Sechsunddreißig
Tomas gab keine Antwort darauf. Er knipste seine Lampe an und stellte sie so auf, dass sie anstrahlte, was immer sich unter dem Tuch befinden mochte. Dann ging er zur Seite und griff nach dem Tuch. »Treten Sie ein Stück zurück«, bat er mich, und zog das Tuch vorsichtig herab.
Das grelle Funkeln blendete mich für einen kurzen Moment. Es war, als hätte sich die Luft in Gold verwandelt. Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf und schaute genauer hin. Ich sah die Göttin in all ihrer Pracht. Ihr Körper bestand von Kopf bis Fuß aus rötlichem Gold; die lebensgroße Statue einer Frau. Ein Bein war leicht nach vorne gestreckt, der Oberkörper etwas gebeugt, als wollte sie jemanden begrüßen. In einer Hand hielt sie einen goldenen Kelch. Ihr Leib und ihre Brüste waren nackt; um den Hals trug sie wunderschöne Halsketten mit Anhängern aus Lapislazuli, Türkis, Onyx und Perlen.
Ich trat näher, um mehr zu erkennen, und sah, dass der Lapislazuli tiefblau und mit Partikeln goldenen Pyrits durchsetzt war wie ein indigofarbener Fluss, in dessen Fluten Goldstaub glänzt. Sie hatte einmal ein Gewand getragen, von dem jetzt aber nur noch rote und violette Fetzen übrig waren, die an ihren Oberarmen, am Bauch und an den Schenkeln klebten. Die Zeilen aus der Offenbarung des Johannes, in denen die Hure von Babylon beschrieben wird, gingen mir durch den Kopf: Das Weib war in Purpur und Scharlach gekleidet und mit Gold, Edelsteinen und Perlen reich geschmückt; in ihrer Hand hielt sie einen goldenen Becher.
Der Körper der Statue war ihrer glatten Haut und ihren hohen, festen Brüsten nach zu urteilen nach einer jungen Frau geschaffen worden. Die Brustwarzen waren rubinrot gefärbt worden. Aber es war ihr Gesichtsausdruck, der mich abrupt innehalten ließ. Ihre Lippen verzogen sich noch zum Anflug eines lockenden Lächelns, doch in ihren Augen lag nackter Terror.
»Was zum Teufel ist das?« Ich wandte mich zu Tomas um.
»Sehen Sie den Helm auf ihrem Kopf? Elfenbein. Das Zeichen der Göttlichkeit – sieben Windungen feinsten Horns. Ebenso wie das Gewand, die Halsketten und die Arm- und Beinreifen wurde der Helm erst später von den Assyrern hinzugefügt. Sie ist Ischtar und ist es auch wieder nicht.«
Jetzt redete er in Rätseln.
Die Statue stand auf einem Steinsockel, der wie ein Sarkophag geformt war. Unter ihren Füßen lagen verschiedene goldene Objekte: so etwas wie der Ast eines Baumes, zwei kleine Klumpen von etwas, das ich nicht genau erkennen konnte, einige Weizenähren, ein paar kleine Gebilde, die die Form von Tränen hatten, ein Apfel und ein weiterer Becher.
Die Darstellung war erstaunlich, jedes Detail absolut vollkommen. Ihre Augenbrauen waren offensichtlich rasiert, jedoch waren ihre Wimpern perfekt nachgebildet, desgleichen die Grübchen in ihren Wangen. Ich glaubte, sogar einzelne Härchen auf ihren Armen ausmachen zu können.
»Was Sie hier sehen, ist der Ursprung des Konzepts der Transmutation«, sagte Tomas.
Ich verstand nicht, was er meinte. »Meinen Sie damit, die Skulptur wurde aus Blei angefertigt und dann in Gold umgewandelt? Sie ist assyrischer Herkunft, das ist klar. Und sie kommt auch nicht aus Mesopotamien. Die Kunstfertigkeit, mit der die Figur geschaffen wurde, ist unglaublich.«
»Sie verstehen es wirklich nicht, oder?«
Ich starrte ihn wortlos an und versuchte, hinter den Sinn seiner Worte zu kommen.
Tomas fuhr fort: »Jedes Kind kennt diese Geschichte. Aber lassen Sie mich aus Ovids Metamorphosen zitieren. Ich kenne die Stelle mittlerweile auswendig.
Lucifer hatte bereits am elften Morgen den Heerzug
schwebender Sterne verscheucht, als früh in die lydischen Felder
Midas ging, und Silenus dem blühenden Zöglinge darbot.
Ihm gab Bacchus die Wahl, die schmeichelte, aber nicht frommte,
sich ein Geschenk zu ersehen für den wiedergefundenen Pfleger.
Übel die Gab’ anwendend erwidert’ er: Schaffe, dass alles,
was mein Leib auch berührt, in funkelndes Gold sich verwandle!
Ich war wie geschockt. Mir fehlten die Worte. »Sie reden doch nicht etwa von König Midas?«
»Nicht von ihm. Das ist seine Tochter. Ihr Vater berührte sie und sie wurde zu Gold. Seine Trauer über ihren Verlust in Folge seiner Habgier war so groß, dass er die Götter bat, die Erfüllung seiner Bitte rückgängig zu machen. Bacchus riet ihm daraufhin, seine Hände im Fluss Paktolos zu waschen, der bis heute für seinen hohen Goldgehalt berühmt ist. Wie Claire Ihnen bereits erzählt hat.«
»Sie wollen doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass Sie das glauben.«
»Erinnern Sie sich, was Sie über Samuels Tagebuch gesagt haben? Das hat mir Sorgen bereitet. Es ging um eine Eintragung, dass die Assyrer mit König Mitta von den Mushki einen Friedensvertrag geschlossen haben. Der richtige Name des Königs lautete Mit-a-a. Und das war Midas, König von Phrygien; das ist historisch belegt. König Midas’ Grab befindet sich irgendwo in der Türkei und muss noch entdeckt werden. Erinnern Sie sich auch noch an diesen Tempelbezirk, den sie sich mit Ward angeschaut haben? Gelegentlich wird dieser Ort auch ›Stadt des Midas‹ genannt.
Midas war genauso reich wie Krösus. Hinter der hinteren Wand befindet sich ein weiterer Raum mit Tonbehältern; sie enthalten Hunderte Goldmünzen mit Midas’ Siegel. Die Phrygier benutzten sie als Zahlungsmittel.« Tomas sah mich triumphierend an. »Sie hatten nämlich keine eigene Währung. Lydien war die erste Nation überhaupt, die Münzen prägte. Im Jahr 650 v. Chr. ließ sie mit Elektrum beschichtete Münzen herstellen.
Midas benötigte Schutz vor den Cimmerern, Barbarenstämmen, die, wie später die räuberischen Wikinger, vom Schwarzen Meer aus landeinwärts zogen. König Assurbanipals Großvater, Sargon II., erklärte sich bereit, Gordium, die Hautpstadt von Phrygien, zu beschützen, um die wertvollen Erze, die dort gefunden wurden, zu sichern. Nach Sargons Tod überrannten die Stämme Phrygien und plünderten das Land aus. Midas versteckte sich in dem Grabmal, das er für sich hatte bauen lassen. Man nimmt an, dass er Selbstmord beging, indem er einen Kelch Stierblut trank, wie ich vermute ein Hinweis auf den Gott Mithras, dem er huldigte.«
Er deutete auf die goldenen Objekte, die zu Füßen der Statue lagen. »Dort sehen Sie Zweig, Stein, Getreide und Apfel, genau die Dinge, die Ovid in seinem Gedicht beschrieb; an diesen Gegenständen übten die Handwerker ihre Kunstfertigkeit.«
»Haben Sie herausbekommen, wie sie es gemacht haben?«
»Im Großen und Ganzen ja.« Er verschob eines der Armbänder um einige Zentimeter. »Es ist mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen, aber dicht unterhalb des Ellbogens befindet sich eine winzige Naht. Wir nehmen an, dass sie sich des Wachsausschmelzverfahrens bedient haben, um Totenmasken vom Kopf sowie von den Unterarmen, Händen und den Füßen anzufertigen. Der restliche Körper wurde sozusagen frei geformt, aber auch in Wachs. Dann wurden verschiedene Formen hergestellt, eine für den Bleikern und eine für die Goldhülle. Danach wurden die Teile zusammengefügt. Wir glauben sogar zu wissen, wie sie gestorben ist – und zwar sehr plötzlich, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Tomas deutete nach unten. »Es steht auf dieser Bahre unter ihren Füßen geschrieben. Es ist keine genaue Übersetzung, aber sinngemäß heißt es: ›Sie trank von dem goldenen Wein, um eins zu werden mit den Göttern. Die Göttin geriet in Zorn und bestrafte sie.‹ Ich habe in Erfahrung gebracht, dass hochrangige Persönlichkeiten in jenen Zeiten sehr seltsamen Ritualen frönten. Sie tranken mit Goldstaub versetztes Wasser oder Wein in dem Glauben, damit die Unsterblichkeit zu gewinnen. Wenn man eine hohe Goldkonzentration mit dem richtigen Stoffwechsel kombiniert, könnte dieses Gebräu durchaus reagieren wie ein tödliches Gift. Genau das ist wahrscheinlich in ihrem Fall passiert. Falls Sie mir nicht glauben sollten – auf diese Art und Weise ist eine Geliebte des französischen Königs Heinrich II. zu Tode gekommen.
Zweifellos wurde der Mythos von Midas’ goldenen Händen zum Teil durch diese seltsame Praxis begründet. In seiner Trauer über das tragische Schicksal seiner Tochter hatte König Midas seinen Handwerkern wahrscheinlich befohlen, ihr Ebenbild so lebensnah wie irgend möglich zu erhalten.«
Ich konnte Mazares Furcht verstehen. Man hätte schwören können, dass sie lebendig war.
»Im Jahr 1995 glaubte man, das Grabmal von König Midas in Gordium in der Türkei gefunden zu haben, aber es erwies sich als älter und stammte aus einer Zeit vor seiner Herrschaft«, sagte Tomas. »König Assurbanipal muss die Lage des Grabmals gekannt haben, und als sein Feldzug nach Anatolien ihm die günstige Gelegenheit bot, plünderte er es und schaffte seinen Inhalt nach Assyrien. Er würdigte Midas’ Tochter, indem er sie in Ischtar umwandelte.«
»Haben Sie deshalb Ward in der Türkei eine Falle gestellt?«
»Ja. Er vermutete etwas von einer Verbindung mit Midas, daher wusste ich, dass er darauf hereinfallen würde.«
»Warum hat Assurbanipal die Statue hier versteckt?«
»Sein Sohn übernahm die Herrschaft mehrere Jahre vor Assurbanipals Tod. Der alte König erkannte, dass das Reich dem Untergang geweiht war, und wusste, dass Ninive geplündert und verwüstet würde, wenn die Stadt fiel. Daher versteckte er ihre wertvollsten Besitztümer.«
»Und Nahum, ein Schreiber, dem er vertraut haben muss, war einer der wenigen, die die genaue Lage des Ortes kannten«, sagte ich.
Tomas ging zur hinteren Wand. »Nahum hasste die assyrische königliche Familie. Aber er hielt seine Wut im Zaum – wie ein unterirdisches Kohlenfeuer, das jahrelang vor sich hin glüht, ehe plötzlich die Flammen aus dem Boden lodern.«
Er deutete auf das Wandgemälde. »Das ist ein Bild von Musmahhu, einem Schlangenmonster. Es hat den Körper eines Leoparden, Bärentatzen und sieben gehörnte Köpfe. Im letzten Buch der Bibel wurde aus Ischtar die Hure von Babylon. Man könnte sagen, dass dieser Dämon der Prototyp für das Tier der Hure von Babylon ist, wie es in der Offenbarung des Johannes beschrieben wird: ›Das Tier, das ich sah, glich einem Panther; seine Füße waren wie die Tatzen eines Bären und sein Maul wie das Maul eines Löwen. Und der Drache hatte ihm seine Gewalt übergeben, seinen Thron und seine große Macht.‹«
Ward hatte recht in diesem Punkt. Die Autoren der Bibel beschrieben die Hexerei und die Magie als grundsätzlich üble Praktiken und machten Ischtar, die sogar von der Hebräern verehrt wurde, zu einer Hexe und einer Hure, so dass sie eher verachtet als verehrt wurde.«
Darin pflichtete ich ihm bei. Ischtar und ihre Schwester-Göttin, die phönizische Ashtoreth, die der griechischen Astarte entsprach, hatten eine unglaubliche Macht über die Geister der Alten. Die mesopotamischen Tempel waren Zentren der Magie, Zauberei und Wahrsagerei, für die eine ganze Hierarchie von Spezialisten nötig war. Hier rezitierten Ashipu-Priester Beschwörungsformeln, um böse Geister auszutreiben; die Baru und Mahu waren Wahrsager.
»In der King-James-Bibel wurde das Wort Hure durch Dirne ersetzt«, fuhr Tomas fort, »so dass wir annehmen, dass Nahum aus Ischtar eine Vertreterin der niedrigsten Form der Prostitution machte. Aber in Wahrheit wird mit dem Wort ›Dirne‹ eine Tempelhure bezeichnet. Viele dieser Frauen erfreuten sich eines hohen Ansehens. Die Mutter eines assyrischen Königs war eine Tempelhure. Und wieder machte Nahum auf seine eigene Art und Weise auf Ischtar aufmerksam.
Springen Sie achthundert Jahre weiter zur Offenbarung des Johannes, in der uns Ischtar als Hure von Babylon begegnet. Viele Gelehrte bestätigen, dass in der Offenbarung die Göttin mit einem goldenen Becher und auf einem siebenköpfigen, gehörnten Tier sitzend beschrieben wird. Der Mundschenk stand am assyrischen Königshof in hohem Ansehen.
Die Theorie der Transmutation – der Umwandlung von Blei in Gold – hatte seinen Ursprung in Phrygien mit dem Tod von Midas’ Tochter und der Erschaffung dieser Statue. Nachdem die Tempelpriester die entsprechenden Rituale vollzogen hatten, um Ischtars Erscheinung einzufangen und auf die Statue zu übertragen, dürften die alten Assyrer geglaubt haben, dass die Göttin in ihr lebte. Im Laufe der Jahrhunderte geriet dieser Prozess in Vergessenheit, doch die so lebensechte Statue der Göttin wurde zur Legende. Und so entstand der Mythos, dass es möglich ist, praktisch jedes Material in Gold zu verwandeln. Im achten und neunten Jahrhundert dürften die bedeutendsten arabischen Hofgelehrten an den Kalifaten in Bagdad diesen Mythos gekannt haben. Sie waren es, die schließlich der Legende zu einer wissenschaftlichen Grundlage verhalfen.«
Ich bekam nur am Rande mit, dass Mazare uns rief.
»Kommen Sie«, sagte Tomas. »Es wird Zeit aufzubrechen.«
Völlig benommen stolperte ich hinter ihm her.
»Endet demnach die ganze Geschichte im Vatikan?«
Tomas lachte über meine Bemerkung. »Ich glaube, Sie haben zu viele Thriller gelesen. Morgen treffe ich den Patriarchen von Babylon, das Oberhaupt der Chaldäischen Kirche im Irak. Er wird alles in seiner Kraft Stehende tun, um die Sicherheit des Tempels und seines Inhalts zu gewährleisten, bis in diesem Land wieder stabile Verhältnisse herrschen.«
Den Rückweg schafften wir in erheblich kürzerer Zeit. Während wir auf den Wagen warteten, informierte Tomas mich, dass ich von Mazare, sobald wir zum Haus zurückgekehrt wären, nach Bagdad gebracht würde. Unser Abschied fiel ziemlich knapp aus. Ich denke, es hätte wenig Sinn gehabt, so zu tun, als fiele uns die Trennung schwer.