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In den nächsten Monaten wohnte ich bei Sandy. Zumindest ging ich zurück in ihre Wohnung und blieb dort. Sie kam hin, um dort zu schlafen  – jedenfalls meistens  – und gelegentlich aß sie dort auch, wenn etwas im Kühlschrank war. Aber sie arbeitete hart an ihren Entwürfen und verbrachte die restliche Zeit in Meetings, daher sah ich sie nicht oft.

Ich beschwere mich nicht. So war es zu erwarten gewesen. Sie hat schon immer zehnmal härter gearbeitet als alle anderen, schon vor meiner Geburt. Deshalb wollte ich, sobald ich alt genug war, um zu wählen, bei ihr wohnen. Wäre ich bei Dad eingezogen, hätte ich sie möglicherweise wochenlang nicht zu Gesicht bekommen.

Es ist also meine Entscheidung gewesen, bei Sandy zu wohnen  – aber es kann recht einsam sein. Natürlich vermisse ich die schrecklichen Au-pair-Mädchen nicht, die wir früher hatten, aber ich telefoniere viel mit meiner Freundin Ruby. Und meistens lädt mich Dad zwei- oder dreimal die Woche zum Essen ein.

Bei ihm war ich auch, als Sandy schließlich meine E-Mail las.

Ich hatte sie schon fast vergessen. Als meine Mutter in Dads Wohnung stürmte und mit einem Papier in der Hand rumwedelte, war ich so überrascht, dass ich fast vom Stuhl gefallen wäre.

»Das ist brilliant!«, rief sie. Vor Aufregung schrie sie fast. »Freya, du bist ein verdammtes Genie! Ich habe mich verrückt gemacht, um einen Weg zu finden, diese Kollektion zu verankern – und dann habe ich das hier in meinem Posteingang gefunden. Die Idee ist perfekt!«

Sie wedelte mit dem Blatt, auf dem ich ein paar einzelne Worte lesen konnte  – und plötzlich fiel mir meine wütende Schimpftirade wieder ein.

… benutzt Leute … nur ein Parasit … richtiges Risiko … Aber ich hatte immer noch keine Ahnung, wovon sie redete.

Dad versuchte nicht einmal, es zu verstehen. Er nahm Sandy am Ellbogen und zog sie zu einem Stuhl. »Du brauchst etwas zu essen«, stellte er fest. »Du siehst aus, als hättest du seit Tagen nichts gegessen. Oder Wochen

Er begann, sie so schnell wie möglich mit Pasta zu füttern, als könnte er so die Zeit wettmachen, die sie sich von Smoothies und Chips ernährt hatte.

Sandy schluckte ungeduldig, wedelte mit den Händen und sprach mit vollem Mund. »Es war nicht schön, so etwas zu lesen«, erklärte sie und winkte wieder mit der verflixten E-Mail. »Aber ich verstehe, was du meinst. Ich verstehe es wirklich, Freya. Es geht darum, authentisch zu sein, nicht wahr? Darum, sich der Realität zu stellen und nicht nur mit Ideen zu spielen. Und das liegt doch allem, was ich im Moment tue, zugrunde! Zeigen und verstecken, Schleier und Gesichter …«

Sie redete weiter und weiter und weiter und nach zwei Minuten hatte ich bereits mehr als genug.

»… die Kleider werden in ihrem ursprünglichen Kontext eine noch viel größere Wirkung haben«, behauptete sie jetzt.

Was sollte das jetzt wieder bedeuten? Ich sah, wie sich ihr Mund öffnete und schloss, aber die Worte drangen in meine Ohren ein, ohne dass ich mir die Mühe machte, sie zu entschlüsseln.

Bis mein Dad den Löffel fallen ließ und sagte: »Du willst was tun?«

Mein Gehirn nahm seine Tätigkeit wieder auf, scannte die letzten Geräuschfragmente und ich realisierte, was Sandy gerade gesagt hatte: Wir machen den Catwalk in Somalia.

Schreckliche Stille breitete sich aus wie ein schwarzes Loch. Dann fragte Dad. »Wie soll das gehen? Es wird kein Mensch kommen.«

Sandy grinste selbstzufrieden. »Das ist auch nicht nötig. Wir übertragen es live auf die Londoner Fashion Week.«

»Klar.« Ich konnte hören, dass Dad versuchte, locker zu klingen. »Und wo genau hast du geplant, das stattfinden zu lassen?«

»Ich dachte, Eyl wäre ein guter Ort«, antwortete Sandy ruhig.

Ich wusste damals nicht, dass an diesem Ort Piraten ihre Lager haben. Aber Dad wusste es und wurde bleich. »Sei nicht albern. Du bist kein Reporter, Sandy. Du bist Modedesignerin. Du machst Kleider

Sandy antwortete nicht. Sie saß nur da und sah wild entschlossen aus. Als Dad versuchte, ihr noch einen Löffel Pasta aufzudrängen, schüttelte sie höflich den Kopf – und Dad tat etwas, was ich noch nie erlebt hatte.

Er schrie sie an.

Er knallte den Löffel in die Pasta, dass die Tomatensoße über den ganzen Tisch spritzte. Dann stand er auf und schrie sie an. Seine Stimme überschlug sich und sein Gesicht wurde dunkelrot. »Was ist mit deinem Kopf passiert? Du hast eine fantastische Karriere und eine großartige Tochter. Und du hast mich um den kleinen Finger gewickelt, ich unterstütze jede deiner verrückten Ideen, die du dir ausdenkst. Aber was willst du jetzt? Du willst losziehen und sterben! Für ein bisschen billige Publicity. Toll! Danke, San! Soll ich dir das Ticket kaufen, ja?«

Meine Mutter ließ ihn sich heiser schreien und griff wieder nach der E-Mail. »Das verstehst du falsch«, sagte sie. »Es geht nicht um Publicity. Es geht um das, was Freya gesagt hat.«

Er nahm das Blatt und während er es las, wünschte ich mir, ich könnte die Worte vom Papier und aus Sandys Kopf löschen. Aber dafür war es zu spät. Ich konnte nur noch auf Dads Reaktion warten.

Er las zu Ende und sah mich an. »Warum musst du immer alles so ernst nehmen?«, fragte er mich.

Es wäre leicht gewesen, zu sagen: Ich habe es nicht so gemeint. Ich war nur so genervt, weil Sandy mich ignoriert hat. Aber plötzlich wusste ich, dass das nicht wahr war.

»Es muss ernst sein«, meinte ich. »Warum habe ich sonst mein ganzes Leben lang immer die zweite Geige gespielt?«

Dad betrachtete eine Weile seine Hände. Dann sagte er: »Das wird nicht leicht werden, Sandy, hast du darüber nachgedacht, wer deinen lächerlichen Plan in Somalia in die Tat umsetzen soll?«

Zum ersten Mal zögerte Sandy. »Ich dachte … ich könnte mich vielleicht an einige deiner Kontakte wenden?«

»Die meisten meiner Kontaktleute sind tot«, entgegnete Dad brüsk. »Und außerdem werde ich dir bestimmt nicht dabei helfen, dein Leben zu riskieren. Da brauchst du gar nicht erst zu fragen.«

Sandy holte tief Luft. »Dann werde ich eben meine eigenen Kontakte bemühen müssen, nicht wahr?«, meinte sie, griff in ihre Tasche und holte ein weiteres Stück Papier hervor. Es war stark zerknittert, aber ich erkannte das große A und die Handynummer.

»Und wenn das nicht funktioniert?«, fragte ich, bevor ich nachdenken konnte. »Wenn sie es sich nun anders überlegt hat oder ihre Eltern nicht überreden konnte?«

»Sie bekommt das irgendwie hin«, sagte Sandy. »Glaub mir.« Sie strich das Papier glatt und griff nach Dads Telefon.

Aber bevor sie es nehmen konnte, schlug er ihre Hand weg. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich dir dabei nicht helfen werde.«

Sandy zuckte mit den Achseln und nahm ihr eigenes Handy. »Bitte sehr.« Im Raum war es so still, dass wir das Tipp-Tipp der Tasten hören konnten, als sie wählte. Und wir hörten, wie am anderen Ende ein Anrufbeantworter ansprang.

»Verdammt«, sagte Sandy leise. Sie wartete eine Minute und versuchte es dann erneut. Und noch einmal.

Nichts. Entweder war der Akku leer oder Abdi hatte das Telefon ausgeschaltet.

Ich spürte, wie sich Dad entspannte. Aber wenn er glaubte, dass sie aufgab, hatte er sich getäuscht. Sie wählte noch einmal und hinterließ dieses Mal eine Nachricht. Hier ist Sandy. Ruf mich an. So schnell wie möglich.

Das war alles. Zehn Worte, hingeworfen wie Steine in einen See. Keiner von uns ahnte – oder hätte sich auch nur träumen lassen – wie weit die Wellen sich ausbreiten würden …

Schöne Khadija
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