Zwanzig
Die vorübergehende Dependance des Museum of Modern Art befand sich in den Räumen der ehemaligen Swingline Büroklammernfabrik. Die Bürger von Queens hatten gejubelt, als sie erfuhren, dass eine der bedeutendsten kulturellen Einrichtungen der Stadt den East River überquerte, um sich in ihrem Stadtteil niederzulassen. Zum Dank hatten sie dem Gebäude einen leuchtend blauen Anstrich spendiert.
Ari stand in der Nähe des vorderen Eingangs und zog nervös an seiner Gitane. Laurel, die ein wenig erschöpft und geradezu zerbrechlich aussah, wartete neben Tomas. Zu wissen, dass er auf sie aufpasste, nahm einerseits eine Last von meinen Schultern, aber dass er es auf eine derart besitzergreifende Art tat, ging mir andererseits ziemlich auf die Nerven.
Claire Talbot erwartete uns schon, nachdem wir uns in die Besucherliste eingetragen hatten. Sie begrüßte mich mit einem theatralischen doppelten Kuss auf die Wangen und Tomas und Ari mit einem förmlichen Händedruck. Laurel musste sich mit einem frostigen Lächeln begnügen. Sie und der Wärter geleiteten uns durch einen Saal, der zur Dauerausstellung impressionistischer Gemälde gehörte. Dabei kamen wir auch an der Sternennacht vorbei. Das echte Gemälde ließ sämtliche Darstellungen des gleichen Motivs zur Bedeutungslosigkeit verblassen. Van Goghs typischer Stil erreichte mit diesem Bild seine höchste Perfektion: kraftvolle Pinselstriche, verschlungene Spiralen, leuchtende Ultramarin- und Blauschattierungen. Über allem der Mond in einem strahlenden Gelb, daneben am selben Himmel die Sonne, eher blass und wässrig verschwommen. Dazu die Zypresse, die dunkel in den Himmel ragte wie ein antiker Obelisk.
»Vor der Sternennacht drängen sich immer die Besucher«, sagte Claire. »Die Leute können von seinen Werken offenbar nicht genug kriegen. Überleg mal, wie viele Poster und Kunstdrucke davon auf unserem Globus existieren. Wenn ich alleine an die Sonnenblumen denke!« Sie lachte verhalten. »Diese Periode ist nicht unbedingt meine Spezialität, wie du weißt, mein Lieber.« Sie strich mir dabei mit den Fingern über den Jackenärmel, was, wie ich feststellen konnte, Laurel sehr bewusst zur Kenntnis nahm.
Claire war optisch eine einzige Verführung – alabasterweiße Haut, eine üppige Mähne kupferfarbenen Haars, das fast bis auf ihre Schultern reichte, braune Augen, lange, schmale Finger und ein gertenschlanker Körper. Sie liebte eigenwillig gemusterte Kleidung und auffälligen, handgefertigten Schmuck. Ich erinnere mich an ein Kleid, das sie einmal trug, dessen Muster einem Mondrian-Gemälde nachempfunden war. Nachdem sie sich von Phillip getrennt hatte, kreuzten unsere Wege sich häufig bei Empfängen und Präsentationen, wo sie nicht müde wurde, mich mit immer neuen Komplimenten zu überschütten. Einmal schnappte ich tatsächlich nach dem Köder, bis ich erkennen musste, dass sie mir eigentlich nur einen meiner besten Kunden abspenstig machen wollte.
Leuten gegenüber, die sie für gleichrangig erachtete, verhielt Claire sich wie ein Panther. Verführerisch und samtweich. Und sie war nicht nachtragend. »Man weiß nie«, sagte sie mir einmal, »wann die Leute, die man kennt, einem nützen können. Es hat keinen Sinn, sie sich zu Feinden zu machen.« Diese berechnende Einstellung traf jedoch nicht auf ihre Mitarbeiter zu. Die Wutausbrüche und divenhaften Gardinenpredigten, die sie sich gelegentlich anhören mussten, waren legendär. Desgleichen ihre Launen. In der einen Sekunde hitzig und aufbrausend und schon in der nächsten eiskalt und abweisend, ganz wie es ihr jeweils passte.
In ihrem Büro verteilte sie uns auf glänzende Plastiksessel in Weiß, Zitronengelb und Schwarz. Ich zeigte ihr eine Kopie des Senatssiegels. Sie betrachtete es für zehn Minuten, ging dann zu ihrem Computer, tippte etwas auf der Tastatur, dann lehnte sie sich lächelnd zurück.
»Ich habe nicht alles vergessen, was ich auf Daddys Schoß gelernt habe. Siehst du diese spitz zulaufende Mütze über den dreizehn Sternen? Das ist eine sogenannte Phrygische Mütze. Die Phrygier kamen aus Thrakien, und zwar ursprünglich aus einer Gegend, die wir heute als Bulgarien kennen. Etwa um 1000 v. Chr. Die Thraker wanderten weiter in die Region Anatolien in der Türkei. Dort gründeten sie das Königreich Phrygien.«
Ich blickte verstohlen zu Tomas. Am vorangegangenen Abend hatte er angedeutet, dass der von König Assurbanipal gestohlene Schatz aus Anatolien, dem Zentrum des phrygischen Königreichs, stamme. Damit hatten wir eine weitere Verbindung.
»Die Phrygische Mütze überdauerte die Zeiten«, fuhr Claire fort. »Man kann ihren Weg in der Kunstgeschichte genau verfolgen. Man sieht sie an der aus dem zweiten Jahrhundert stammenden griechischen Büste von Attis, dem Geliebten der Göttin Kybele, und es gibt zahlreiche Darstellungen des persischen Gottes Mithras mit dieser Kopfbedeckung. Aus Mithras wurde schließlich ein römischer Kriegsgott, daher war die Phrygische Mütze für die römischen freigelassenen Sklaven so etwas wie ein Symbol der Freiheit.«
Laurel warf ein, dass eine ähnlich geformte Kopfbedeckung auch häufig während der französischen Revolution getragen wurde.
»Natürlich«, erwiderte Claire mit einem Anflug von Herablassung, wie ich glaubte, herauszuhören. »Aufgrund dieser Verbindung mit dem Freiheitsgedanken. Wie ich bereits erklärt habe.«
»Bringt uns das irgendwie weiter?« Ich richtete die Frage an den Rest unserer kleinen Gruppe.
Ein unbehagliches Schweigen entstand. Ari seufzte. »Für mich ist das zu kompliziert.«
»Wonach genau sucht ihr denn?«, fragte Claire.
»Wir brauchen einen Begriff aus dem Bereich der Alchemie mit einem speziellen Bezug zur Umwandlung von Blei in Gold. Aber ich wüsste nicht, was die Phrygische Mütze damit zu tun haben könnte.«
»Du hattest mir doch erklärt, es gebe einen Zusammenhang mit Albrecht Dürer.«
»Darauf hat Phillip uns gebracht. Tomas arbeitet an einem Aufsatz über die mesopotamischen Ursprünge in der Lehre der Hermetik. Er ist im Zuge seiner Recherchen auf das Senatssiegel gestoßen.«
»Wie geht es meinem Ex eigentlich?« Ich saß ihr am nächsten und sie drückte meine Hand. »Ich wette, er hat dir dafür etwas in Rechnung gestellt«, sagte sie.
Alle lachten, außer Laurel. Sie war weder von Claires eigenwilligem Humor noch von der Koketterie beeindruckt, die sie gegenüber Männern an den Tag legte.
»Nun, Sie waren eindeutig auf der richtigen Spur.« Claire bedachte jetzt Tomas mit einem verführerischen Lächeln. »Es gibt tatsächlich eine enge Verbindung. Einen Moment.«
Sie suchte weiter im Internet, dann forderte sie uns auf, einen Blick auf den Bildschirm zu werfen.
»Dies stammt aus einem Buch mit dem Titel Atalanta Fugiens von Michael Maier aus dem siebzehnten Jahrhundert. Der Abschnitt des Buchs, in dem dieses Bild erscheint, ist eine Art Anleitung für den Prozess der Transmutation. Dieser seltsam geformte Trichter über dem Kopf des Alchemisten ist Teil des Destillationsapparats, in dem das Blei gereinigt wird. Fertige Goldmünzen liegen in einem Korb auf dem Holzklotz. Beschreibungen alchemistischer Prozesse waren in Manuskripten aus dem Mittelalter und der Renaissance häufig zu finden.«
»Er trägt eine Phrygische Mütze«, stellte Laurel fest.
Aus Atalanta Fugiens von Michael Maier, 1617
»Das ist richtig. Man sah in dieser Kopfbedeckung eine enge Verbindung zur Alchemie.«
Claire fuhr sich mit der Hand durch ihre Locken, die im Licht schimmerten wie ein Gespinst aus Gold und Kupfer. »Der griechische Mythos von Jasons Goldenem Vlies hatte seinen Ursprung in Phrygien, wo Gold in sagenhaften Mengen gefunden wurde. Der Mythos entstand, weil in der dichten Wolle der Schafsfelle, die in dem an Gold überreichen Fluss Pactolus gewaschen wurden, oft winzige Goldkörner hängen blieben.«
Sie ging weiter zu einer anderen Website und deutete auf ein neues Bild. »Dies stammt aus einem anderen berühmten Buch aus derselben Zeit mit dem Titel Mutus Liber – Das stumme Buch. Es kommt aus Frankreich. Bis auf ein paar Zeilen am Anfang enthält das Buch keinen geschriebenen Text, sondern nur Bilder. Wie ein Textbuch ist es eine Anleitung zur Umwandlung von unedlen Metallen in Gold. Weiß der Himmel, wie viele arme Seelen mit ihrem Leben für diese Experimente haben zahlen müssen. Sie starben an giftigen chemischen Substanzen, furchtbaren Verbrennungen oder an noch Schlimmerem. Der russische Zar Fedor Ivanovich zwang einmal zwei Alchemisten, die ihr Versprechen, Gold herzustellen, nicht einlösen konnten, Quecksilber zu trinken.«
Ich dachte an Shim, der den gleichen Traum gehabt hatte und dafür schrecklich gezeichnet worden war.
»Europäische Staatsoberhäupter fürchteten die Alchemisten, weil ihre Goldschätze an Wert verloren hätten, wenn ihnen die Herstellung von Gold gelungen wäre. Andererseits setzten sie alles daran, das Geheimnis dieses Prozesses in Erfahrung zu bringen und sich seiner zu ihrem eigenen Nutzen zu bedienen.«
»Du meinst, sie verboten diesen Prozess nur, wenn jemand anders ihn kannte?«, wollte ich wissen.
Claire lächelte. »Ja. Wie du siehst, ändert sich im Grunde nichts. Wahrscheinlich glaubst du, dass die ganze Alchemie nichts anderes ist als ein Riesenschwindel. Oder ist, was man ihr zuschreibt, wirklich möglich? Die Antwort ist ja. Russische Wissenschaftler verwandelten im Jahr 1972 in einer geheimen Forschungseinrichtung am Baikalsee Bleiplatten in Gold, und zehn Jahre später gelang einem Amerikaner, Glenn Seaborg, das Gleiche mit Bismutatomen. Eine Herstellung größerer Mengen wäre jedoch unvorstellbar teuer.«
Claire hatte recht. Aus der Sicht der modernen Wissenschaft betrachtet erschienen jene frühen chemischen Forschungen beinahe lächerlich. Zweifellos waren auch eine bedeutende Anzahl von Alchemisten nichts anderes als Quacksalber, ob sie nun eine einfache Methode zur Erzeugung von Gold versprachen oder irgendwelche Elixiere, die dem Menschen die Unsterblichkeit verhießen, zu verkaufen suchten. Trotzdem ertappte ich mich bei der Frage, ob einige dieser frühen Praktiker tatsächlich eine brauchbare Formel gefunden hatte. Viele bedeutende Gelehrte hielten es in jenen Zeiten immerhin für möglich.
Claire tippte auf den Bildschirm. »Die Hermetiker vertreten die Auffassung, dass jegliche Materie sich aus den gleichen Elementen zusammensetzt. Sie brauchten nur den richtigen Schlüssel zu finden, um das Gleichgewicht zu verschieben und die Umwandlung von einem Material in ein anderes auszulösen. Mein Vater glaubte, dass die Alchemie in Wirklichkeit eine Allegorie für die verschiedenen Stadien der geistigen Reinigung war.«
»Wer hat denn dieses Mutus Liber geschrieben?«, fragte Ari.
»Ein Hugenotte«, sagte Claire. »Die protestantischen Hugenotten Frankreichs wurden seinerzeit regelrecht gejagt. Daher musste der Autor seinen Namen geheim halten. Auf der Titelseite des Buchs steht daher eine Textzeile in Latein: ›Cuius nomen est Altaus.‹ Der Name des Autors ist ein Anagramm, um seine wahre Identität zu verschleiern. Sein richtiger Nachname lautete Saulot.«