Siebenundzwanzig

Donnerstag, 7. August 2003, 22:30 Uhr

Wir fuhren zu einem Flugplatz irgendwo in New Jersey. Laurel wurde weiterhin in New York gefangen gehalten, um sich meiner Mithilfe zu versichern.

Ich nahm Benzingeruch wahr und konnte für einen kurzen Moment regennassen Asphalt erkennen. Wir stoppten neben einem kleinen Jet. Unser Ziel war Bagdad, nicht das alte Babylon. Aber eigentlich brauchte Ward mich gar nicht, um die Adresse in Bagdad zu finden. Warum machte er sich die Mühe, mich mitten im Krieg in ein Land mitzunehmen, das ich überhaupt nicht kannte? Wenn ich ihn fragte, weshalb er mich dorthin transportierte, erhielt ich keine Antwort. Allein die Tatsache, dass sie keinen physischen Druck mehr auf mich ausübten, legte die Vermutung nahe, dass sie mich noch für irgendein zukünftiges Vorhaben brauchten. Aber was sollte das sein?

Sie verfrachteten mich in den hinteren Teil eines Learjet 35. Ironischerweise war ich erst zwei Monate zuvor mit einer ähnlichen Maschine geflogen und hatte eine italienische Porzellanvase begleitet, die einer meiner Kunden gekauft hatte. In dieser Maschine wird der hintere Teil der Kabine durch einen Vorhang von der vorderen Hälfte abgetrennt, und hier sollte ich mich niederlassen. Einige Sitze waren entfernt worden und die Fenster hatte man geschwärzt. Das Ganze kam mir so vor, als wäre ich nicht die erste Person, die gegen ihren Willen mit dieser Maschine auf Reisen ging.

Der Spaßvogel legte eine stählerne Handschelle um mein rechtes Handgelenk und befestigte sie an einem Griff, der neben meinem Sitz aus der Kabinenwand ragte. Mein Körper war nach wie vor ein einziges Bündel Schmerzen. Ihm steckte im wahrsten Sinne des Wortes die Taserattacke immer noch in den Knochen. Ich ließ mich gegen die Kabinenwand sinken. Der Narr schnallte sich neben mir an. Er trug jetzt einen konventionellen Anzug, aber der machte ihn mit seinem strähnigen schwarzen Haaren und der leichenblassen Haut kein bisschen ansehnlicher. Dazu die seltsamen Augen – sie waren fast gelb.

Ich konnte eine rote Tätowierung auf seinem Handgelenk sehen, aber sein Ärmel verhüllte sie fast zur Hälfte, und ich konnte nicht erkennen, welches Zeichen sie darstellen sollte. Eris und Shim hielten sich wahrscheinlich vorne bei Ward auf. Ich ging sie in Gedanken durch: Venus, Mars, Jupiter. Ich hatte Ward zu Jupiter gemacht, weil er offensichtlich der Boss war. Dann war Eris die Venus und Shim war Mars. Laurel hatte gemeint, das Hal Saturn gewesen sei. Dann musste zwangsläufig der Mann neben mir, der bei unserer ersten »Begegnung« ein Narrenkostüm getragen hatte, Merkur sein. Ein ziemlich seltsamer Götterbote, wenn man es genau betrachtete.

Da ich wahrscheinlich den größten Teil des Tages in nächster Nähe dieses Mannes zubringen würde, entschied ich, die feindselige Atmosphäre zwischen uns ein wenig aufzulockern. »Wer sind Sie?«, wollte ich von ihm wissen.

Da er den Hintersinn meiner Frage nicht verstand, knurrte er: »Lazarus.«

»Ist das Ihr richtiger Name?«

»Jetzt ist er es.«

»Und wie sind Sie dazu gekommen?«

»Die Ärzte haben mich von den Toten zurückgeholt. Irgendwann erzähle ich es Ihnen mal ausführlich, damit Sie wissen, was Sie erwartet.«

Was für ein Scheißkerl.

»Wo?«

»In Tschetschenien.«

»Was hatten Sie denn dort zu suchen?«

»Sie wissen gar nichts, nicht wahr? Wir alle kommen aus solchen Löchern. Sie segeln mit Ihren Café Lattes und Martinis durch die Welt und verkaufen Ihre hochgestochene Kunst und haben keine Ahnung von der realen Welt.«

»Sie haben den Unfall vor dem Café verursacht, nicht wahr?«

»Ward sagte, wir sollten Ihnen Angst machen und Sie nicht töten.«

»Jemand wurde dabei schwer verletzt. Macht Ihnen das nichts aus?«

»Sie haben es selbst gesagt – es war ein Unfall. Ich wollte nur den Reifen des Wagens zerschießen. Überhaupt sollen wir nicht miteinander reden.«

Ich hatte eine lange Reise an seiner Seite vor mir. Mit einer Zwischenlandung würde der Flug mit einem Privatjet wohl einen ganzen Tag dauern. Diese kleinere Maschine musste wahrscheinlich öfter auftanken, und bei einer sicherlich auch niedrigeren Geschwindigkeit würde die Reise entsprechend länger dauern. Vorher wurde ich nur von einer ganz speziellen Gruppe bedroht. Im Irak würde die Gefahr sich verzehnfachen. Es gab in Bagdad keinen sicheren Ort.

Lazarus griff in die Innentasche seiner Anzugjacke und holte ein Messer heraus. Es hatte eine hässlich aussehende breite Klinge mit Sägezahnung. Er spielte damit herum, tat so, als würde er auf mich zielen und sie auf mich werfen. Als er dieses alberne Spiel leid war, gab er mir zwei lauwarme Dosen Dr. Pepper, ein aufgeweichtes Corned-Beef-Sandwich und eine leere Plastikflasche, damit ich meine Notdurft verrichten konnte. All das sollte ich mit meiner freien linken Hand erledigen.

Ich stellte mir die anderen vor: Ari beim Abendessen in irgendeinem feudalen Londoner Restaurant; Tomas in irgendeinem luxuriösen Versteck im Irak; die Wahrsagerin Diane Chen hinter ihrer Bar, die laufende Musik mitsummend und mit ihren Gästen herumflachsend. Ihre Prophezeiungen waren so präzise, dass sie wirklich ins Wahrsager-Business einsteigen sollte. Ich spürte das Gewicht von Aris Talisman auf meiner Brust. Sogar der Sonnengott hatte mich im Stich gelassen.

Ich schlief unruhig und wachte schließlich völlig desorientiert und benebelt auf. Ich wusste, dass wir viele Stunden in der Luft gewesen waren, und hatte eine vage Erinnerung daran, dass wir irgendwann gelandet und kurz darauf wieder gestartet waren – mehr nicht. Mein Getränk muss mit einem Betäubungsmittel präpariert worden sein.

Das Flugzeug begann mit seinem steilen, Übelkeit erregenden Sinkflug. Ich lauschte dem leisen Rumpeln, als das Fahrwerk ausgeklappt wurde, spürte kurz darauf den Ruck, als wir wieder auf Mutter Erde aufsetzten, und hörte, wie die Strahlturbinen auf Umkehrschub geschaltet wurden. Während wir zu unserem Standplatz rollten, öffnete Lazarus meine Handschellen. Als ich die Beine streckte und aufzustehen versuchte, wäre ich beinahe gestürzt. Meine Gelenke protestierten wie bei einem Achtzigjährigen. Er zog den Vorhang auf. »Gehen Sie nach vorne. Ward wartet auf Sie.«

Ward winkte mich zu sich, als er mich sah, und deutete auf einen Platz auf der anderen Seite des Tisches, an dem er residierte. Lazarus baute sich hinter mir auf. Niemand sonst war in der Kabine. Ich versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, gewahrte jedoch nur eine kahle, weißliche Wand und schloss daraus, dass wir uns in einer Art Hangar befinden mussten. Ward griff in seine Sakkotasche und holte eine Brieftasche sowie einen dunkelblauen Reisepass mit dem Siegel der Vereinigten Staaten hervor.

Er ließ beides in meinen Schoß fallen. »In der Brieftasche finden Sie Kreditkarten und einen Ausweis.«

Ich klappte den Reisepass auf und bekam einen gelinden Schock, als ich sah, dass es mein eigener war. »Woher haben Sie den?«

»Eris hat ihn nach dem Schwätzchen aus Ihrer Wohnung mitgenommen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir der Meinung, es wäre eine geeignete Präventivmaßnahme, Ihnen die Ausreise aus unserem geliebten Heimatland zu erschweren.«

»Reise ich jetzt unter meinem richtigen Namen ein?«

»Ich will mich nicht mit den Zollbehörden anlegen. Hier drüben ist man in solchen Dingen sehr streng.«

Ich konnte kaum glauben, was er sagte. Mich durch den Zoll zu lotsen, wäre für mich wie ein Geschenk, wurde mir doch die Gelegenheit geboten, vor ihnen zu fliehen.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, nahm Ward ein Telefon vom Tisch zwischen uns. Es war ein großes, klobiges Teil und glich einer TV-Fernbedienung mit Antenne.

Ward hielt es hoch. »Ein Satellitentelefon. Dort, wohin wir jetzt kommen, gibt es nicht so viele Mobilfunk-Sendetürme.« Er tippte eine Zahlenfolge ein, wartete eine knappe Minute und begrüßte dann die Stimme am anderen Ende. »Hol sie an den Apparat«, sagte er und hielt mir das Telefon hin. »Jemand möchte Ihnen Hallo sagen.«

Ich angelte mir das Telefon, presste es an mein Ohr und meldete mich. »John Madison.« Ich wartete, bekam aber keine Antwort, sondern hörte nur ein statisches Rauschen. Ich reichte Ward das Telefon zurück. »Da ist niemand am anderen Ende. Ist das ein weiteres Ihrer albernen Spielchen?«

Ward schnappte nach dem Telefon und brüllte fast hinein. »Reden Sie mit ihm, wie wir Ihnen befohlen haben, sonst geht es Ihnen schlecht!«

Offensichtlich war Laurel am anderen Ende. Es freute mich, auf diesem Weg zu erfahren, dass sie immer noch den Willen besaß, sich ihnen zu widersetzen.

Sie redete mit mir, als ich das Telefon wieder ans Ohr hielt. »Sie zwingen mich, mit dir zu sprechen. Das war nicht meine Idee.«

»Es ist trotzdem gut, dich zu hören«, erwiderte ich.

»Deine Stimme klingt so seltsam. Als wärest du unheimlich weit weg.«

Sie würde ausflippen, wenn sie erführe, wie weit. »Ich bin in einem sehr großen Raum im obersten Stockwerk eines Gebäudes. Hier hallt es wie in einem großen Saal. Vielleicht liegt es daran. Geht es dir einigermaßen gut?«

»Fragst du das ernsthaft? Klar geht es mir gut. Ich verbringe meine Zeit damit zu überlegen, wie sie es tun werden. Vielleicht lassen sie es aussehen wie einen Unfall.« An dieser Stelle brach ihre Stimme ab.

»Laurel, wenn sie uns wirklich loswerden wollten, hätten sie es längst getan. Versuch mal, in dieser Richtung zu denken.«

Ich hörte sie lachen, aber es war eine Reaktion, die eher aus völligem Unglauben und Verzweiflung erwuchs.

Ward hob seine dicke Patschhand, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich ignorierte ihn. »Es wird nicht mehr lange dauern, Laurie. Sie sind dicht davor zu kriegen, was sie haben wollen. Und ich habe ihnen noch immer etwas anzubieten.«

Ihre Antwort hörte ich nicht mehr, weil Lazarus mir das Telefon entriss und Ward zurückgab, der es ausschaltete und im Aktenkoffer neben seinem Sitz verstaute. Er stand auf. »Sie haben noch weitere Informationen? Ich würde sie gerne hören.«

»Ich habe das nur gesagt, um sie zu beruhigen.«

»Dieses eine Mal will ich Ihnen glauben. Falls beim Zoll oder irgendwo im Flughafen etwas passieren sollte, stirbt sie. Sie natürlich auch. Eris hat ihren speziellen Drogenvorrat immer bei sich.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass sie mir mitten im Flughafen mit Heroin einen Goldenen Schuss setzen will?«

»Sie verfügt auch noch über andere, sehr wirkungsvolle Chemikalien. Wissen Sie, was ein Taipan ist?«

»Eine Schlange.«

»Die tödlichste auf dem Land lebende Giftschlange. Ihr Gift lähmt Ihre Atemorgane in weniger als einer Minute. Eris hat davon einen kleinen Vorrat in ihrem Gepäck, nebst einer sehr wirkungsvollen Vorrichtung, um es zu verabreichen.« Er wischte sich ein imaginäres Stäubchen von seinem Jackett und rückte seine Krawatte zurecht. »Und nun zu dem Grund unseres Besuchs hier. Wir sind unterwegs zu einem Ort namens Afyon. Schon mal davon gehört?«

»Nein.«

»Das ist ein Ort, der für seine Teppiche berühmt ist. Wir befinden uns auf einer Geschäftsreise, um einige wertvolle Teppiche zu kaufen. Falls Sie gefragt werden, können Sie doch darüber fachmännisch reden, oder nicht?«

»Sie sind verrückt. Wir befinden uns mitten in einem Kriegsgebiet, und Sie wollen mit der lächerlichen Geschichte durchkommen, Sie hätten die Absicht, Teppiche zu kaufen?«

»Ob die Geschichte lächerlich ist oder nicht, sollten Sie ruhig mir überlassen.« Ward unterband alle weiteren Diskussionen, indem er zum Ausgang ging. Ich folgte ihm mit Lazarus als wachsamer Nachhut.

Von Shim oder den Piloten war nichts zu sehen. Wie ich angenommen hatte, befanden wir uns in einem Hangar und wurden lediglich von Eris erwartet. Sie war blass und sichtlich erschöpft. Ihr platinblondes Haar war strähnig und zerzaust. Dunkle Ringe lagen um ihre Augen. Hatte Ward sie vielleicht wegen ihrer Fehler zusammengestaucht? Oder meldete sich bei ihr nach allem so etwas wie ein Gewissen? Vielleicht perlte es doch nicht so leicht an ihr ab, anderen Leuten Schaden zuzufügen.

Eine schwarze Mercedes-Limousine parkte vor dem Hangar. Aber das war es nicht, was mich abrupt stehen bleiben ließ. In nicht allzu weiter Entfernung ragte ein helles, modernes Gebäude auf, umgeben von Passagierschleusen ähnlich den Speichen eines Rades, an deren Enden Passagiermaschinen internationaler Fluggesellschaften standen. Nicht ein einziges Militärfahrzeug war zu sehen. Ehe Eris oder Lazarus mich daran hindern konnten, packte ich Wards Schulter und riss ihn zu mir herum. »Das ist ganz bestimmt nicht Bagdad. Wo sind wir?«

Er lachte spöttisch. »Auf dem Atatürk International Airport. Willkommen in Ihrer Heimat, Madison.«

Babylon
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