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Als sie bei uns ankam, war Khadija sehr still. Ich glaube, sie bemühte sich in der Schule, Englisch zu lernen, aber dort sah ich sie nicht viel. Meistens war sie mit den anderen Mädchen aus Somalia zusammen – aber immer am Rand der Gruppe. Und zu Hause half sie Maamo sehr fleißig. In den ersten sechs Monaten sprach sie kaum mit mir.

Und dann hörten wir von der Dürre in Somalia.

Nicht in den Fernsehnachrichten natürlich. Wenn man danach ging, existierte Somalia kaum. Aber im Internet gibt es spezielle Seiten mit Nachrichten aus Somalia und ein paar der alten Leute lesen sie täglich. Sie kommen in Sulimans Café, reden und trinken Kaffee und versuchen herauszufinden, was vor sich geht. Und dann erzählen sie es uns anderen.

Immer wenn ich zur Moschee ging, hörte ich, wie schlimm die Dürre war. Die Leute klangen besorgt und ernst, aber sie sprachen zu schnell miteinander, sodass ich nicht alles verstehen konnte, und ich machte mir nicht die Mühe, selbst die Nachrichten zu lesen.

Natürlich ist es traurig, wenn dein Land in Schwierigkeiten steckt, aber Somalia besteht sowieso zum größten Teil aus Wüste. Das wissen alle. Und seit ich denken kann, hieß es, dass der Regen ausbleibt, was war also dieses Mal so schlimm daran? Ich verstand das nicht.

Nicht, bis Khadija mich bat, sie zu Sulimans Café mitzunehmen.

Normalerweise benutzen wir die Computer in der Schule, weil man dort umsonst ins Internet kann. Aber an diesem Freitag waren alle Computerplätze besetzt und Khadija hatte offenbar keinen mehr bekommen. Also kam sie auf dem Weg nach Hause im Bus zu mir und setzte sich neben mich.

»Hast du Geld?«, fragte sie.

Ich sah sie von der Seite her an. »Wofür?«

»Ich konnte heute meine E-Mails nicht abrufen. Ich muss ins Café gehen.«

Zufällig hatte ich ein wenig Geld dabei, aber das hatte ich bereits anders eingeplant. »Kann das nicht bis Montag warten?«

Sie sagte nichts, schüttelte nur hartnäckig den Kopf.

Ich tastete nach den Münzen in meiner Tasche. »Was ist denn so dringend?«

Sie kniff die Lippen zusammen und zuckte mit den Achseln, wobei sie eine Schulter höher hob als die andere. »Wenn du das nicht weißt, dann kannst du es auch nicht verstehen«, behauptete sie, stand auf und ging durch den Bus, um sich zu Fowsia zu setzen.

Fowsia rutschte zur Seite, um ihr Platz zu machen, unterbrach aber ihr Gespräch mit den Mädchen vor ihr nicht. Khadija saß schweigend und völlig steif da und ich starrte auf ihren Rücken und fragte mich, was ich hätte wissen sollen.

Als wir ausstiegen, lief Fowsia mit ihren Freundinnen davon und winkte Khadija zu, mit ihnen zu kommen. Doch die schüttelte nur den Kopf und ging allein hinter ihnen her. Ich sah, wie sie ganz vorsichtig ging, als sei sie aus Glas, als habe sie Angst, zu zerbrechen.

Einen Moment später lief ich hinter ihr her.

»O.K.«, sagte ich. »Ich kaufe eine halbe Stunde im Café. Wenn du mir sagst, warum du unbedingt ins Internet musst.«

Zuerst glaubte ich, sie würde tatsächlich ablehnen, doch dann sah sie mich von der Seite her an. »Ich kann es nicht mit Worten erklären. Aber wenn du mitkommst, zeige ich es dir.«

Ich dachte einen Moment nach. »Jetzt habe ich keine Zeit. Wie wäre es nachher, wenn ich aus der Moschee komme?«

Sie zögerte kurz und sagte dann: »In Ordnung.« Als ich nach Hause kam, wartete sie schon im Mantel auf mich.

»Setz dich gar nicht erst hin«, verlangte Maamo, als ich die Tür öffnete. »Wenn du zu Suliman willst, mach das vor dem Essen. Und nimm Fowsia mit, sie muss etwas für die Hausaufgaben tun.«

Sahra und Maryan begannen zu betteln, dass sie auch mitwollten, aber ich hatte keine Lust, mit einem Haufen Mädchen loszuziehen.

»Komm«, sagte ich zu Khadija. »Wir gehen.«

Wir sausten aus der Wohnung und die Treppe hinunter und Fowsia bemühte sich, mit uns Schritt zu halten. Im Café waren viele Leute, ein paar an den Computern, andere unterhielten sich nur. Ich dachte schon, dass wir stundenlang warten müssten, bis ich Suliman selbst sah. Er ließ mich nicht mehr umsonst an die PCs, aber wegen meines Vaters bekam ich immer noch eine Sonderbehandlung.

Als er uns sah, grinste er und rief durch den Laden: »He, Warsame! Du hattest deine Stunde! Mach mal Pause und komm Kaffee trinken.«

Warsame hob die Hand, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. Nur noch fünf Minuten. Aber Suliman ließ nicht mit sich reden. Er ging durchs Café, packte ihn an den Ohren und zog ihn hoch. Er machte zwar nur Spaß, aber Warsame leistete lieber keinen Widerstand.

»Bitte«, sagte Suliman und hielt die Hand auf, um das Geld zu kassieren. Er zog zwei zusätzliche Stühle für Fowsia und Khadija heran und ließ uns allein.

Ein paar Sekunden später hatte Khadija drei verschiedene somalische Nachrichtenseiten aufgerufen. Sie klickte sich durch die Seiten, neigte sich vor und betrachtete den Bildschirm stirnrunzelnd.

»Ich dachte, du willst deine E-Mails checken«, sagte ich.

Sie gab ein ungeduldiges kleines Grunzen von sich. »Du hast gesagt, du willst es verstehen, und ich versuche es dir zu zeigen. Warum siehst du nicht einfach hin?«

Ihr wisst, wie das ist. Jemandem am Computer zuzusehen ist das Frustrierendste der Welt. Ich beugte mich über Khadijas Schulter und versuchte, die Schlagzeilen zu lesen. Aber ich bin nicht so gut darin, Somali zu lesen und sie schaltete sehr schnell zwischen den einzelnen Themen hin und her. Ich verstand nicht einmal die Hälfte.

Fowsia sah mal auf den Bildschirm, mal auf Khadijas Gesicht. »Ist es schlimm?«, fragte sie.

»Sehr schlimm«, murmelte Khadija. »Besonders in der Gegend, wo meine Eltern sind. Da hat es gar nicht geregnet. Seht!«

Sie schaltete einen Videoclip auf einer anderen Seite ein. Plötzlich sahen wir Frauen in staubigen Kleidern, zu deren Füßen Horden von Kindern mit großen Augen hockten. Und eine Reihe von großen Männern, die ziellos hinter ein paar mageren Kamelen herliefen.

Fowsia betrachtete sie aufmerksam. »Hat deine Familie auch solche Kamele?«

»Psst!« Ich warf ihr einen warnenden Blick zu. Maamo hatte uns gebeten, nicht über Khadijas Familie zu sprechen. Man weiß nie, wer zuhört.

Khadija hob den Kopf. »Mein Vater hatte fünfundzwanzig Kamele. Aber ein paar davon hat er verkauft, um mich hierher schicken zu können. Und jetzt, bei dieser Dürre …« Sie zuckte wieder so komisch schief mit den Schultern.

»Vielleicht geht es ihnen ja noch gut«, meinte Fowsia und gab ihr einen aufmunternden Stoß. »Sieh doch mal, ob sie dir eine E-Mail geschickt haben.«

Aber in Khadijas Posteingang waren keine neuen Nachrichten. »Vielleicht waren sie nicht in der Nähe von irgendwelchen Orten«, murmelte sie. »Vielleicht …« Sie runzelte nachdenklich die Stirn, dann beugte sie sich über die Tasten und begann selbst eine Nachricht auf Somali zu schreiben. Iska waran, Mahmoud …

Im anderen Fenster auf dem Bildschirm sah ich noch das eingefrorene Bild des letzten Videos. Es zeigte einen Mann mit Jeans und einem zerrissenen T-Shirt von hinten. Er trug einen Dolch im Gürtel und hatte die Schultern beim Gehen nach vorn gezogen. Das Bild erinnerte mich an den Tag, als ich den Dolch meines Vaters im Schlafzimmer gefunden hatte.

Ich hatte damit gespielt und so getan, als würde ich einen Feind erstechen, als er hereinkam und mich festhielt. Nein, Abdi, sagte er und legte seine langen schlanken Finger um den Griff des Dolches. Wir haben dich hierher gebracht, damit du nie einen Dolch benutzen musst. Er wand ihn mir aus der Hand und steckte ihn wieder in die stabile Lederscheide.

An einer Seite der Scheide war ein langer, schartiger Kratzer. Ich starrte einen Augenblick darauf und fragte mich, ob dieser oder ein anderer Dolch den Kratzer verursacht hatte. Selbst damals war mir klar gewesen, dass mein Dad den Dolch nicht einfach wegwerfen konnte. Er brauchte ihn – denn er ging nach Somalia zurück.

Es war fast das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte.

Wie war er gestorben? War er von Feinden ermordet oder im Kampf erschossen worden? Oder war er verhungert oder verdurstet, bevor wir ihm das Geld schicken konnten? Ich kannte die Antwort nicht. Ich wusste nicht einmal, was mit dem Geld passiert war. Auch darüber redete Maamo nicht.

Ich starrte weiter auf den mageren Mann auf dem Bildschirm, wie er hinter seinem hässlichen Kamel herging, aber ich sah ihn nicht wirklich.

Schöne Khadija
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