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Seit meiner Ankunft in England war ich wie eingefroren gewesen. Als mein Vater mich dem Hambaar-Mann übergab, hatte er mich in eine Welt geschickt, in der mich niemand kannte und wo sich niemand dafür interessierte, wer ich war. Maamo war freundlich, aber sie wollte nicht über Somalia reden. Wenn ich es versuchte, schüttelte sie nur den Kopf und wandte sich ab.

In der Schule war es dasselbe. Selbst die Somali-Mädchen konnten nicht verstehen, wie ich mich fühlte. Ein paar der Lehrer boten mir an, ich könnte meine Gedanken aufschreiben, aber sie brauchten alles in Englisch, was für einen Sinn sollte das haben?

Ich weiß noch, was ich dachte, als mich Maamo das erste Mal schickte, um Eis aus dem Kühlschrank zu holen. Ich sah die Eiswürfel an, die so hart und kalt waren, und dachte: Das bin ich. So muss ich jetzt sein.

Und so war ich – bis mich Sandy Dexter ansprach.

Ich wusste nicht, wer sie war oder warum sie in muslimischer Kleidung herumlief, die nicht zu der Art passte, wie sie sich bewegte. Aber als sie sagte: »Du kommst aus Somalia, nicht wahr?«, hatte sie mir direkt in die Augen gesehen. Und sie hatte mich gesehen.

Niemand hatte ihr gesagt, dass ich Khadija war oder dass Abdi mein Bruder war. Sie interessierte sich nicht für meine Papiere und sie hatte mich nicht nach meinem Clan gefragt. Sie wollte nur – mich.

Ich verstand nicht alles, was sie sagte, weil sie so schnell redete. Aber zwei Worte waren mir aufgefallen. Arbeit und Geld. Shaqo und Lacag. Sobald sie weg war, hob ich die Visitenkarte auf und las ihren Namen. Sandy Dexter.

Abdi war sehr misstrauisch. Er versuchte mir klarzumachen, dass man ihr nicht trauen durfte, aber das glaubte ich nicht. Sie hatte mir direkt in die Augen gesehen und mir einen richtigen Job angeboten. Und sie hatte es uns leicht gemacht, zu überprüfen, wer sie war. Wo sollte das Risiko sein?

 

Wir recherchierten nach Sandy Dexter zusammen in der Schulbibliothek. Abdi gab ihren Namen in den Computer ein und ich sah ihm über die Schulter und wartete, was passierte. Als die Suchresultate auf dem Bildschirm auftauchten, setzte sich Abdi auf und fuhr mit dem Finger die Liste entlang.

»Sieh mal … sie ist bei Vogue und Elle und Grazia und …«

Ich sah, dass er beeindruckt war, aber mir sagten diese Namen nichts.

»Sieh dir mal das hier an«, sagte ich und zeigte auf den Link ganz oben auf der Liste. Es sah aus wie ihre eigene Website: www.sandydexter.com.

»O.K.« Abdi klickte auf den Link und wir sahen, wie der Bildschirm verschwamm. Langsam, ganz langsam, formten sich Worte in diesem Nebel: Bilder und StoryboardsGeschichteLose Fäden … Abdi klickte auf Bilder und Storyboards und auf dem Monitor tauchten Bilder, Musik und kleine Filmausschnitte auf.

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Worum geht es da?«

»Schicke Kleider«, erklärte Abdi und verzog das Gesicht. »Für ganz reiche Leute.«

Mir war nicht klar, was der Nebel und die Musik mit Kleidern zu tun haben sollten. Doch bevor ich Abdi fragen konnte, woher er das wusste, sah er sich wieder die Suchergebnisse an und klickte weiter. Und weiter. Und weiter. Er ließ mir keine Zeit, zu sehen, was er tat, bis er plötzlich scharf ausatmete und sich zurücklehnte.

Auf dem Bildschirm war ihr Bild. Die Frau von der Straße, mit ihrem blassen, schmalen Gesicht und dem Fisch unter ihrem Auge.

»Das ist irre«, sagte Abdi leise. »Sie ist … berühmt. Sieh mal.« Er scrollte die Seite herunter und zeigte auf weitere Namen. Stella McCartney. Miuccia Prada. Vivienne Westwood. Diese Namen kannte ich auch nicht, aber an seiner Stimme erkannte ich, dass die Leute sehr wichtig sein mussten. Sie waren Topmodedesigner. Und Sandy Dexter gehörte dazu.

Danach fanden wir ein paar Seiten, auf denen ihre Mode verkauft wurde.

Ich hatte immer gewusst, dass es sehr reiche Menschen auf der Welt gibt, aber zu sehen, wie sie ihr Geld ausgeben, machte mich ganz schwach. Diese Frau mit ihren gegelten Haaren und dem Fischtattoo entwarf Mode für mehr Geld, als ich mir vorstellen konnte. Und sie wollte, dass ich für sie arbeitete.

Dann könnte ich meine ganze Familie aus Somalia holen, dachte ich und mein Herz tat plötzlich einen Sprung.

Abdi klickte wieder auf das Bild von Sandys Gesicht. Dann drehte er sich auf dem Stuhl um. »Was sollen wir tun?«, murmelte er.

Ich konnte kaum atmen, aber mir war die Antwort schon klar. Egal was für eine Arbeit mir Sandy Dexter anbieten wollte, ich würde sie annehmen. Wie konnte ich eine so großartige Gelegenheit ausschlagen?

»Maamo wird das nicht gefallen«, vermutete Abdi. »Du weißt ja, wie wütend sie wegen deines Jobs im Laden schon war. Und dabei lässt dich Tante Safia nicht vor Fremden auf und ab stolzieren und deine Beine zeigen.«

Warum suchte er nur nach Problemen? »Vielleicht muss ich ja gar nicht meine Beine zeigen«, wandte ich ein. »Und wenn du meinst, dass sich Maamo aufregt, sollten wir vielleicht erst etwas mehr über den Job herausfinden, bevor wir ihr davon erzählen. Sandy hat doch gesagt, wir sollten es geheim halten, oder?«

Würde Abdi das tun? Konnte ich ihm vertrauen? Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, wie er sich entscheiden würde, und es kam mir ziemlich lange vor, bis er mich ansah.

»Ich denke … es ist vernünftig, das erst herauszufinden. Lass uns heute Abend darüber reden, ja? Ich komme von Ragehs Party und bringe dich vom Laden nach Hause.«

Schöne Khadija
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