugt, dass ich weiß, wo die Schrifttafel versteckt ist. Sie will mir ans Leder.«

Das versetzte ihr einen gelinden Schock. »Dann informiere die Polizei – die kann sich darum kümmern.«

»Soll das ein Witz sein? Nachdem dieser Detective mich in die Mangel genommen hat? Er wird nicht ein Wort von dem glauben, was ich ihm erzähle.«

Laurel ließ sich auf das Sofa fallen, stützte den Kopf in die Hände und zog die Beine hoch. Ich setzte mich neben sie. »Laurie, du machst im Augenblick eine schwierige Zeit durch. Das weiß ich.«

»Wie soll ich die Vorbereitungen für eine Beerdigung treffen, John? Die Polizei hat einige Dinge geschickt, die sie bei Hal gefunden hat und bei ihren weiteren Ermittlungen nicht braucht. Ich bringe es nicht über mich, die Sachen auch nur anzusehen. Sie wollen mir noch nicht einmal mitteilen, wann sie gedenken, seine sterbliche Hülle freizugeben.« Tränen glitzerten in ihren Augen.

»Hör mir zu. Du musst für eine Weile hier raus. Gibt es niemanden, bei dem du unterkommen kannst? Was ist mit deinen Eltern? Wo wohnen sie?«

»In Nord-Dakota. Sie haben in der Nähe von Bismarck eine Geflügelfarm. Aber das ist kein geeigneter Zufluchtsort. Ich bin dort nicht willkommen. Man könnte sagen, es liegt an unseren sehr unterschiedlichen Lebensstilen.«

»Es wäre aber ein sicherer Ort, zumindest für die nächsten paar Tage. Du wärest dort in Sicherheit.«

Ihr Gesichtsausdruck verriet mir unmissverständlich, was sie von dieser Idee hielt. »Klar, ich komme nach Hause und spiele die reumütige Tochter. Meine Mutter hatte ständig an Hal etwas auszusetzen. Ich musste ihn anbetteln, wenigstens einmal mitzukommen, um meine Eltern kennenzulernen. Die Mühe hätte ich mir sparen können, denn sie konnte ihn sowieso nicht leiden. ›Zu überkandidelt‹, meinte sie immer über ihn.

Außerdem wollte sie nicht, dass ich nach New York gehe. Ich kann sie immer noch hören: ›Wir haben in unserem eigenen Staat eine ordentliche Universität, warum reicht sie dir nicht aus?‹ Sie hatte eine ziemlich lahme Ausrede, weshalb sie nicht zur Hochzeit gekommen ist. Und als die Ehe scheiterte, weißt du, wie Mammis Kommentar lautete? ›Nun, Loretta, endlich ist er aus deinem leben verschwunden.‹ Dabei lachte sie tatsächlich. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie auf Hals Tod reagieren wird.«

»Dann wirst du wohl mit meiner Gesellschaft vorliebnehmen müssen, bis wir etwas anderes gefunden haben.« Ich legte einen Arm um sie. »Was war das mit Loretta?«

»Ich konnte diesen Namen nie leiden. Ich benutzte Laurel von dem Moment an, als ich meine Eltern verließ.«

»Ich werde mich das nächste Mal daran erinnern, wenn ich wütend auf dich bin.«

Sie lächelte. »Tut mir leid, dass ich ausgeflippt bin. Ich weiß, dass du alles tust, was du kannst. Der Stress macht mich allmählich fertig. Zu wissen, was mit Hal geschehen ist, und alle Probleme mit der Erbschaft zu lösen, ist schon schwer genug. Jetzt muss ich mir auch noch Sorgen wegen einer Mörderbande machen. Es ist der reine Wahnsinn.«

Tränen klebten an ihren langen Wimpern. Sie griff nach einem Papiertaschentuch, um sie wegzutupfen. Sie hatte wunderschöne Augen, grau, wenn sie im Haus war, und grün bei Sonnenschein.

»Ich bin letzte Nacht mit einem ganz schlimmen Gefühl aufgewacht«, sagte sie.

»Ich hatte ebenfalls einen Albtraum.«

»Es war kein Albtraum. Nur so eine Ahnung, dass alles irgendwie völlig schiefläuft. Als wäre ich in einem Netz gefangen, aus dem ich mich nicht befreien kann.«

»Du musst für eine Weile hier ausziehen. Ich lasse mir etwas einfallen. In der Zwischenzeit sollten wir Reed in seinem Büro an der NYU besuchen und hören, ob er uns irgendetwas erzählen kann, das uns weiterbringt. Danach machen wir einen Abstecher zu Phillip Anthonys Galerie. Er ist ein Experte für die Kunst der Renaissance, der uns sicher einiges über Dürer erzählen kann.«

»In Ordnung. Kannst du warten, während ich dusche und ein paar Sachen zusammenpacke?«

Die Umgebung, in der Laurel lebte, war für ihren Gemütszustand nicht unbedingt förderlich. Sie kam einem in Minas Wohnung regelrecht verloren vor, als würde sie von ihr verschlungen. Trotz der gediegenen Einrichtung strahlten die Räume etwas Deprimierendes, Abgenutztes aus. Fast dreihundertsiebzig Quadratmeter auf zwei Etagen verteilt und alles davon unbenutzt bis auf ihre kleine Nische im Wohnzimmer.

Als ich durch die Glastür hinausschaute, konnte ich einen der Wasserspeier sehen, der auf einem Sims über der Terrasse hockte, eine geflügelte Figur mit einem fauchenden Löwenkopf, einem Löwenkörper und dem Schwanz eines Drachen, einem assyrischen Dämon nicht unähnlich. Wasserspeier schützten vor bösen Geistern, deshalb fand man sie häufig an Kirchen in Europa. Aber dieser hier schien das Böse anzuziehen.

Als Laurel zurückkam, war sie eine völlig andere Frau. Sie trug jetzt ein Kleid, mit Blumen bedruckt und schlank geschnitten und mit einen Flatterrock von einem ganz eigenen Hippie-Chic, der ihren weiblichen Rundungen schmeichelte. Ihr üppiges naturbraunes Haar wallte in seidigen Locken an ihrem langen Hals herab. Mir gefiel, dass sie es nicht tönte.

Wir ließen die düstere Atmosphäre hinter uns.

Ich entschied, den Wagen stehen zu lassen. Die NYU befand sich gleich um die nächste Ecke und Phillip Anthonys Galerie war nicht viel weiter entfernt. Außerdem wollte ich nicht, dass Laurel glaubte, ich führe aus freiem Willen einen Mietwagen. Mein Maserati war bei dem Unfall völlig zerstört worden. Es brachte mich fast um, auch nur daran zu denken.

Das Gebäude der philosophischen Fakultät, ein gefälliger, um die Jahrhundertwende errichteter Bau aus rotem Sandstein, war nur ein paar Minuten vom Washington Square Park entfernt. Laurel zeigte dem Wachmann ihren Studentenausweis, und wir durften nach oben gehen, ohne Reed von unserem bevorstehenden Besuch zu unterrichten.

Zuerst begaben wir uns in Hals Büro. Es war klein genug, um als Besenschrank bezeichnet werden zu dürfen. Ein Blick sagte uns, dass wir unsere Zeit vergeudet hatten. Hier war gründlich aufgeräumt worden. Ich zog alle Schreibtischschubladen auf. Leer, und zwar jede.

»Das ging aber schnell«, stellte ich fest.

Laurel schaute sich wütend um. »Wo sind seine Papiere und der Computer? Wo sind die Sachen abgeblieben?«

»Das werden wir gleich erfahren.«

Obgleich ich vorher angerufen hatte, um mich zu vergewissern, dass er auch zugegen war, hatte ich Reed mit voller Absicht nicht Bescheid gesagt, dass wir ihm einen Besuch abstatten wollten. Ihn unvorbereitet zu überfallen, brachte ihn vielleicht dazu, sich zu verplappern.

Reed kaschierte seine Überraschung, uns zu sehen, mit einem hastigen Lächeln, schob den Sessel zurück und erhob sich. »Laurel«, sagte er, »wie geht es dir? Ich war total geschockt, als ich das mit Hal hörte. Es tut mir so leid. Kann ich dir irgendwie helfen? Du musst es nur sagen.«

Er kam um den Schreibtisch herum und wollte sie umarmen, doch sie schob ihn von sich. »Du warst geschockt, Colin? Wenn Hal in Gefahr gewesen wäre zu ertrinken, hättest du ihm doch noch den Kopf unter Wasser gedrückt. Du wusstest genau, wie verletzbar er war, und hast ihm trotzdem seinen Job weggenommen. Ich mache dich für das, was passiert ist, verantwortlich.«

Als er erkannte, dass gespieltes Mitgefühl ihm nicht nützen würde, nahm Reed wieder seine allgemein übliche abweisende Haltung ein. »Ich kann mich nicht erinnern, mit euch beiden einen Besuchstermin vereinbart zu haben.« Er warf mir einen unfreundlichen Blick zu. »Hal war ständig von Drogen benebelt. Er schaffte es noch nicht einmal, die wenigen Stunden zu unterrichten, für die wir ihn eingeteilt hatten.«

Dem konnte ich nicht widersprechen, aber ich hatte nicht vor, ihn das wissen zu lassen. »Es freut mich, dass dir Laurels Gefühl so sehr am Herzen liegen. Wo sind Hals Sachen? Sein PC ist verschwunden. In seinem Büro ist nichts zurückgeblieben.«

»Der Computer ist Eigentum der Universität. Wir haben sämtliche Verzeichnisse gelöscht und ihn bereits jemand anderem gegeben.« Er deutete zur Tür. »Draußen stehen einige Plastikkisten mit seinem Papierkram und anderen Dingen. Laurel, du kannst sie gerne mitnehmen.«

»Du bist ein Arsch, Colin.« Laurel stürmte durch die Tür nach draußen und bückte sich, um das Material zu inspizieren.

»Und?« Er funkelte mich jetzt an und machte aus seiner Abneigung keinen Hehl. Wut stand dem Mann nicht gut zu Gesicht. Seine klobige Nase kräuselte sich unschön und seine fleischigen Lippen verzogen sich zu einer hässlichen Fratze.

»Die Blondine, die du auf Hals Party angebaggert hast – Eris Haines. Ich muss sie unbedingt sprechen.«

»Frag mich was Leichteres. Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen. Sie ist mir den ganzen Abend lang nachgestiegen. Ich hatte Mühe, sie abzuschütteln.«

Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Colin, ich bitte dich

»Ich habe dazu nicht mehr zu sagen, John.«

»Ich frage mich, wie deine Frau darüber denken würde.«

»Du Arschloch. Dazu wärest du glatt fähig, nicht wahr?« Er wandte sich um, kramte zwischen einigen Papieren auf seinem Schreibtisch und fand eine Visitenkarte. »Das ist alles, was ich habe. Bedien dich.« Er hielt sie mir hin.

Das Logo auf der Karte lautete TRANSFORMATIONS in goldenen Lettern. Darunter, in Schwarz, waren Eris’ Name, Telefon- und Faxnummer zu lesen. Sonst nichts.

»Da ist noch etwas: Die steinerne Schrifttafel, die Hal in seinem Büro im Schreibtisch eingeschlossen hatte. Hast du sie genommen? Sie wurde meinem Bruder gestohlen. Ich habe bereits mit dem FBI gesprochen. Es ist besser, du rückst sie auf der Stelle heraus.«

Ich hatte es mit einem Schuss ins Blaue versucht. Der Ausdruck totaler Verwunderung in seinem Gesicht sagte mir, dass er nichts darüber wusste.

Babylon
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