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Wenn du hart arbeitest, hatte Suliman gesagt, dann sorge ich dafür, dass du mit uns kommst. Das war die Abmachung – und er sorgte dafür, dass ich meinen Teil davon einhielt. Ich hatte noch nie so viel Zeit vor dem Computer verbracht wie in den zwei Wochen vor unserer Abreise. Es gab endlos viel vorzubereiten und nie genug Zeit.

Aber ich beschwerte mich nicht. Jedes Mal, wenn ich eine E-Mail nach Somalia schickte, dachte ich: In ein paar Wochen bin ich da und sehe, wie es wirklich ist. Ich konnte es immer noch kaum glauben.

Während der ganzen Sommerferien verbrachte ich den größten Teil des Tages bei Suliman und ging unsere Notizen durch, während er telefonierte und telefonierte und telefonierte. Und als die Schule wieder anfing, war ich immer noch jeden Abend stundenlang dort, kopierte Dokumente oder tippte Checklisten für alle.

Wir sollten in zwei Gruppen reisen. Suliman, Amina und ich reisten in der ersten zusammen mit Khadija. Wir würden in Dubai umsteigen und direkt nach Galkayo fliegen, wo Suliman alle anrufen würde, die er engagiert hatte, um bei der Show zu helfen. Die Fahrer und Wachleute würden uns in Galkayo treffen, aber alle anderen – Ankleidehilfen und Make-up-Experten, Zimmerleute und Computertechniker – würden uns in einem Dorf bei Eyl erwarten, wo die Show stattfinden sollte.

Die Ausrüstung für den Livestream würden sie mieten  – zu horrenden Kosten – und Suliman war dafür verantwortlich, die Sachen in Dubai zu checken und abzuholen, wenn sie in Galkayo eintrafen. Das bedeutete weitere Telefonate.

Sandy und ihre Gruppe würden zwei Tage nach uns abreisen und allein nach Dubai fliegen. Danach war Suliman auch für sie verantwortlich. Und dafür, dass alles rechtzeitig zusammenkam. Sandy erwartete, nach Somalia zu fliegen, direkt in das Dorf zu fahren und innerhalb von drei Tagen ihre Show aufzubauen.

Irgendwann verlor ich den Überblick. Ich saß nur in Sulimans Haus, erledigte die Papierarbeiten, die er mir gab, und hörte, wie er mit Verwandten und Freunden und Freunden von Freunden von Verwandten redete, diskutierte, argumentierte und Versprechungen machte. Seine Gespräche waren knapp und ernsthaft wie in einem Actionfilm. Mit dem Unteschied, dass er nicht nur so tat. Das hier war die Realität – und wir waren mittendrin.

Am Abend vor unserer Abreise war ich bei Suliman und checkte uns online für unsere Flüge ein. Als ich aufstand, um zu gehen, hob er die Hand, um mich aufzuhalten.

»Nur noch einen Augenblick«, murmelte er. Schnell beendete er seinen Telefonanruf und drehte sich dann mit seinem Stuhl zu mir um. »Nun … morgen geht es los«, meinte er. »Endlich. Bist du nervös?«

»Mir geht es gut!«, antwortete ich schnell.

Er lächelte mich schief an. »Wie soll das denn möglich sein? Du hast dein ganzes Leben lang immer nur Schlechtes über Somalia gehört, Dinge über Kriegsherren und Piraten und einen vollkommen maroden Staat. Die Presse berichtet nur schlimme Sachen über uns und unser Land. Das muss dich doch negativ beeinflussen.«

Ich vermied es, ihm in die Augen zu sehen, damit er nicht merkte, wie recht er hatte, aber er lachte nur und schlug mir sanft auf die Schulter.

»Das ist normal. Aber du musst dir keine Angst machen lassen. In ein paar Tagen wirst du mit eigenen Augen sehen, was wahr ist und was nicht. Und die Wahrheit ist – unser Land ist wunderschön. Voller Raum und Licht und Mut. Kennst du dieses Lied?«

Ich schüttelte den Kopf, als er die Augen schloss und begann leise auf Somali zu singen:

 

Die jungen Kameltreiber,
Sie ignorieren den Hunger,
Sie sind der Geist unseres Landes.

 

Die rote Erde auf der ich liege,
So ganz ohne Kissen,
Sie ist der Geist unseres Landes.

 

Die Zelte der Nomaden
Und die Schilde der Krieger,
Sie alle, sie sind der Geist.

 

Mach uns stark, mach uns frei,
Siegreicher Gott!

 

Dieses Lied ließ vor Sulimans geistigem Auge sicher ganz bestimmte Bilder aufsteigen und ich dachte: Bald werde ich diese Bilder auch sehen können. Bald werde ich selbst dort sein.

Er öffnete die Augen und lächelte mich an. »Es ist ein tolles Land, Abdi. Dort gehören wir hin.«

Seine Worte weckten schöne, aber auch schmerzliche Erinnerungen in mir. »Das hat mein Vater auch immer gesagt.«

Suliman nickte. »Das klingt ganz nach Ahmed. Er ist in Somalia verwurzelt.« Dann wandte er sich wieder dem Telefon zu und ich war damit entlassen.

Leise schloss ich die Tür hinter mir und dachte an meinen Vater. Suliman hatte von ihm gesprochen, als ob er noch lebte. Auch ich hatte dieses Gefühl, auch wenn er schon vor über einem Jahr gestorben war. Aber wie konnte er tot sein? Was war mit all seiner Energie geschehen? Während ich die Straße entlangging, stellte ich mir vor, dass aus seinem Körper ein großer Baum erwuchs, der dem Wüstensand kühlen Schatten spendete.

Meinte Suliman das mit »in Somalia verwurzelt sein«? Am frühen Morgen reisten wir ab. Obwohl es noch nicht mal richtig hell war, kamen Maamo und meine Schwestern mit nach unten, um zuzusehen, wie wir die Taschen in den Kofferraum von Sulimans Auto packten. Auch ein halbes Dutzend Nachbarn kam angelaufen und gab uns Botschaften an ihre Verwandten mit. Selbst Liban war wach genug, um mir eine SMS zu schicken – viel spaß in der alten heimat bruder.

Alle Nachbarn redeten und lächelten und Fowsia, Sahra und Maryan hüpften aufgeregt herum. Nur Maamo hielt sich im Hintergrund – bis zum letzten Augenblick. Gerade als Suliman den Motor anließ, sprang sie plötzlich vor und klopfte ans Fenster, damit ich die Scheibe herunterließ.

»Denk immer daran, wer du bist«, stieß sie hervor. »Und komm gut wieder nach Hause.« Sie tätschelte mir durch das Fenster die Hand, trat dann wieder zurück und presste die Lippen aufeinander, als ob sie mit den Tränen kämpfen müsste.

Und das war es. Wir fuhren los.

Wir reisten in einer Art magischem Zeitkontinuum, zu schnell, um es richtig zu begreifen. Ich hatte erwartet, dass unsere Reise langweilig und voller Hindernisse sein würde, aber Suliman wurde spielend mit allen Schwierigkeiten fertig. Der Flug war absolut pünktlich und bis wir gegessen und uns einen Film angesehen hatten, war es beinahe schon Zeit für die Landung in Dubai.

Dort gab es eine Verzögerung, weil wir auf unseren Weiterflug nach Galkayo warten mussten – aber wer könnte sich auf dem Flughafen von Dubai schon langweilen? Ich ging auf und ab, betrachtete den Luxus in den Läden und suchte mir die Kleidung aus, die ich mir kaufen würde, wenn ich das Geld dafür hätte. Als ich mir einen Ständer mit Sonnenbrillen ansah, kam Suliman und kaufte mir das coolste Exemplar im ganzen Laden.

»Wenn du mit mir reist, musst du gut aussehen«, erklärte er.

Das war natürlich ein Scherz, aber es war ein Scherz von der Sorte, bei der man sich richtig wohlfühlt.

Auf dem Weiterflug nach Somalia ließ Suliman Amina und Khadija nebeneinandersitzen, damit ich neben ihm den Platz am Fenster bekam. Wir flogen früh am Morgen los und lange Zeit war es noch zu dunkel, um etwas zu erkennen. Aber als die Sonne aufging, berührte mich Suliman am Arm, neigte sich über mich zum Fenster und deutete nach unten.

»Sieh mal!«

Unter uns zeichnete sich die somalische Küste scharf gegen das blaue Meer ab. Als das Flugzeug zu sinken begann, presste ich das Gesicht an die Scheibe und betrachtete die Klippen, Berge und Schluchten meines Landes, die sich meinem Blick boten. Nie zuvor hatte ich etwas Vergleichbares gesehen.

Es war der erste Blick, den ich auf das Land warf, aus dem ich stammte.

Schöne Khadija
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