Neunundzwanzig
Shim schmetterte mich gegen die Mauer, als ich zu dem alten Mann hinübereilen wollte, um ihm zu helfen. Mazare rief irgendetwas. Ich brauchte kein Türkisch zu verstehen, um die Wut in seiner Stimme zu erkennen.
»Sorg dafür, dass Mazare sich beruhigt«, befahl Ward.
Als Shim mich losließ, hatten Lazarus und Eris ihre Pistolen gezückt. Mazare und sein Kumpan musterten unsere Gruppe mit feindseligen Blicken. Ward ignorierte sie, kramte in einer Reisetasche herum und holte Jacklights heraus.
Ich war außer mir vor Zorn. »Warum musste der Mann sterben?«, brüllte ich. »Ihr Leute seid Schweine!«
»Sobald er mit seinem Geld abgehauen wäre, hätte das halbe Dorf gewusst, dass wir hier sind.«
»Sie haben ihn ohne Grund ermordet. Wenn Tomas in diesem Haus ist, dann verhält er sich aber verdammt leise.«
»Haben Sie schon mal etwas von Kappadokien gehört?«, fragte Ward. »Kennen Sie die unterirdischen Städte dort, die alten Säle und Gänge, die bis zu acht Stockwerke tief in die Erde gegraben wurden?«
»Was ist damit? Wir sind weit davon entfernt.«
»Hier gibt es ein ähnliches System von Gängen, nur um einiges kleiner. Tomas hat eine Gruft gefunden, indem er den Text der Schrifttafel richtig interpretierte. Wir können durch den Keller dieses Hauses dorthin gelangen.«
Ich hätte beinahe schallend gelacht, fing mich jedoch gerade noch rechtzeitig. Wenn Ward unbedingt glauben wollte, dass er praktisch unter unseren Füßen eine Schatzkammer finden würde, dann sollte er ruhig dieser Fantasievorstellung nachjagen. »Aus welcher Quelle haben Sie das denn?«, fragte ich ihn.
Ward deutete mit der Hand in Mazares Richtung. »Er ist einer von Tomas’ Helfern. Er hat sich über einen Mittelsmann – einen von Eris’ vertrauenswürdigen Kontaktleuten – an uns gewandt. Die Gruft, die Tomas gefunden hat, ist seit dem Untergang des phrygischen Reichs verschlossen.«
»Und Sie glauben, der alte Mann hat davon gewusst?«
»Natürlich nicht. Er hat nur geglaubt, wir wollten uns die christlichen Andachtsräume da unten ansehen.«
»Und warum genau hat Mazare sich entschlossen, die Seiten zu wechseln und sich an die Bösen zu wenden?«
»Aus dem einleuchtendsten aller Gründe. Tomas war zu geizig. Ich biete ihm einen ansehnlichen Anteil des Erlöses.«
Als Tomas mir von der Idee eines verborgenen assyrischen Schatzes erzählt hatte, kam es mir nicht allzu glaubhaft vor, aber diese neue Offenbarung Wards grenzte eindeutig an reine Fantasterei. Die Menschen hatten diese Felstunnel seit Jahrtausenden durchkämmt; eine versteckte Kammer wäre sicherlich längst gefunden worden. Dass in einer unterirdischen Stadt in der Türkei eine noch nicht entdeckte Gruft mit einem Goldschatz existieren sollte, war mindestens genauso unwahrscheinlich wie die Idee, dass der Heilige Gral in Cleveland, Ohio, gefunden werden könnte. Der fanatische Drang, etwas Bedeutendes, Wertvolles zu finden, hatte Ward jeden Bezug zur Realität verlieren lassen.
Mir kam jedoch ein interessanter Gedanke. Das bienenwabenartige System von Kammern und Tunneln, für das diese unterirdischen Städte berühmt waren, besaß zahlreiche Verbindungstreppen und Einstiegslöcher in den Böden. Einige dieser Öffnungen hatten als Latrinen oder Brunnen gedient, aber in anderen hatte man Leitern benutzt, um in die tiefer liegenden Stockwerke hinabzusteigen. Wenn ich die Augen offen hielt, schaffte ich es vielleicht, beim Vorbeigehen mit einem Sprung in eine dieser Öffnungen abzutauchen und zu verschwinden. Das war zwar nur eine geringe, aber immerhin eine Chance.
»Welchen Sinn hat es eigentlich, dass Sie mich einkassiert haben?«
»Sie sind so etwas wie unsere Versicherungspolice«, antwortete Ward.
»Tomas würde mich am liebsten tot sehen. Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.«
»Er ist mit zwei anderen Männern da unten und sie sind bewaffnet. Wir schieben Sie vor uns her, um mit ihm zu verhandeln. Wenn sie anfangen zu schießen, dann sind Sie sozusagen unsere Deckung.«
So weit wirst du gar nicht kommen, Freundchen.
Ward blickte auf die Uhr. »Tomas treibt sich jetzt schon seit zwei Stunden da unten herum. Wir müssen aufbrechen.« Er deutete auf den alten Mann, der reglos auf dem Boden lag. »Heben Sie ihn auf«, verlangte er von mir. »Wir dürfen ihn nicht zurücklassen.«
»Machen Sie Ihre Drecksarbeit alleine. Ich rühre ihn nicht an.«
Ward starrte mich drohend an. »Sie können es sich aussuchen: Eris’ Gift oder Lazarus’ Messer. Ich rate Ihnen zu Eris. Sie schenkt Ihnen einen schnelleren Tod.«
Mazare machte einige weitere heftige Bemerkungen und ging zu dem alten Mann hinüber.
»Mazare meint, er werde den Mann mitnehmen«, sagte Eris, während Mazare sich den Toten mühelos auf die Schulter lud. Offenbar wog er nicht viel mehr als ein halbwüchsiger Junge. Seine Lippen hatten sich blau verfärbt und sein Kopf baumelte schlaff herab. Ich wandte erschüttert den Blick ab. Mazares Partner blieb oben, um Ausschau nach neugierigen Nachbarn zu halten.
Im Keller war eine roh behauene Holztür in die mit Gips verputzte Wand eingesetzt worden. Wir stießen die Tür auf und gelangten in einen Tunnel. Eine Kette elektrischer weißer Weihnachtskerzen war an Haken an der Decke befestigt worden und sorgte für eine trübe Beleuchtung. Auf beiden Seiten des Korridors standen hohe Holzregale. Sie waren gefüllt mit in Leinentücher eingewickelten Käserädern, verstaubten Gläsern voller Oliven und Konserven. Hier unten war es merklich kälter.
Außerdem stand in den Regalen eine Ansammlung von Tonkrügen. Ich erkannte sofort, dass es sich um antike Stücke handelte, und vermutete, dass der alte Mann sie gefunden hatte, als er diesen Korridor angelegt und ein paar wertvolle Funde für sich beiseitegelegt hatte. Der Tunnel war mit Holzbalken abgestützt worden. Alle drei oder vier Meter rieselten Staub und Sand von der Decke, wenn Shims schwere Füße gegen einen der Stützbalken stießen. Ich fragte mich, wie stabil diese Konstruktion wirklich war.
Der Gang endete abrupt. Ein runder Stein, ähnlich einem Mühlrad mit einem Loch in der Mitte, versperrte uns den Weg. Diese Sperre war zweifelsfrei von Menschenhand geschaffen worden. »So sahen die ursprünglichen Türen aus«, erklärte Ward. »Durch das Loch in der Mitte konnten sie Pfeile schießen.«
Wir traten zurück, während Shim vor Anstrengung ächzend den Stein zur Seite rollte. Dahinter befand sich ein zweiter Korridor. Hier endete jedoch die elektrische Beleuchtung. Als Ward seine Laterne anknipste, flüchtete sich eine Ratte in einen Spalt in der Wand des Ganges, wobei ihr nackter Schwanz sich wie ein Schlange über den Boden kringelte und in der Öffnung verschwand. Hier waren die Gangwände deutliche rauer und die Decke niedriger. Es roch nach uralten Schimmelsporen und Pilzgewächsen, der Gestank des Verfalls. Auf einer Seite des Gangs war ein Graben in den Boden gekratzt worden. Shim konnte sich nur geduckt vorwärtsbewegen. Wir hatten die unterirdische Stadt betreten.
Ein Stück weiter war eine Gangwand glattgeschliffen worden. Man hatte ein Mosaik darauf angebracht. Es war zwar beschädigt, aber immer noch gut zu erkennen. Es bestand aus byzantinischen christlichen Symbolen und Szenen. Vor allem ein großes Kreuz fiel dem Betrachter ins Auge. Darunter war eine quadratische Öffnung aus der Felswand herausgehauen worden. Ich vermutete, dass sie einst als primitiver Altar gedient hatte. Ich wusste, dass diese Siedlungen in Kappadokien vor dreieinhalbtausend Jahren während der Herrschaft der Hethiter, wenn nicht sogar noch früher, angelegt worden waren. Im Laufe der Jahrhunderte hatten viele Kulturen sie benutzt, sie erweitert, ausgebaut und ihre eigenen unauslöschlichen Spuren hinterlassen. Das Labyrinth aus Räumen und Gängen stellte ein hervorragendes Verteidigungssystem dar und konnte über Monate hinweg Schutz vor Belagerungen von oben bieten. Ich glaubte, an einigen Stellen die schwarzen Spuren qualmender Fackeln erkennen zu können, die einst an den Wänden befestigt gewesen waren.
Schließlich stießen wir auf mehrere leere Kammern. Wir blieben vor einer stehen und warteten, während Mazare die Leiche des alten Mannes hineinschleppte und behutsam auf den Boden legte.
In der nächsten Kammer deutete Ward auf eine Löwin, die als Relief auf der hinteren Wand zu sehen war. Die künstlerische Ausführung war so perfekt, dass die Löwin, als Ward seine Laterne darauf richtete, aus der Felswand herauszuspringen schien. Der Künstler hatte die natürlichen Konturen des Gesteins benutzt und daraus den Leib des Tiers geformt. Die Löwin saß aufgerichtet auf den Hinterbeinen und zeigte mit einem Fauchen ihre tödlichen Reißzähne. Auf ihrem Bauch befand sich eine sorgfältig ausgeführte Reihe von Zitzen.
»Das ist phrygischen Ursprungs«, sagte Ward, dessen Erregung offensichtlich war. Seine Laune hatte sich abermals geändert. Er erschien jetzt beinahe euphorisch, als ob der Anblick der Löwin seine sämtlichen Hoffnungen bestätigte; seine Wut war verschwunden. Ich glaubte sogar, in Lazarus’ toten Augen einen Anflug von Hoffnung aufflackern zu sehen.
Nahums Worte fielen mir ein. »Wo ist nun das Versteck der Löwen?« Hatte ich mich geirrt? Waren wir am Ende doch auf der richtigen Spur? Wenn ja, wie hatte dann Nahum, ein Schreiber, der in Assyrien lebte, von dieser versteckten Gruft erfahren? Ich kam zu dem Schluss, dass er den assyrischen König durchaus auf seinem Feldzug nach Anatolien begleitet haben konnte.
Während wir im Korridor weiter vordrangen, fuhr Mazare plötzlich herum und gab uns mit der Hand ein Zeichen, stehen zu bleiben. Wir hatten zwei kleine Kammern erreicht, die einander gegenüberliegend in die Tunnelwände eingemeißelt worden waren. In etwa dreißig Metern Entfernung endete der Gang mit einer T-förmigen Kreuzung. Mazare sagte im Flüsterton etwas zu Eris. »Wir sollen das Licht löschen«, übersetzte sie. »Zur Gruft geht es nach links.«
Mit einem Klicken erloschen die Laternen und ließen uns in totale Finsternis eintauchen. Während unsere Augen sich nach und nach an die neuen Lichtverhältnisse anpassten, konnten wir einen matten Schimmer erkennen, der aus der linken Abzweigung herausdrang.
Mazare knipste seine Lampe wieder an und richtete den Lichtstrahl auf den Boden. Er sprach wieder mit Eris. »Er geht zuerst hinauf«, dolmetschte sie. Ward schickte alle anderen in die Kammern, bestand aber darauf, dass ich für alle sichtbar im Tunnel stehen blieb. Ward und Eris drückten sich hinter Shim in einen der kleinen Räume; Lazarus suchte im anderen Deckung. Als ich mich ebenfalls hineindrängen wollte, zückte er sein Messer.
Wenn Tomas wirklich hier war und auf mich geschossen werden sollte, konnte ich nichts anderes zu meinem Schutz tun, als meinen Körper so flach wie möglich gegen eine Tunnelwand zu pressen. Mazare schob sich an der linken Wand entlang, bis er die Kreuzung fast erreicht hatte. Er winkte mir. Ich blieb stehen. Dann sagte er etwas – »Kommen Sie«, dachte ich. Aber ich musste es mir eingebildet haben. Er zuckte die Achseln, richtete die Lampe auf den Boden, angelte mit der anderen Hand sein Mobiltelefon aus der Tasche und tippte eine Nummer ein.
Für einen kurzen Moment fragte ich mich, weshalb er ausgerechnet von hier unten jemanden anrufen wollte. Doch dann dämmerte mir schlagartig, was geschehen würde, und ich rannte so schnell ich konnte auf ihn zu.