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Ich war seit Wochen nicht mehr im Atelier gewesen, daher sah ich Sandys Somalia-Stimmungstafel zum ersten Mal. Ehrlich gesagt – sie war peinlich. Es war kaum etwas zu sehen. Nur ein Foto von einem Flüchtlingslager, die grobe Zeichnung eines Kamels (in hässlicher schwarzer Kreide), ein Haufen Federn und billiger Schmuck und ein paar bunte Secondhandstofffetzen, die nicht einmal sauber waren.

Was sollte denn daran inspirierend sein?

Abdi ging es offensichtlich ebenso. Er warf nur einen unbeteiligten Blick auf die Tafel und sah sich dann weiter Stefans Zeichnungen an. Aber er sagte nichts.

Wenn ich wie Khadija an einen fremden Ort gekommen wäre, hätte ich tausend Fragen gestellt. Zum Beispiel über den Kleiderständer in der Werkstatt unten. Wenn man nicht weiß, dass das nur Prototypen sind, an denen man die Entwürfe testet, bevor jemand teure Stoffe zerschneidet, wundert man sich normalerweise. Warum haben sie alle dieselbe Farbe? Warum sind sie nicht fertig? Das sind die Fragen, die Khadija hätte stellen sollen. Aber das einzige Wort, was sie sagte, war Somalia.

Ich glaube, auch Stefan war verwirrt. Er sah, wie Abdi die Entwürfe betrachtete, und es war eindeutig, dass sie ihm überhaupt nichts sagten. Aber immer noch kamen keine Fragen.

Stefan neigte sich zu mir und flüsterte verschwörerisch: »Haben die beiden eine Ahnung, was sich Sandy vorstellt? Von ihrer Kollektion?« Er hat eine Art, eine Augenbraue hochzuziehen, bei der sein ganzes Gesicht zu einem einzigen Fragezeichen wird.

Ich schüttelte den Kopf. »Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der das wirklich weiß.«

Das Fragezeichen wich einem Ausdruck heller Freude. »Es ist ein wunderschönes Konzept. Einfach und schön.« Er nahm seinen Stift und begann wieder zu zeichnen, aber ich sah, dass er aus dem Augenwinkel Khadija im Blick behielt, als sei sie die Inkarnation von Sandys wunderbarem Konzept.

Khadija betrachtete die alberne Stimmungstafel lange Zeit. Als sie sich umdrehte, lächelte Sandy. »Genug gesehen?«

»Das ist schön«, sagte Khadija. »Ich mag diese Dinge.«

»Also … wirst du für mich arbeiten?«, fragte Sandy. »Wenn ich dich brauche?«

Abdi hob den Blick von den Zeichnungen. »Das haben wir noch nicht entschieden«, sagte er. »Werden Sie sie bezahlen?«

Stefan runzelte die bleiche Stirn, als ob er etwas Ungehöriges gehört hätte, aber ich erinnerte mich daran, was Khadija im Café gesagt hatte, und es kam mir nur vernünftig vor, dass sie jetzt danach fragten.

»Nun?«, fragte ich Sandy. »Willst du mit ihnen jetzt übers Geschäft reden?«

»Dazu muss ich mit Khadijas Eltern sprechen«, erklärte Sandy ungeduldig. Sie sah Abdi wieder an. »Könnt ihr sie das nächste Mal mitbringen?«

Abdi zögerte und sah Khadija an.

Sandy runzelte die Stirn. »Ihr habt ein paar Monate Zeit, sie zu überzeugen. Die Show ist erst im September. Aber denkt daran – es muss ein Geheimnis bleiben. Wenn ihr anderen Leuten davon erzählt, ist die Sache gestorben, verstanden?«

»Natürlich sagen wir nichts«, erwiderte Abdi beleidigt. »Wir wissen, wie man Geheimnisse bewahrt.«

»Gut«, nickte Sandy. »Denn das hier ist wichtig. Eigentlich …«

Plötzlich unterbrach sie sich und suchte nach etwas in einem Regal. Als sie zurückkam, hatte sie ein schwarzes Stoffbündel dabei. Ein Bündel, das mir bekannt vorkam.

»Nimm das mit«, sagte sie zu Khadija. »Und zieh es an, wenn du wieder herkommst. Hier, in meiner Nähe darf niemand dein Gesicht sehen. Niemand darf wissen, wer du bist.«

Wie sollte denn das funktionieren? Habt ihr mal gesehen, wie es bei einer Modenschau hinter der Bühne zugeht? Es wuselt von Menschen. Ankleidehilfen, Stylisten, Friseure, Make-up-Artists, Fotografen – alle möglichen Leute und noch mehr. Und mittendrin sind die Models und ziehen sich ohne Umstände an und aus. Das wusste Sandy besser als ich.

Wie konnte sie also sagen: Niemand darf je erfahren, wer du bist?

Abdi verstand das auch nicht. »Wenn niemand ihr Gesicht sehen darf, warum dann das alles?«, fragte er.

Aber Sandy wollte es nicht erklären. Sie lächelte nur und griff zum Telefon. »Carmel, wir brauchen ein Taxi. Nach Battle Hill.« Sie grinste Abdi an. »Keine Angst, ich zahle auch dafür.«

Sobald das Taxi kam, brachte sie die beiden hinunter und als sie fort waren, stürmte sie mit einem Stück Papier in der Hand wieder hinauf.

»Es wird wirklich wahr!«, rief sie aufgeregt. »Ich bin mir sicher, dass Khadija es tun wird! Habt ihr ihr Gesicht gesehen?«

Sie heftete den Zettel mit einer roten Stecknadel an die Stimmungstafel. Sogar vom anderen Ende des Zimmers konnte ich lesen, was sie mit ihrer starken schwarzen Schrift notiert hatte. Einen einzelnen Buchstaben – A – und seine Handynummer.

»Das wird gut«, behauptete sie. »Stefan …«

Sie ging zu ihm hinüber und hockte sich neben seinen Stuhl, während sie leise und schnell auf ihn einredete. In den ersten paar Sekunden sah ich wieder das Fragezeichen auf seinem Gesicht auftauchen. Doch dann glättete sich plötzlich seine Stirn und er nahm sich ein neues Blatt Papier. Beide begannen an verschiedenen Enden des Blattes zu zeichnen und sahen immer wieder auf die Entwürfe des anderen.

Ich stand eine Weile da und sah ihnen zu, aber keiner von beiden nahm Notiz von mir. Also ging ich, um den Bus nach Hause zu nehmen.

 

Natürlich bekam Dad es zu spüren. Ich stampfte in der Küche auf und ab und schimpfte, während er mir Tee machte.

»Das ist wie bei einer Sekte in dieser Werkstatt! Sandy muss nur sagen Ihr habt die beiden nicht gesehen und schon löschen sie alle aus ihrem Gedächtnis. Ohne zu wissen, warum eigentlich.«

Dad schüttelte das Gemüse in der Pfanne und gab Soße darüber. »Sie war schon immer eine große Geheimniskrämerin. Die Leute erwarten eine Überraschung, wenn sie zu ihren Shows kommen.«

»Aber es geht doch um nichts Reales!« Ich pickte mir ein Stück rote Paprika heraus und biss wütend hinein. »Sieh dir doch nur diesen ganzen Somalia-Kram an. Da ist ein ganzes Land – eine ganze Kultur –, aber darum geht es ihr kein bisschen. Sie beutet es nur nach Ideen für ihre Entwürfe aus.«

»Nun, sie ist schließlich Designerin«, wandte Dad milde ein. »Wenn du eine Menschenrechtsvertreterin haben willst, musst du dir eine andere Mutter suchen.«

»Ich will keine andere Mutter! Ich will nur, dass sie nicht so – egozentrisch ist! Sie glaubt, die ganze Welt sei nur dafür da, dass sie sie ausbeutet!«

Dad schaufelte das Essen auf zwei Teller und stellte sie auf den Tisch. »Jetzt übertreib mal nicht. Sie beutet niemanden aus.«

»Doch, tut sie!«, behauptete ich und starrte ihn finster an. »Dich, zum Beispiel, beutet sie aus. Wenn sie an einer Kollektion arbeitet, erwartet sie, dass du alles stehen und liegen lässt und dich um mich kümmerst. Als hättest du selbst nichts zu tun. Als ob …«

»Stopp!«, verlangte Dad. »Aufhören!« Er legte mir die Hände auf die Schultern und schob mich zu einem Stuhl. »Jetzt iss und hör mir zu.«

Stirnrunzelnd nahm ich die Gabel in die Hand.

»Schon besser«, fand Dad und setzte sich mir gegenüber. »Du erinnerst dich nicht an meine Schwester Meg, oder?«

»Nein, nicht richtig«, antwortete ich. Sie starb, als ich vier Jahre alt war. Es gab ein paar alte Fotos, aber niemand sprach viel über sie. »Auf den Bildern sieht sie nett aus.«

»Sie war nicht nett«, erklärte Dad mit einem komischen kleinen Geräusch, halb Lachen und halb Knurren. »Sie war ungestüm, egoistisch und absolut selbstzerstörerisch. Sie hatte es mit Drogen und Alkohol und emotionaler Erpressung. Ganz und gar nicht wie Sandy, bis auf …«

Was auch immer die Ausnahme war, es schien immer noch an ihm zu nagen, auch nach all der Zeit. Er musste einen Moment warten und auch ich hielt mit der Gabel auf dem Weg zum Mund inne und fragte mich, was er sagen wollte.

»Meg hat uns allen das Leben schwer gemacht«, sagte er schließlich. »Aber sie war Sängerin. Und wenn sie sang – wenn sie live sang, auf der Bühne –, dann fiel der ganze Unsinn von ihr ab und man hörte etwas, das rein und wahr war. Aber das hatte seinen Preis und sie war nicht die Einzige, die ihn zahlen musste.«

»Und du glaubst, Sandy …«

»Sandy macht es uns beiden nicht leicht. Das will ich gerne zugeben. Aber sie lebt für das, was sie macht. Und wenn sie anders wäre, dann gäbe es nicht …« Er breitete die Hände aus.

»Gäbe es was nicht?« Ich war immer noch böse. »Noch sechs weitere Hosenentwürfe und neue Diagonalschnitte? Das reicht nicht, Dad. Und was kostet es sie? Sie leidet nicht wie Meg. Sie war nicht in Somalia, um die Kinder ohne Beine zu sehen und die zu Ruinen zerschossenen Städte. Das sollte sie tun, wenn sie dabei sein will. Wenn sie die Schnittstelle zur Realität erfahren will.« Ich schob den Teller von mir und stand auf.

Dad sah mir nach, als ich zur Tür ging. Erst als ich halb draußen war, sagte er. »Weißt du, sie liebt dich wirklich.«

»Glaubst du?«, gab ich zurück, ohne mich umzusehen.

Dann stapfte ich in mein Zimmer und knallte die Tür zu. Der Laptop auf meinem Schreibtisch blinkte mich an und ich setzte mich und hämmerte eine E-Mail an Sandy in den Computer, um die Worte aus meinem Kopf auf den Bildschirm zu bekommen.

Du benutzt Leute nur. Dir geht es doch nicht um Abdi oder Khadija. Oder um Somalia. Du bist nur ein Parasit, der sich für einen billigen Modetick an den Qualen anderer festsaugt. Ich habe die ganzen Journalisten satt, die immer behaupten, du würdest solche Risiken eingehen. Warum gehst du nicht mal nach Somalia? Das wäre ein richtiges Risiko!

Ich schickte die Nachricht ab, ohne sie noch einmal gelesen zu haben. Wahrscheinlich las Sandy sie sowieso nicht. Nicht, wenn sie Entwürfe zeichnete. Und wenn Carmel das nächste Mal ihren Posteingang durchsah, würde sie sie einfach löschen, ohne sie Sandy auch nur zu zeigen.

Schöne Khadija
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