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Sandy ließ den ganzen Tag nicht locker. Am Ende mussten wir aufhören, weil es zu dunkel wurde, um zu arbeiten, und alle total erschöpft waren. Es gab ein Reisgericht mit würzigem Eintopf, das wir gierig verschlangen, ohne viel Energie auf Konversation zu verschwenden. Dann suchten wir unsere diversen Schlafplätze auf.

Aber es fiel mir nicht leicht, einzuschlafen. Es war heiß und drückend und der Boden war hart. Khadija und ich lagen nebeneinander im Dunkeln neben Nhur und Amina, so dicht, dass wir uns nicht rühren konnten, ohne uns gegenseitig zu stören. Khadija lag ganz still, aber immer wenn ich aufwachte, merkte ich, dass auch sie wach war.

Irgendwann mitten in der Nacht gab ich es auf, so zu tun, als ob ich schliefe. Ich drehte mich so, dass mein Mund dicht an Khadijas Ohr lag und wisperte: »Möchtest du ein bisschen mit rauskommen?«

Sie nickte, setzte sich auf und griff nach ihrem Schleier.

»Wer wird dich denn jetzt schon sehen?«, fragte ich.

Sie ließ den Schleier liegen und wir schlüpften durch die Tür. Hinter dem Haus war es sehr ruhig und wir waren vor dem Rest des Dorfes verborgen.

Ich hatte einen sensationellen Sternenhimmel erwartet  – das, wovon die Leute in den Reiseführern immer so schwärmen –, aber es war bedeckt und so dunkel, dass ich Khadijas Gesicht nicht einmal sehen konnte, als sie sich an die Wand lehnte.

»Machst du dir Sorgen wegen der Show?«, fragte ich.

»Was?« Sie klang so verwirrt, als sei ihr dieser Gedanke noch gar nicht gekommen. »Warum sollte ich mir Gedanken darum machen, hin- und herzulaufen?«

»Was ist mit dem entführten Jungen?«, wollte ich wissen. »Der Cousin deines Vaters. Kennst du ihn?«

Es entstand eine lange Pause, bevor sie sagte: »Ja, ich kenne ihn. Ich kenne ihn sehr gut.«

Ihre Stimme bebte und ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich gefragt hatte, bis ich daran dachte, wie damals die Stimme meines Freundes Ben in der Schule vor lauter Liebeskummer gezittert hatte, als er Alice sagte. Er hatte dringend über sie reden wollen.

»Sieh mal«, sagte ich vorsichtig, »du musst mir nichts erzählen. Aber wenn du es tust, dann verspreche ich dir, es nicht weiterzusagen.«

Eine Minute, vielleicht länger, gab Khadija gar keinen Laut von sich. Wir hörten nur die leisen Geräusche von Menschen, die sich im Schlaf herumwälzten. Ich dachte schon, ich hätte etwas Falsches gesagt. Warum sollte sie mir schließlich vertrauen?

Aber sie tat es. Ganz plötzlich begann sie zu reden. Ihre Stimme war so leise, dass ich näher rücken musste, um sie zu verstehen.

»Er ist nicht der Cousin meines Vaters. Er ist mein Bruder.«

Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Der entführte Junge ist dein Bruder

»Mein einziger Bruder. Der Sohn meines Vaters und meiner Mutter.« Ich konnte jetzt ihr Profil sehen, das sich dunkel gegen den Himmel abhob. »Meine Eltern haben kein Geld, ihn zurückzukaufen  – nicht, seit sie mich nach England geschickt haben. Mahmoud hat keine andere Hoffnung als mich.«

Ich verstand diese ganze Geschichte einfach nicht und in meinem Kopf schwirrten tausend Fragen. Aber wenn einem jemand eine so große Sache erzählt, dann fragt man nicht nach. Man kann nur abwarten. Und zuhören.

Es dauerte lange, bis sie weitersprach. Als sie es tat, war ihre Stimme so rau wie Sandpapier, so, als müsse sie die Worte aus sich herauskratzen.

»Irgendwie haben diese Männer herausgefunden, dass ich für Sandy arbeiten sollte. Deshalb haben sie Mahmoud entführt. Suliman sagt, ich dürfe ihr nichts davon erzählen, weil sie sonst böse wird – aber so hartherzig kann sie doch nicht sein, oder? Wenn sie wüsste, dass er mein Bruder ist, würde sie es dann nicht verstehen und mir helfen?«

Ich wusste, wie es war, wenn man all seine Hoffnungen auf Sandy setzte und auf das, was sie tun könnte, wenn sie Lust dazu hatte. Ich hätte gerne etwas Tröstliches gesagt, aber es gab nur eines, was ich ganz sicher wusste.

»Bevor die Show vorbei ist, wird Sandy an gar nichts anderes denken. Sie konzentriert sich total darauf. Wenn es gut läuft  – ja, dann tut sie vielleicht etwas für dich. Sie kann gelegentlich sehr großzügig sein.«

»Aber dann ist es vielleicht zu spät«, erwiderte Khadija. »Ich muss entscheiden, was ich tun soll  – und wenn ich dann die falsche Entscheidung treffe?«

Was sollte ich darauf antworten? Wir redeten nicht weiter, sondern standen nur nebeneinander und sahen zu, wie der Himmel blasser wurde. Als es hell genug war, dass wir uns gegenseitig erkennen konnten, richtete sich Khadija auf und hob den Kopf.

»Zeit, mein Gesicht zu verstecken«, sagte sie und ging zurück ins Haus.

 

Eine halbe Stunde später war Sandy wach und weckte uns alle.

»Nur noch fünf Stunden, bis wir online sind«, rief sie, von Haus zu Haus gehend. »Kommt so schnell wie möglich heraus. Wir müssen alles überprüfen … und einen Probedurchgang machen!«

Ein kompletter Probedurchgang ist auf einer normalen Modenschau ein ziemlicher Luxus, aber das hier war alles andere als normal. Innerhalb einer Stunde waren alle auf ihren Plätzen und die mit Sonnencreme verschmierten Models marschierten auf und ab und versuchten, cool auszusehen.

Der Catwalk begann am Dorfrand und ging bis in dessen Mitte, wo sich die Models auf einer kleinen Bühne drehten. Dad hatte die Kamera genau dahinter aufgebaut, sodass man nichts sehen konnte außer dem Laufsteg selbst und dem weiten Land im Hintergrund. Wenn die Models auf die Kamera zuliefen, hoben sich ihre Kleider vor dem nackten, rötlichen Boden und dem weiten Himmel ab. Das war es, was die Menschen in London zu sehen bekamen. Ein reines, unverstelltes Bild von Licht und Raum.

Ansonsten herrschte das pure Chaos. Alles, was normalerweise Backstage verborgen war, stand hier offen herum. Kosmetik, Schuhe, Bürsten und Kämme, Dosen voller Clips und Nadeln und Sicherheitsnadeln und alle möglichen Fäden für schnelle Notreparaturen.

Die Kleider hingen auf Ständern im Freien, jedes zusammen mit den dazugehörigen Accessoires. An jedem Kleiderbügel hing auch ein Foto, das zeigte, wie das Kleid am Ende aussehen sollte, und Amina ging sie alle durch und zeigte den Ankleidehilfen, auf was sie achten mussten. Und sie betonte, wie schnell sie arbeiten mussten.

Plötzlich drehte sie sich stirnrunzelnd um. »Welche Häuser benutzen Sie als Umkleideräume?«

Sandy überprüfte gerade die Kleiderständer und verstand Aminas Frage nicht gleich. Doch dann sah sie abwesend auf. »Was meinen Sie mit Umkleideräumen?«

Bei einem Catwalk geht es um glatte Abläufe und blitzschnelle Wechsel. Sobald die Models den Catwalk verlassen, kommen die Ankleidehilfen, ziehen ihnen ein Kleid aus und das nächste an. Es wirbeln stets Dutzende von Leuten herum, aber das kümmert keinen Menschen. Doch diesmal war dieser Backstagebereich im Freien – und Sandy war davon ausgegangen, dass sich alle außer Khadija dort umziehen würden.

Als sie sich umsah und Aminas entsetztes Gesicht bemerkte, reagierte sie blitzschnell. »Wandschirme!«, schrie sie hektisch. »Suliman, die Männer sollen einen Bereich abschirmen. So dicht am Laufsteg wie möglich, aber außer Sichtweite der Kameras.«

Ich sah im ganzen Dorf nichts, was man als Wandschirme hätte benutzen können, aber da täuschte ich mich. Mitten in der ganzen Hektik begannen die Zimmerleute die Häuser am Dorfrand auseinanderzunehmen. Sie bestanden aus Zweigen und Matten und dieses Material brachten sie auf den Dorfplatz und stellten es zu einem dachlosen Umkleideraum zusammen.

Und als ob das nicht genug war, um alle verrückt zu machen, wuselte auch noch Tony Morales überall herum und fotografierte wie wild. Ich dachte immer, die Leute müssten über ihn stolpern, aber er war erstaunlich agil.

Den größten Teil des Vormittags verbrachte ich damit, ihn Khadija vom Leibe zu halten.

 

Es war kein leichter Morgen für sie. Sie musste nur zwei Kleider tragen  – eines, mit dem die Show eröffnet wurde, und eines ganz am Schluss – und daher hatte sie viel zu viel Zeit, herumzustehen und sich Sorgen zu machen. Doch das hatte keinen Sinn, also nahm ich sie mit, um Dad zu suchen.

Er sprach über das Satellitentelefon mit Marco in London. Die ganze Ausrüstung für den Weblink war geliehen und hierher gebracht worden und natürlich funktionierte nichts davon auf Anhieb. Das tut es nie. Aber sie hatten gerade die Verbindung hergestellt und nun liefen vier Männer mit Kameras und Kabeln herum und betrachteten die Ergebnisse auf verschiedenen Monitoren.

»Marco«, verlangte Dad mit dieser ruhigen Stimme, die er benutzt, wenn alle anderen längst schreien würden, »sagen Sie mir einfach, was Sie sehen.«

Marco brüllte ihn über viertausend Kilometer hinweg an, sodass sogar Khadija und ich seine Worte verstehen konnten.

»Das ist doch verrückt! Diese ganze Sache ist total verrückt! Das habe ich Sandy auch von Anfang an gesagt! Glauben Sie, dass sie jetzt völlig durchdreht? Sie kann doch nicht im Ernst erwarten …«

»Wird es nicht funktionieren?«, flüsterte Khadija.

»Keine Sorge wegen Marco«, flüsterte ich zurück. »Der macht nur Lärm.« Auch wenn er herumbrüllte, würde er Dads Anweisungen nicht ignorieren. Ich wusste, dass er auf seinen Monitor sah, genau wie Dad es hier machte.

Eine halbe Sekunde später bekamen wir die Bestätigung. Marco war gerade voll in Fahrt, doch plötzlich hörte er auf zu toben und sagte befriedigt: »Ahh!« Und dann: »Mein Gott, David, ist das wirklich so primitiv da, wo ihr seid?«

»Natürlich nicht«, erwiderte David sarkastisch. »Das ist nur der Somalia-Themenpark.« Dann lachte er auf. »Ist das nicht ein fantastischer Hintergrund?«

»Nicht schlecht.« Fast konnte ich Marco nicken sehen. »Gar nicht schlecht. Ich habe jetzt alles auf der großen Leinwand und sie sieht sensationell aus.«

Khadija und ich drehten uns zu den Monitoren um. Da war Emily Bate (ja, genau die Emily Bate – es war ihre allererste Show), die in einem knappen Nadelstreifenkostüm mit breiten Schultern und einem ledernen Mini-Schleier, der zu ihrer Aktentasche passte, den Laufsteg entlangschritt. Marco hatte recht. Sie sah sensationell aus.

»Ist das nicht toll?«, sagte ich zu Khadija.

Sie antwortete nicht, also drehte ich mich, um sie anzusehen. Sie starrte die Monitore an und ließ den Blick von einem zum anderen wandern. Und sie sah aus, als sei ihr schlecht.

»Was ist los?«, fragte ich.

Ohne mich anzusehen, antwortete sie: »Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie einfach es ist, das gleiche Bild auf mehr als einem Monitor zu sehen. Wenn man das hier machen kann, können andere Leute das bestimmt auch. Vielleicht auch … in einem Internet-Café?«

»Das ist sicher möglich«, antwortete ich. »Aber warum sollte sich jemand die Mühe machen?«

Sie sagte nichts, sondern starrte nur unverwandt Emily Bate an, die den Laufsteg entlangtänzelte.

Schöne Khadija
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