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Maamo und Onkel Osman waren sehr böse, aber sie schrien und schimpften nicht. Niemand schlug uns oder sperrte uns ein. Sie nahmen Abdi nur das Telefon weg.

Und ordneten mein Leben neu.

Es geschah ganz unauffällig. Am nächsten Tag kam Tante Safia mit einer Hose, die Maamo ändern sollte. Ich spülte gerade das Geschirr ab und während sich Maamo die Hose ansah, setzte sich Tante Safia an den Tisch – langsam und geruhsam, wie sie alles tat.

»Du bist ein gutes Mädchen«, erklärte sie nach einem Moment. »Ich bin mit deiner Arbeit im Laden sehr zufrieden. Wenn du etwas mehr Geld für deine Familie verdienen willst, kannst du gerne ein bisschen mehr bei mir arbeiten.«

»Aber …« Erst vor ein paar Tagen hatte sie gesagt, dass sie mich nur zweimal die Woche brauchte.

Sie beobachtete mich scharf. »Wenn du jeden Tag kommst, bezahle ich dir – dreißig Pfund die Woche.« Sie strahlte dabei, als ob sie mir einen Eimer voll Gold anbieten würde.

Fast hätte ich laut herausgelacht. Dreißig Pfund die Woche? Weißt du, was ich demnächst verdienen werde? Aber ich verstand, was sie vorhatte. Sie und Maamo wollten meine freie Zeit füllen. Ich sollte vor Schwierigkeiten geschützt werden wie ein krankes Kamel hinter einem dicken Zaun. Und die dreißig Pfund waren nur der Köder, damit ich zustimmte.

Fast hätte ich abgelehnt. Aber mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass das dumm gewesen wäre. Wenn ich mir auch nur einen Teil meiner Freiheit erhalten wollte, dann war es besser, wenn sie mir vertrauten. Also lächelte ich Tante Safia an.

»Ja, das mache ich gerne. Vielen Dank!«

Im nächsten Augenblick kam Maamo in die Küche zurück. Sie sah uns an und Tante Safia nickte ihr kurz zu. Ich hatte also recht gehabt, sie hatten das gemeinsam ausgeheckt. Das wird Abdi nicht gefallen, dachte ich. Jetzt muss er mich jeden Abend abholen.

 

Immer wenn ich in den Laden kam, spürte ich, wie mich Tante Safia beobachtete. Sie suchte nach Hinweisen auf die gute, ehrliche Arbeit, die mir stattdessen angeboten worden war. Aber ich verriet nichts. Ich tat einfach alles, um was sie mich bat – und das war eine Menge. Wenn Abdi mich abends abholen kam, musste er immer vor der Tür warten, bis ich damit fertig war, die Fenster zu putzen oder die Regale einzuräumen.

Drei Wochen lang bezahlte mir Tante Safia jeden Samstag die versprochene Summe aus. Sie legte eine Zwanzigpfundnote und zehn Pfundmünzen auf den Tresen und zählte sorgfältig noch einmal nach. Dann ließ sie die Geldbörse zuschnappen.

»Du bist ein gutes Mädchen«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass ich nicht mehr bezahlen kann.«

Am vierten Samstag allerdings gab es eine Überraschung, denn Tante Safia schloss ihre Geldbörse nicht, als sie das Geld herausgenommen hatte. Stattdessen sah sie mich lächelnd an.

»Ich habe Suliman erzählt, wie hart du arbeitest«, sagte sie, »und er ist der Meinung, dass du einen Bonus verdient hast. Hier hast du etwas extra für diese Woche.«

Was hatte sie vor? Wollte sie mir eine Dose Bohnen geben?

Sie nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche. »Geh ins Café, wenn Suliman dort ist, dann gibt er dir eine kostenlose Stunde an einem seiner Computer. Montagabend sei am besten, sagt er, weil es dann meist sehr ruhig ist.«

Vorsichtig nahm ich das Blatt. Es war zwar kein Geld, aber ich war froh, einmal eine ganze Stunde nur für mich im Internet surfen zu können, ohne dass mir jemand über die Schulter schaute. Hey, Khadija, bist du ein Modefan? An den Schulcomputern wagte ich es nicht, Sandys Webseite aufzurufen, aus Angst, jemand könnte Fragen stellen. Dort konnte ich nur E-Mails schreiben. Und wenn die Sommerferien begannen, würde nicht einmal das mehr gehen.

Abdi wartete bereits vor dem Laden. Ich steckte das Geld in die eine Tasche und das Blatt in die andere. Dann ging ich zu ihm hinaus.

»Hat sie dich bezahlt?«, murmelte er leise.

Ich nickte und klopfte auf meine Tasche, aber ich sagte ihm nicht, was ich sonst noch bekommen hatte – damit er nicht andere Vorstellungen davon bekam, wie meine kostbaren sechzig Minuten verwendet werden sollten. Die waren für mich. Ich hatte sie verdient. Jetzt musste ich nur noch einen Weg finden, allein ins Café zu gehen, ohne jemandem etwas erklären zu müssen.

Ich hatte geglaubt, dass das ein Problem werden würde, aber als ich am Montagabend in den Laden kam, hatte Tante Safia bereits den Fußboden gewischt. Er glitzerte nass und sie kniete auf einer Gummimatte und füllte Regale auf.

»Bitte, das ist doch meine Arbeit«, sagte ich.

Lächelnd sah sie auf. »Ich habe etwas davon für dich getan, denn Suliman sagt, es sei eine gute Zeit, wenn du an einen der Computer möchtest. Also – geh nur. Du kannst hinterher noch in den Laden kommen.«

»Aber …« Ich war mir nicht ganz sicher, wie sie das meinte.

»Keine Sorge, du verlierst kein Geld dadurch.« Sie lächelte wieder und winkte mich fort.

Das war fast zu schön, um wahr zu sein. Ich wollte dringend an den Computer. Also schlüpfte ich so schnell wie möglich aus dem Laden und betrat das Café nebenan.

Suliman war selbst dort. Er hat vier oder fünf Läden, die, soweit ich weiß, alle von Filialleitern geführt werden, aber an diesem Abend war er als Einziger zuständig und nur ein paar Kunden tranken Kaffee oder lasen ihre E-Mails. Als ich hereinkam, schrieb er gerade selbst eine Nachricht auf seinem Computer und ließ mich warten, bis er fertig war. Dann sprang er auf und führte mich zu einem Platz ganz hinten.

»Der hier ist für dich«, sagte er. »Brauchst du Hilfe?«

»Natürlich nicht!« Hielt er mich für dumm? Ich setzte mich und loggte mich sofort ein. Noch bevor er wieder vorne im Laden war, hatte ich begonnen, meine E-Mail zu schreiben.

 

Iska waran, Mahmoud?

Es ist so lange her, dass du mir geschrieben hast! Was ist passiert? Ich hoffe und bete, dass es euch allen gut geht und dass ihr eine Weide für die Tiere gefunden habt.

Ich habe eine Arbeit im Laden hier, was bedeutet, dass ich euch bald etwas Geld schicken kann. Es ist nicht viel, aber …

 

Aber.

Meine Finger schwebten über der Tastatur. Sag es niemandem, hatte Sandy gesagt. Aber Mahmoud war weit, weit weg in Somalia – wo nie jemand etwas von Sandy Dexter gehört hatte. Und ich wollte sowieso nicht ihren Namen nennen. Nicht einmal gegenüber Mahmoud. Ich wollte ihn nur wissen lassen, dass Hoffnung bestand. Dass ich ihn bald von der Dürre und den Kämpfen wegholen konnte.

Die anderen Kunden unterhielten sich miteinander. Als ich mich umsah, sah ich Suliman vorne im Café über seinen eigenen Computer gebeugt stehen. Es war niemand in der Nähe, der den Text auf meinem Bildschirm lesen konnte. Ich fühlte mich sicher.

 

… aber ich habe noch einen anderen Job angeboten bekommen. Einen viel besseren. Kennst du Iman, das berühmte Model aus Somalia? Nun, ich habe einen Job wie den ihren angeboten bekommen! Von einer SEHR berühmten Designerin! Ich weiß, dass du jetzt lachst, wenn du dir vorstellst, dass deine Schwester, die Giraffe, wie Iman sein könnte, aber glaub mir, es ist wahr. Ich kann dir jetzt nicht mehr sagen, weil es ein großes Geheimnis ist, aber ich glaube, es wird wahr, weil diese Designerin mich wirklich will und sie ist jemand, die immer bekommt, was sie will. Es ist besser, wenn du niemandem etwas davon sagst, aber ich will dich wissen lassen, dass es nicht mehr lange dauert, insh’Allah, bevor ich euch wirklich helfen kann. Also

mach weiter deine schrecklichen Witze, um die anderen bei Laune zu halten, kleiner Bruder.

DIE ZEITEN WERDEN SICH ÄNDERN !!

Deine Schwester aus England

 

Es war so weit. Noch bevor ich weiter denken konnte, drückte ich auf den Sendeknopf und schickte die Nachricht ab. Suliman sah plötzlich auf, als hätte er gesehen, wie ich es tat. Das konnte unmöglich sein, doch es erinnerte mich daran, dass ich vorsichtig sein musste. Ich machte eine Seite mit Nachrichten aus Somalia auf und minimierte sie, damit ich sie jederzeit aufrufen konnte, wenn jemand neugierig durch den Laden ging. Dann suchte ich sandydexter.com auf und klickte auf Kollektionen.

Ich wollte gerne mehr über die Kleider wissen, die Sandy entwarf. Nicht was sie kosteten – das hatte ich schon gesehen –, sondern wie sie aussahen, wenn sie fertig waren. Ich brauchte eine Weile, bis ich den richtigen Teil ihrer Webseite fand, aber dann konnte ich mir Bilder aus all ihren früheren Kollektionen ansehen.

Sie waren seltsam und erstaunlich. Wunderschöne, wilde Kleider, ganz anders als alles, was man auf der Straße sieht. Und auch die Mädchen, die sie trugen, waren anders. Sie hatten schmale, knochige Gesichter und einen abwesenden, stolzen Gesichtsausdruck. Weiße Haut und schwarze Haut, die Lippen gelb und lila und blau geschminkt und das Haar zu kunstvollen Formen aufgetürmt.

Ich versuchte, mir vorzustellen, mich so zu zeigen wie sie, den Kopf unbedeckt und meine langen Beine nackt. Die Vorstellung war schrecklich. Sandy hatte gesagt, Niemand wird dich sehen, aber was bedeutete das? Mir war das alles nicht klar.

Trotzdem musste es klappen – irgendwie. Denn die Zeit verrann wie Wasser in trockner Erde.

Ich starrte die Bilder immer noch an und wunderte mich, als Suliman plötzlich aufstand und durch das Café auf mich zukam. Bumm!, machte mein Herz. Schnell wie ein Habicht vom Himmel stößt, schloss ich Sandys Seite und machte die Nachrichtenseite auf.

Gerade noch rechtzeitig. Eine Sekunde später stand Suliman neben mir. Der Schatten seines Gesichts fiel über meinen Computer und seine lange Nase zeigte direkt auf meinen Bildschirm.

»Deine Zeit ist fast um«, sagte er, während er über meine Schulter hinweg die Bilder von den Piratenschiffen im Golf von Aden betrachtete.

»Ich hatte schon eine ganze Stunde?«, wunderte ich mich, aber als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, dass er recht hatte.

»Das ist eine Menge Zeit, um schlechte Nachrichten zu lesen«, fand er und nickte zur Schlagzeile.

»Es ist unser Land«, sagte ich, fuhr die Seite herunter und schob den Stuhl zurück. Es war keine direkte Lüge, aber genug, um ihn glauben zu lassen, dass ich dafür gekommen war. »Wir müssen wissen, was passiert. Ich wünschte nur, es wäre etwas Besseres.«

»Der Tag wird kommen«, entgegnete Suliman heftig.

Es hörte sich fast an wie ein Versprechen, und er sah mich an, als erwarte er eine Antwort. Aber was sollte ich sagen? Niemand wusste, was geschehen würde. Also stand ich auf, ohne zu antworten und er trat beiseite, um mich gehen zu lassen.

 

Am nächsten Tag tat Tante Safia etwas Merkwürdiges.

Ich kniete gerade vor einem niedrigen Regal und stellte Reispackungen hinein, als sie hinter mich trat und ins Regal griff, um eine der Packungen gerade zu rücken.

»Was würdest du tun, wenn ich dir fünfhundert Pfund gäbe?«, fragte sie.

Ich drehte mich zu ihr um, denn sie musste Witze machen. Aber nein, sie sah mir in die Augen, als erwarte sie eine Antwort.

»Fünfhundert Pfund?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war eine so seltsame Frage.

»Oder tausend.« Sie zuckte mit den Achseln, als ob da gar kein Unterschied wäre. »Was würdest du kaufen?«

»Ich würde gar nichts kaufen«, sagte ich. »Ich würde es an meine Mutter schicken. Für Mahmoud und meine Schwestern.«

Es war das erste Mal, seit ich in England war, dass ich Mahmouds Namen laut ausgesprochen hatte und ich hatte das Gefühl, weinen zu müssen. Daher drehte ich mich schnell wieder zum Regal um, um mein Gesicht zu verbergen. Als ich dabei an eine der Reispackungen stieß, riss sie auf und die harten weißen Körner tanzten über den Boden.

»Es tut mir leid«, sagte ich hastig. »Ich fege es weg.«

Ich stand schnell auf, aber Tante Safia hatte den Besen geholt, bevor ich danach greifen konnte. Sie begann den Reis selbst wegzufegen und ich kniete mich wieder hin und wischte mit gesenktem Kopf die losen Reiskörner aus dem Regal.

Plötzlich hielt der Besen inne.

»Was willst du wirklich?«, fragte Tante Safia leise.

Ich will nach Hause, dachte ich. Ich will zurück nach Somalia.

Aber wenn man Worte laut ausspricht, kann man sie nie zurücknehmen. Und was hilft es, sich nach etwas zu sehnen, das unmöglich ist? Ich schob die letzte Packung gerade und hockte mich hin.

»Ich möchte eine gute Ausbildung«, sagte ich, »damit ich meiner Familie helfen kann.«

Ich hörte, wie Tante Safia tief Luft holte. »Natürlich«, sagte sie. »Du bist ein gutes Mädchen, Khadija. Und wir tun unser Bestes, uns um dich zu kümmern.« Einen Augenblick lang blieb sie hinter mir stehen. Dann erklang wieder das Kratzen des Besens.

Als Abdi mich abholen kam, war es dunkel. Und es regnete so heftig, dass die Rinnsteine zu reißenden Bächen wurden.

Schöne Khadija
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