Achtundzwanzig

»Wir sollten doch nach Bagdad fliegen und die Adresse aufsuchen, die ich Ihnen gab.«

»Beklagen Sie sich etwa über einen Besuch in Ihrem Geburtsland?«

Lazarus quittierte Wards Bemerkung mit einem Kichern. Ich riet ihm, sich sein Lachen wer weiß wo hinzustecken. Dann fragte ich Ward: »Was soll das?«

»Nur ein kurzer Umweg«, erwiderte er. »Genießen Sie es.«

Die Zollabfertigung erfolgte glatt und ohne Zwischenfälle. Ich spielte mit, wie man es von mir erwartete, weil ich immer noch Laurels vor Angst zitternde Stimme im Ohr hatte. Außerdem bezweifelte ich nicht, dass Eris fähig war, das Schlangengift jederzeit einzusetzen. Ich musste die richtige Gelegenheit und irgendeine Möglichkeit finden, mich zu versichern, dass Laurel keine Gefahr drohte, ehe ich einen Fluchtversuch unternahm. Das hieß, dass ich warten musste, bis sie durch irgendetwas abgelenkt wurden oder ich mit einem von ihnen alleine war.

Laut Flughafenuhr waren wir um 22:00 Uhr gelandet. Als wir durch die Nacht fuhren, konnte ich von der Stadt nur wenig sehen. Ich glaubte immerhin, einen Blick auf die Kuppel und die eleganten Minarette der prachtvollen Blauen Moschee, eines der Wahrzeichen Istanbuls, zu erhaschen, aber das konnte genauso gut Einbildung gewesen sein.

Zwei Wochen vor meinem neunten Geburtstag hatte Samuel mir geschrieben, dass er seinen Arbeitsplatz in Mosul verlassen wollte, um ein paar Wochen in der Türkei zu verbringen. Ich bettelte ihn an, ihn dabei begleiten zu dürfen. Evelyn warnte mich, meine Hoffnungen nicht allzu hochzuschrauben, aber zu unser beider Überraschung sagte er ja, ich könne kommen. Sie kaufte mir ein Buch mit Bildern der Türkei, und ich las es immer wieder, bis ich den gesamten Text auswendig hersagen konnte. Ich erinnere mich noch an das Bild von den grünen Tümpeln von Hierapolis und den römischen Säulen aus weißem Marmor, die man dicht unter der Wasseroberfläche der Tümpel wie Wassergeister aus einer längst vergessenen Zeit erkennen kann. Wenige Tage bevor ich fliegen sollte, telegraphierte Samuel, seine Pläne hätten sich geändert. Ich kam mir vor, als hätte mir jemand eine Tür vor der Nase zugeschlagen. Ich brauchte Monate, um mich von dieser Enttäuschung zu erholen.

Diese Erfahrung war im Wesentlichen für mein danach kaum noch vorhandenes Interesse an meinem Geburtsort verantwortlich. Von da an war er nicht mehr als ein Eintrag in meinen amerikanischen Einbürgerungsdokumenten. Hinzu kam als bitterer Nachgeschmack die Geschichte, die man mir irgendwann später erzählte, nämlich dass meine Angehörigen nichts von mir wissen wollten. Daher überraschte mich das Gefühl des Stolzes, das mich erfüllte, als ich Istanbul zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, wenn auch nur als verschwommenes Stadtpanorama durch die Fenster eines fahrenden Automobils. Und nun wurde meine erste Wiedervereinigung mit dem Land meiner Vorfahren durch brutale Begleitumstände überschattet.

Der Mercedes stoppte schließlich vor einem ungewöhnlich schönen Gebäude aus elfenbeinfarbenem Kalkstein, dessen Fassade mit kunstvollen Steinmetzarbeiten reichhaltig verziert war.

»Das Grand Hotel de Londres«, verkündete Ward. »Hier machen wir erst einmal Halt.«

Schon der erste Schritt in das Hotel versetzte uns zurück ins vorangegangene Jahrhundert – prächtige Bleikristallleuchter, viktorianische Tapeten, vergoldete Art-Deco-Statuen rechts und links einer breiten Treppe. Früher einmal weinrot, waren die samtenen Polster der Sitzmöbel im Laufe der Zeit verblasst.

Ward ließ den Blick schnell durch den Raum huschen, als wir den Salon betraten, schaute auf seine Uhr und meinte ungehalten zu Eris: »Ich sehe unsere Kontaktleute nicht. Ich dachte, sie sollten hier auf uns warten.«

»Sie werden schon kommen. Sie müssen im Verkehr stecken geblieben sein«, sagte sie.

»Wir zahlen ihnen genug, um pünktlich zu sein«, schnappte Ward. »Sehen wir zu, dass wir einen Tisch bekommen – ich sterbe vor Hunger.«

Er ging zur Bar, während wir an einem Tisch Platz nahmen. Ich sah, wie er mit dem Barkeeper redete und ihm ein Bündel Banknoten in die Hand drückte. Der viktorianische Stil wurde auch in diesem Raum derart konsequent durchgehalten, dass er als Kulisse für einen Film über die englische Kolonialzeit hätte benutzt werden können. Lebendige Papageien spreizten ihre smaragdgrünen Flügel in Bambuskäfigen. Ab und zu gab einer der Vögel ein lautes Krächzen von sich, aber was immer sie zu sagen hatten, es war kein Englisch. Fast erwartete ich, Graham Greenes Myatt aus Orient-Express an der Bar sitzen und seinen Gin Tonic trinken zu sehen.

Wards Laune hatte sich gebessert, als er zurückkam. Er war wieder ganz der freundliche, großzügige, weltläufige Professor. Er hatte ein ganz besonderes Talent, die dunkle Seite seines Charakters, die seine Persönlichkeit bestimmte, für kurze Zeit hinter sich zu lassen. »Unser Kontaktmann hat im Hotel angerufen. Er wird in Kürze eintreffen. Ich erfuhr außerdem, dass es nicht üblich ist, in der Bar zu essen, aber ich konnte den Barkeeper überreden. Ich habe einen Imbiss und ein paar Drinks bestellt.«

»Übernachten wir hier?«

»Nein. Wir halten uns nur kurz auf und fahren dann weiter. Wir brauchen noch etwa fünf Stunden bis zu unserem Ziel.«

»Afyon – die Stadt, die Sie erwähnten?«

»Nördlich davon.« Der Barkeeper unterbrach unsere Unterhaltung mit einem Tablett Getränke und bediente Ward noch vor Eris. Er machte einen beinahe unterwürfigen Diener, wahrscheinlich aus Dank für das fürstliche Trinkgeld, das Ward ihm zugesteckt haben musste. Ich spielte mit dem Gedanken, der New Yorker Polizei mit seiner Hilfe eine Nachricht zukommen zu lassen, bezweifelte jedoch, dass ich es schaffen würde, mich mit ihm unter vier Augen unterhalten zu können.

Ward entschied sich, wieder mal den Professor hervorzuholen. »Das Hotel gehört zu den Häusern in der Stadt, von denen aus man den besten Blick auf das Goldene Horn hat. Es liegt etwas abseits der üblichen Touristenrouten, weshalb ich immer sehr gerne hierherkomme. Erbaut wurde es im Jahr 1892, kurz nachdem Istanbul an die Strecke des Orient Express angeschlossen wurde. Die Eisenbahn brachte eine neue Welle von Invasoren hierher: englische Touristen auf der Suche nach der nahöstlichen Mystik. Agatha Christie schrieb Mord im Orient Express im Pera Palace Hotel, ein Stück die Straße hinunter, und in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts saß Ernest Hemingway des Öfteren genau an dieser Bar hier.«

»Das hier kommt mir aber so vor, als wäre es für Hemingway ein wenig zu vornehm. Ich glaube, ich habe mal gelesen, dass er in China Wein aus einem Glas getrunken hat, in dem sich acht Schlangen ringelten.« Ich genoss den verwirrten Gesichtsausdruck Wards, nachdem ich ihm seinen Auftritt ein wenig vermasselt hatte.

Zwei Männer erschienen im Eingang zur Bar. Eris lächelte – mit einem Anflug von Erleichterung, wie ich zu erkennen glaubte – und winkte ihnen zu. Einer war schätzungsweise Mitte dreißig, den anderen, dessen schwarzes Haar vereinzelte graue Strähnen aufwies, tippte ich auf fast fünfzig. Sie trugen leichte Sommeranzüge, keine Krawatten, dafür Sonnenbrillen, obwohl die Sonne schon lange untergegangen war. Der jüngere trug eine goldene Uhr mit einem schweren Gliederarmband am Handgelenk. Sie sahen aus, als kämen sie direkt aus Der Pate III.

Ward bot ihnen auf seine übliche großspurige Art etwas zu trinken an, was sie jedoch ablehnten. Eris hielt sich nicht damit auf, uns einander vorzustellen, zumindest erschien es mir so, da sie sofort ins Türkische wechselte, wie ich vermutete, und einen kurzen Vortrag hielt. Als sie endete, blickte der ältere Mann zu Ward und nickte.

»Frag ihn, wie lange es her ist, seit sie ihn das letzte Mal sahen«, sagte Ward zu Eris.

Sie übersetzte, erhielt eine Antwort und sagte: »Gestern am Grabmal. Mazare« – sie deutete auf den älteren Mann – »bestätigt, dass er immer noch in der Gegend ist.«

Über wen redeten sie – Tomas? Er erzählte mir, der Schatz käme ursprünglich aus Anatolien, und wir wussten, dass es da eine Verbindung nach Phrygien gab, aber ich konnte nicht glauben, dass sie irgendetwas in der Türkei finden würden. Assurbanipals Beute sollte schon vor einigen Tausend Jahren nach Assyrien geschafft worden sein. Ich konnte mir mittlerweile jedoch nicht mehr sicher sein, dass Tomas mir die Wahrheit gesagt hatte.

»Wohin genau fahren wir denn jetzt? Ich habe keine Lust auf eine sinnlose Jagd«, sagte Ward.

Eris sprach mit dem älteren Mann. Er holte sein Mobiltelefon hervor, wählte eine Nummer, sprach kurz auf Türkisch mit der Person, die sich meldete, und wandte sich dann wieder an Eris.

»Er ist an einem von zwei Orten«, sagte Eris, »entweder im Dorf Yazilikaya oder in Ayazinköyu. Mazare lässt beide Ortschaften beobachten. Sie glauben, dass er sich irgendwo für die Nacht verkrochen hat und erst morgen wieder herauskommt. Falls er abhauen will, schnappen sie ihn sich und halten ihn fest, bis du dort bist.«

Wards Gesicht rötete sich vor Ärger über die ungenaue Antwort und darüber, dass er diesmal die Kontrolle über die Situation Eris überlassen musste, weil nur sie die türkische Sprache beherrschte.

»Geht es um Tomas Zakar?«, wollte ich von Ward wissen.

Er zögerte, dann entschied er sich, mir die Wahrheit zu sagen. »Er ist hier und nicht im Irak, wie Sie annahmen. Er dachte wohl, er könnte uns ein Schnippchen schlagen.«

Ich hatte in dieser Hinsicht meine Zweifel, aber das behielt ich für mich.

Das Essen wurde serviert. Ein paar Appetitanreger mit Cacik, einem Joghurtdip mit Gurke und Knoblauch, dazu gefüllte Auberginen, Pilaw und Döner Kebap vom Lamm. Wir beeilten uns mit dem Essen, weil Ward es kaum erwarten konnte, sich auf den Weg zu machen.

Wieder im Wagen, saß ich abermals zwischen Eris und Lazarus. Unser ursprünglicher Fahrer war verschwunden. Mazare klemmte sich hinters Lenkrad und holte alles aus dem Wagen heraus, was die Maschine hergab. Sein Gefährte folgte in einem Ford Econoline. Er würde niemals mit unserem Mercedes mithalten, dachte ich.

Ich hasste den Geruch von Eris’ starkem Parfüm und die unangenehme Nähe von Lazarus’ hagerer Gestalt. Ich blieb während der gesamten Fahrt trotz der späten Stunde hellwach, da meine innere Uhr durch den Flug völlig aus dem Takt geraten war.

Durch die Windschutzscheibe konnte ich sehen, wie sich der Himmel im Osten mit dem heraufziehenden Tag aufhellte. Wir befanden uns in einer bergigen Region – rötliche Erde, dunkelgrüne Buschgruppen, Wiesen, die von tiefen Gräben durchzogen wurden, und gelegentliche Obstgärten und Bauernhöfe. Ich verspürte ein seltsames Ziehen in der Herzgegend. Was hätte ich darum gegeben, jetzt frei zu sein, um das Land gründlicher kennenlernen zu können.

Ich hielt Ausschau nach Straßenschildern und versuchte mir vorzustellen, wohin wir unterwegs waren. Irgendwann passierten wir eine größere Stadt, Eskişehir, dann fuhren wir auf der Autobahn E90 weiter nach Osten. Kurz danach bemerkte ich, dass wir den Kombi verloren hatten. Als wir uns zwanzig Minuten später einer weiteren Stadt näherten, wandte sich der Fahrer um und sprach kurz mit Eris. »Wir sind jetzt in Çifteler«, sagte sie zu uns. »Hier biegen wir ab.«

Wir schwenkten nach rechts auf eine einspurige, gepflasterte Straße hinüber und folgten ihr bis zu einer Ansiedlung. Der Wagen bremste und kam zum Stehen. Mazare deutete auf eine Ansammlung von Gebäuden vor uns. »Yazilikaya«, sagte er. Wir stiegen aus dem Wagen.

»Wo entlang?«, fragte Ward gereizt. Mazare verstand offenbar ein wenig Englisch, denn er deutete geradeaus. Der Anblick raubte mir den Atem. Ein sanft ansteigender Hügel lag vor mir, getüpfelt mit ländlichen, ziegelgedeckten Häusern und Nebengebäuden. Dahinter ragte eine Kette aus schroffen Felsnadeln auf, weiches Vulkangestein, das im Laufe der Jahrtausende von Wind und Regen zu gigantischen Skulpturen geformt worden war. In der Mitte des Bergzuges und fast bis zur vollen Höhe der Felsklippen reichend – mindestens zwanzig Meter hoch – war ein prachtvolles Relief aus dem Gestein herausgeschnitten worden. Es hatte die Form eines einfachen Rechtecks mit einem spitz zulaufenden Dach. Die aufgehende Sonne schien direkt darauf, so dass das rötliche Funkeln meine Augen blendete. Aufgrund des morgendlichen Lichts und des Kontrastes zwischen der Relieftafel und dem rauen unbearbeiteten Gestein drum herum sah es so aus, als hätte sich soeben ein magisches Tor in der Felswand geöffnet.

Wir umrundeten das Dorf, wobei die wenigen Leute, die um diese Zeit schon auf den Beinen waren, uns keinerlei Beachtung schenkten. Ich vermutete, dass sie sich längst an Touristen gewöhnt hatten. Als wir uns der Felswand näherten, konnte ich erkennen, dass sie mit ineinander verschlungenen geometrischen Formen bedeckt war. An ihrer Basis befand sich eine tiefe Nische. Es gab nur diese Fassade; der Innenraum war nie fertiggestellt worden.

Ward konnte der Versuchung nicht widerstehen, davor anzuhalten. »Das Grabmal der Kybele«, sagte er und deutete auf eine Reihe von Zeichen. »Dies ist eine der besterhaltenen phrygischen Inschriften, die man finden kann.« Er wandte sich an mich. »Kennen Sie die Geschichte der Kybele?«

»Teilweise«, sagte ich und erinnerte mich an das, was Phillip Anthony Laurel und mir erzählt hatte.

»Sie war so etwas wie eine Schwestergöttin der Ischtar und ebenso wie sie ein Sinnbild der Fruchtbarkeit und des Blutrausches. In einem Anfall von rasender Eifersucht erschlug Kybele die Frau, die ihr Geliebter Attis begehrte. Attis entmannte sich daraufhin vor Trauer selbst mit einem scharfkantigen Stein.« Ward lächelte. »Nicht unbedingt eine Lady, mit der man anbandeln sollte.«

Wir ließen das Monument hinter uns und steuerten auf eine in den Fels gehauene Treppe zu. Eris ging neben Mazare und unterhielt sich mit ihm. Lazarus bildete den Schluss unserer kleinen Delegation. Wir erreichten die Treppe und stiegen hinauf. Die Stufen waren ungleichmäßig, an vielen Stellen brüchig, und es gab kein Geländer. Raue Felswände ragten rechts und links von uns auf, so dass der Weg wie der Mittelgang einer Kathedrale wirkte. Die gesamte Szenerie hätte der Fantasie Gaudis entspringen können.

Selbst um diese frühe Morgenstunde war es bereits drückend heiß, und Ward, der Unbeweglichste in unserer illustren Runde, schnaufte und ächzte. Ich ging direkt hinter ihm und bemerkte, wie seine Beine zitterten, entweder vor Anstrengung oder, was ich für wahrscheinlicher hielt, aus Angst vor der Höhe, in der wir uns bewegten. Alle paar Stufen gelangten wir zu einem Spalt in einer der Felswände und konnten in einen Abgrund blicken. Nur ein leichter Stoß wäre nötig, und schon würde er in die Tiefe stürzen. Ich würde dann hinter ihm herklettern, mir sein Mobiltelefon schnappen und zu flüchten versuchen. Vielleicht gelänge es mir sogar. Aber Eris und Lazarus würden sich wie Bluthunde an meine Fersen heften.

Die Stufen führten zu einem natürlichen Durchgang im Fels, durch den ein azurblauer Himmel zu erkennen war. Als wir hindurchtraten, befanden wir uns auf einem flachen Stück des Felsgrates. Vor uns erstreckte sich ein Feld mit den Ruinen eines Tempelbezirks. Altartische und seltsame Gestalten in langen Gewändern und mit spitz zulaufenden Kopfbedeckungen waren als Reliefs aus dem Fels herausgehauen worden. Eine leichte Brise zerzauste mein Haar. Ich war wie gebannt vom Zauber dieses Ortes.

Unser Führer winkte uns zu sich herüber und kauerte sich hinter eine Felsbarriere. Eris ging ebenfalls in die Hocke und blickte über die Kante. »Etwa zehn Meter unter uns verläuft eine Felsleiste unter dem Eingang zu einer weiteren Grabkammer. Lazarus und ich werden uns das mal anschauen.«

Ward schickte mir einen schnellen Blick und meinte: »Nein. Einer von euch muss bei mir bleiben.«

Ich zerbiss einen Fluch. Für einen winzigen Moment hatte ich gehofft, dass sich die Gruppe teilen und ich mit ihm alleine sein würde.

Wir verfolgten, wie Eris sich allein einen Weg nach unten suchte. Mit ihrer Kraft und Gelenkigkeit schaffte sie es in kürzester Zeit, den Felsvorsprung zu erreichen. Als sie sich auf die Plattform vor dem Grabeingang schwang, meldete sich das Mobiltelefon unseres Führers. Er führte ein kurzes, knapp gehaltenes Gespräch und rief dann etwas zu Eris hinunter.

Sie fluchte und begann zurückzuklettern. »Mazare hat mir gerade erzählt, dass Tomas soeben im anderen Dorf gesehen wurde«, rief er zu ihr hinunter.

Ward fuhr zu Mazare herum und überschüttete diesen mit einer Flut von Vorwürfen und Schimpfworten. Der Führer antwortete ihm nicht weniger aggressiv auf Türkisch.

»Allmählich habe ich die Nase voll.« Ward funkelte Eris an, als sie wieder zu uns heraufgestiegen war. Es sah so aus, als wollte er sie schlagen. »Uns haben sie gesagt, Zakar sei hier.«

Ihr reichte es ebenfalls und sie konterte nicht weniger wütend: »Was er tatsächlich gesagt hat, war, dass Tomas gestern hier gesehen wurde. Sieh dir doch diese Gegend an – hier wimmelt es von Höhlen und Felsnischen; Tomas konnte sich jederzeit unbemerkt aus dem Staub gemacht haben. Wenigstens haben sie ihn wiedergefunden. Erspar dir deine Wutausbrüche und sieh lieber zu, dass wir schnellstens dorthin kommen, ehe er uns ein zweites Mal durch die Lappen geht.«

Da er sich der Logik dieser Empfehlung nicht verschließen konnte, schluckte Ward seine Wut hinunter und gab ein Zeichen, dass wir schnellstens zum Wagen zurückkehren sollten.

Mazare übernahm wieder das Lenkrad. Der große Mercedes preschte über ungepflasterte Straßen. Steine und Sand wurden gegen den Unterboden geschleudert. Der Wagen schwankte heftig und schleuderte in den Kurven Staubfahnen hoch. Es dauerte nicht lange und wir gelangten zu einem anderen Dorf ähnlich dem, das wir gerade hinter uns gelassen hatten. Irgendwie hatte der Kombiwagen es geschafft, vor uns anzukommen. Er stand leer am Straßenrand. Eris, Ward und unser Führer berieten sich kurz.

Auch diese Gegend war ein Gewirr von aufragenden Felstürmen und vulkanischen Kaminen. Wind und Wetter mussten hier regelrechte Höhlensysteme geschaffen haben. Ich nahm an, dass wir sofort in dieses Labyrinth eindringen würden, doch stattdessen benutzten wir einen steilen, gewundenen, mit großen Pflastersteinen befestigten Weg, der durch das Dorf führte. Als wir um eine Ecke bogen, tauchte vor uns ein massiger Schatten auf. Shim trat aus einer Lücke zwischen zwei Gebäuden. Hinter ihm befand sich der Mann, der Mazare begleitet hatte. Er musste Shim unterwegs irgendwo aufgelesen haben. Beinahe hätte ich laut einen Fluch ausgestoßen. Damit verringerten sich meine Chancen zur Flucht enorm. Jetzt hieß es sechs gegen einen.

Wir gingen zu einem der Häuser am Dorfrand. Das zweistöckige Gebäude war kanariengelb gestrichen und in die aufragende Felswand auf seiner Rückseite hineingebaut worden. An den anderen drei Seiten war es von einer zwei Meter hohen Mauer umgeben, die dicht mit blühenden Schlingpflanzen überwuchert war. Unser Führer klopfte an eine Holztür in der Mauer und rief etwas. Es dauerte einige Zeit, bis wir Schritte näher kommen hörten und das Türschloss knirschte. Die Tür schwang auf, und vor uns stand ein älterer weißhaariger Mann, der uns freundlich anlächelte. Er begrüßte uns auf Türkisch und hielt einladend die Tür auf, damit wir eintreten konnten. Der Vorgarten, durch den wir gingen, war angenehm kühl dank schattenspendender Obstbäume. Irgendwo konnte ich einen Brunnen plätschern hören.

Als Shim an ihm vorbeiging, während wir das Haus betraten, musterte der Mann ihn eingehend und rang dann die Hände und schrie etwas. Angst flackerte in seinen Augen.

»Er will Shim nicht hereinlassen«, erklärte Eris. »Er meint, dass er Unglück bringt.«

»Frag ihn, ob er unser Geld haben will oder nicht.« Ward holte seine Brieftasche hervor und zog zwei Einhundertdollarscheine heraus. Er hatte die beiden obersten Knöpfe seines Hemds geöffnet, schwitzte heftig und war nur noch Sekunden vom nächsten Wutanfall entfernt.

Mazare nahm den alten Mann beiseite und redete leise auf ihn ein, dann gab er Ward ein Zeichen, ihm das Geld zu geben. Unser Gastgeber schnappte sich die Banknoten und entfernte sich eilig. »Verdammter Mistkerl«, knurrte Lazarus.

Eris stand der Tür am nächsten. Der ältere Mann griff nach der Klinke, legte die Hand darauf. Eris machte einen Schritt auf ihn zu. Ich nahm an, sie wollte sich auf Türkisch von ihm verabschieden. Er schaute zu ihr hoch, lächelte die schöne Frau an und wollte die Tür aufziehen. Indem sie etwas zwischen Daumen und Zeigefinger klemmte, machte sie eine schnelle Bewegung, als legte sie dem Mann die Hand in einer seltsamen Abschiedsgeste auf die Schulter. Ein erschreckter Ausdruck trat in seine Augen. Dann fasste er sich in den Nacken und versuchte, etwas zu sagen. Er machte einen tiefen Atemzug und fiel langsam in sich zusammen, statt bloß zu stürzen, und hatte sogar noch Zeit, eine Hand auszustrecken und den Aufprall auf dem Fußboden zu dämpfen. Dann wurde sein Körper von einem ersten Krampf erfasst. Seine Beine zuckten. Ich glaube, er biss sich dabei auf die Zunge, denn Blut quoll zwischen seinen Lippen hervor. Dann folgte ein Krampf dem anderen.

Babylon
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