Zwei
Wieder zu Hause, holte ich eine eisgekühlte Flasche Bier aus dem Kühlschrank und nahm sie mit auf den Balkon. Der unverwechselbare Geruch von Marihuana lag in der warmen Nachtluft. Das war einer der großen Vorteile, wenn man in direkter Nähe der Clubs von Greenwich Village wohnte: Man wurde durch bloßes Atmen schon high. Ein ungewisses gelbliches Licht, erzeugt von den Reklameschriften und den Straßenlampen, lag über der Szenerie. Gruppen von Clubgästen unterhielten sich lautstark, Mädchen in Vierhundertdollarjeans und zehn Zentimeter hohen High Heels flanierten auf den Bürgersteigen, verfolgt von Männern, die versuchten, sie anzusprechen, und dabei kein Glück hatten.
Obgleich Samuel und ich uns die Wohnung geteilt hatten, waren wir während der letzten Jahre eher wie Schiffe gewesen, die sich auf dem weiten Ozean zufällig nachts begegnen, da er häufig an irgendwelchen Ausgrabungen teilnahm und ich ständig zu einem Kunden unterwegs war. Wir liebten diesen Ort; er war für uns beide ein wahres Refugium. Was angesichts unserer beruflichen Tätigkeit überraschte, war, dass die Möbel durchaus modern aussahen. Wir besaßen allerdings auch einige ältere Stücke – wertvolle turkmenische Teppiche, skandinavische Teakmöbel aus den Sechzigerjahren, die ich bei einem Händler gefunden hatte, der gerade im Begriff gewesen war, sein Geschäft zu schließen, sowie diverse Eames-Lampen und -Leuchter. Die hohen Decken vermittelten einen Eindruck von Geräumigkeit, und am Tag strömte reichlich Licht durch die hohen Fenster. An den wenigen Winterabenden, die ich allein in der Wohnung verbrachte, saß ich am liebsten vor dem Gaskamin, hörte Musik und schaute dem Schneetreiben draußen zu. Ich legte den großen Roy Orbison oder Diana Krall in den CD-Player und ließ mir von ihren Stimmen die Seele streicheln.
Allein an die guten Zeiten zu denken, die wir erlebt hatten, als wir unsere Wohnung im Laufe der Jahre einrichteten, ließ den Schmerz über den Verlust sofort wieder aufflammen. Und wenn die Erinnerungen an Samuel mich geradezu überrollten, wie es häufig geschah, dauerte es lange, bis ich mein inneres Gleichgewicht wiederfand.
Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ich nicht den Mut aufgebracht, Samuels Wohnbereich zu betreten. Seine Habseligkeiten lauerten dort abweisend und warnten mich stumm, die Tür zu öffnen und in ihnen herumzukramen. Die meisten Stücke waren im Laufe der Jahrzehnte auf Reisen in die Ägäis oder in den Nahen Osten zusammengetragen worden. Darunter befand sich ein seltener Jaf-Teppich mit Brokatkanten, dessen zinnoberrote und kobaltblaue Knüpffäden noch genauso leuchteten wie an dem Tag, an dem sie verarbeitet worden waren. Dann war da ein Brautgürtel aus gehämmertem Silber aus der ottomanischen Periode in Anatolien. Seine Bücher. Eine Ausgabe von Sieben Säulen der Weisheit mit einer handschriftlichen Widmung von T. E. Lawrence. Eine Erstausgabe von Lawrence Durrells Alexandria-Quartett. Ich hatte keine Hemmungen gehabt, Hal dabei zu helfen, sein Erbe unter den Hammer zu bringen, aber ich würde mich niemals von einem eigenen Erbstück trennen.
Der Gedanke an meine Erbschaft führte mich zurück zu meinem siebten Geburtstag, einem stürmischen Novembertag, als Samuel und ich zu einem unserer Lieblingsorte fuhren, einer Stadt am Ontario-See, in der ein enger Freund der Familie wohnte. Abgesehen von den vierzig Jahren Altersunterschied waren wir schon damals grundlegend verschieden. Ich impulsiv und fordernd; Samuel reserviert und maßvoll. Manchmal glaubte ich, dass er sogar darüber nachdachte, ehe er einen Schritt ausführte. Später war ich dann größer als er, hatte eine stämmige Figur entwickelt und besaß das dunkle Haar und die Augen unserer mediterranen Vorfahren. Er hatte hellgraue Augen und einen blassen Teint, wie er eher für Nordeuropäer typisch ist.
An jenem Tag war draußen kaum jemand zu sehen gewesen, nur ein einsamer Jogger und ein Ehepaar mit seinen Labradorhunden. Die Hunde holten Stöcke, die in den See geworfen wurden, und ließen sich auch durch das eiskalte Wasser nicht von ihrem Spiel abhalten. Samuel hatte meine Hand gefasst und ich drängte mich an ihn, während wir durch den körnigen Sand stapften. »Weißt du, John«, sagte er, »überall um uns herum gibt es Wunder über Wunder, aber die meisten Menschen nehmen sich nicht die Zeit, sie zu suchen. Sie sind viel zu sehr mit ihren Alltagssorgen beschäftigt.«
Die Parkverwaltung hatte bereits einen rostfarbenen Lattenzaun aufgestellt, um die winterlichen Winde daran zu hindern, Schnee auf den Gehweg zu wehen; ein Band welken Laubs lag an seinem Rand. Das Wasser war stahlgrau. Gischt wurde hochgeschleudert, wenn die Wellen sich an den Felsen brachen. Kein Salzgeruch lag in der Luft und es wurde auch kein Seetang an den Strand gespült; anderenfalls hätte man schwören können, am Ufer eines Ozeans zu stehen.
Ich dachte über das nach, was er gerade gesagt hatte, und erinnerte mich an einen Nachmittag im Sommer, als ich am Strand zwei Gläser mit winzigen bunten Glasscherben gefüllt hatte, die vom Wellengang rund und glatt geschliffen worden waren.
»Wie die Edelsteine, die ich im vergangenen Jahr gefunden habe?«, fragte ich ihn. Es hatte mich verwundert, dass derart schöne Objekte auf der Erde herumlagen und nur darauf warteten, aufgehoben zu werden. Die grünen, von denen ich die meisten hatte, waren meine Smaragde, die blauen meine Saphire. Gelegentlich fand ich auch einen Bernstein oder einen ganz seltenen Rubin.
»Ja, genau so«, sagte Sam. »Schauen wir mal in der Nähe der Felsen nach. Wer weiß? Vielleicht finden wir dort etwas.«
Es dauerte nicht lange, bis wir die Flasche entdeckten, die zwischen zwei größeren Steinen eingeklemmt war. Samuel musste mir dabei helfen, sie herauszuziehen. Es war eine mit einem Korken verschlossene, blassblaue Glasflasche. Darin konnte ich ein Stück zusammengerolltes, elfenbeinfarbenes Papier erkennen. Der Korken saß nicht sehr fest, und ich konnte das Papier schon bald aus der Flasche ziehen.
Samuel breitete es auf der ebenen Oberfläche eines größeren Steins aus und strich es glatt. »Nun, John«, verkündete er, »ich glaube, du hast eine Schatzkarte gefunden.«
Wäre ich ein wenig älter gewesen, hätte ich den Schwindel sicherlich sofort durchschaut. Als kleiner Junge konnte ich meine Begeisterung kaum im Zaum halten, während wir sorgfältig die auf der Karte angegebenen Schritte abzählten. Einhundert Schritte bis zu der Blaufichte. Vierzig bis zu dem Trinkbrunnen am Musikpavillon und zurück zum Bootshaus.
Wir gelangten schließlich zu einem Blumenbeet hinter einer Zedernhecke, auf dem bemerkenswerterweise eine einzige Rose übrig geblieben war.
»Der Schatz liegt unter dem Zeichen der Rose, steht hier geschrieben«, sagte Samuel.
Indem ich mich auf die Knie fallen ließ, bearbeitete ich das lockere Erdreich unter der Pflanze mit einem Stock. Samuel kniete neben mir. Sein altmodisches Jackett aus Harris Tweed bauschte sich im Wind, seine Fingernägel hatten dunkle Schmutzränder.
Er spielte seine Rolle wirklich überzeugend.
Mit einem Papiertuch wischten wir vorsichtig die restliche Erde weg und hoben einen kleinen Kasten aus der flachen Grube, die wir gegraben hatten. Er war an einem Ende abgerundet, am anderen Ende quadratisch. Es war typisch für Samuel, dass er den Kasten nicht mit irgendwelchem Kinderkram gefüllt hatte, sondern mit Gegenständen, die einen echten Wert besaßen. Ich öffnete einen kleinen Stoffbeutel, der sieben Goldmünzen enthielt. Ich holte sie heraus, betrachtete die ungewöhnlichen Bilder und spürte ihr Gewicht, als ich sie in den Händen wog. Da war auch eine Kupferscheibe, vom Alter grün verfärbt, mit dem Bild eines Vogels auf einer Seite, sowie ein steinernes Siegel und ein goldener Schlüssel. Später probierte ich den Schlüssel an jedem Schloss in unserem Haus aus, aber ich bekam nie heraus, was sich damit öffnen ließ. Im Kasten befand sich außerdem eine kleine Emailleschachtel, darin das vergilbte Foto einer Frau im Profil. Auf der Rückseite war eine Inschrift in Buchstaben, die ich nicht kannte.
»Bewahre diese Dinge an einem sicheren Ort auf«, sagte Samuel. »Sie werden eines Tages für dich von großer Bedeutung sein.«
Mein Mobiltelefon trällerte und holte mich in die Gegenwart zurück. Ich schaute auf die Uhr. Fast halb eins.
Ich drückte auf die Taste, um das Gespräch anzunehmen, und hoffte, die Stimme der blonden Frau zu hören, doch es war nur Hal, der kaum zu verstehen war. Ich konnte nur meinen Namen heraushören und sonst nichts. Danach eine Pause von fast einer Minute, in der nur mühsames Atmen zu hören war.
Seine Stimme wurde deutlicher. »John, bist du da? Komm zurück ins Haus. Ich brauche dich.« Das Klappern, als sein Telefonhörer auf einen harten Untergrund fiel, ließ mich erschrocken zusammenzucken. Die Verbindung wurde unterbrochen.
Ich konnte mich nicht erinnern, dass Hal irgendwann, seit wir erwachsen waren, jemals bei irgendetwas Persönlichem meine Hilfe gesucht hatte. Dass er jetzt darum bat, war ein deutliches Zeichen dafür, dass er in echten Schwierigkeiten stecken musste. Ich schnappte mir meine Wagenschlüssel, rannte die Hintertreppe hinunter, um Zeit zu sparen, und stieg in meinen Wagen. Nachdem ich wie ein Verrückter durch die Straßen gekurvt war und jede Geschwindigkeitsbegrenzung missachtet hatte, parkte ich vor der Kirche in der Nähe von Hals Stadthaus. Die Straße war ungewöhnlicherweise völlig menschenleer und düster. Die großen Häuser wirkten in der Dunkelheit wie riesige Mausoleen, die von ihren Toten verlassen worden waren.
Ich stieg aus, tippte den Zahlencode für das Türschloss der Haustür ein und rannte durch die hallenden Flure und die Treppe hinunter, durch die Küche in den Garten. Ein Hund kläffte nebenan. Ansonsten war es totenstill.
Sicherheitsdetektoren registrierten meine Bewegungen, und Lampen flammten auf und sorgten im Garten für Licht. Ich sah Hal auf dem Zementboden des Pavillons liegen, einen Arm quer über die Stirn geworfen. Seine Augen standen weit offen und starrten ins Leere. Sein Gesicht erinnerte an Edward Munchs erstarrten Schrei.
Ich bückte mich, berührte die Haut an seinem Halsansatz und suchte den Pulsschlag in der weichen Halsbeuge. Ich versuchte, seinen Mund mit Gewalt zu schließen, und dachte in meiner Panik, dass ich ihn wiederbeleben könne, wenn ich das Gesicht nur in seinen normalen Zustand zurückversetzte. Ich versuchte, ihm die Augen zuzudrücken, doch sie sprangen auf beängstigende Weise sofort wieder auf, sobald ich meine Finger von den Lidern löste.
Ich griff nach seiner Hand, die bereits erkaltete, und wärmte sie. Mein Gott, Hal. Du mit deiner ständigen Klage, kein reines Heroin zu kriegen. Den Fehler macht man nur einmal.
Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich eine hässliche Wunde an seiner linken Hand erkennen, wahrscheinlich eine Folge seines Sturzes. Ich suchte nach meinem BlackBerry, um einen Krankenwagen zu rufen, und stellte fest, dass Hals Mobiltelefon unter seinem Sessel lag. Ich hob es auf. Die vordere Schale war geborsten, der Rand war schartig wie eine Säge aus schwarzem Plastik.
Hals Injektionsspritze lag immer noch auf dem Tisch neben einem leeren Glas. Bis auf ein paar winzige Krümel war die durchsichtige Plastiktüte, in der sich sein Heroin befunden hatte, leer. Der Hund begann wieder zu kläffen, diesmal in Form eines gelegentlichen schrillen Jaulens, als hätte er eine Beute gesichtet, der er jeden Moment den tödlichen Biss verpassen wollte.
Ich hörte scharrende Schritte auf den Steinplatten und richtete mich auf. Die blonde Frau, die ich kurz vorher kennengelernt hatte, stand da und starrte mich an, während ihr Gesicht die Andeutung eines Lächelns zeigte. Ihr Haar schimmerte im Licht der Gartenlampen wie helle, changierende Seide.
Sie sah immer noch so makellos aus wie auch schon früher am Abend, mit einer Ausnahme: ein Blutspritzer auf dem rechten Ärmel ihrer Bluse. Sie wirkte völlig entspannt, beinahe unbekümmert. Als wäre es völlig normal, dass Hal tot auf dem Fußboden des Gartenhäuschens lag. Sie kam ein paar Schritte auf mich zu.
»Hallo, John«, sagte sie. »So sehen wir uns wieder.«