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Sobald ich aus dem Flugzeug stieg, wusste ich, ich war zu Hause. Die Sonne schien mir hell ins Gesicht und ich roch den reinen, vertrauten Duft der Wüste. Als meine Füße den somalischen Boden berührten, hätte ich am liebsten geweint. Im grauen, kalten Licht und dem endlosen Regen in England hatte ich versucht, nicht daran zu denken, wie sehr ich Somalia vermisste. Als ich jetzt zum Flughafenterminal ging, kam das alles wieder in mir hoch. Aber Heimat, das ist mehr als ein Ort. Es bedeutet auch Familie. Und von meiner Familie war niemand hier, um mich zu begrüßen. Eine kleine E-Mail hätte gereicht, dass sie alle zum Flughafen gekommen wären, aber Suliman hatte mir verboten, es ihnen zu sagen. Er meinte, es sei zu gefährlich.

»Man weiß nie, wer so eine E-Mail liest. Wir können es uns nicht leisten, dass die Kidnapper von deiner Anwesenheit hier erfahren. Denn dann finden sie vielleicht, dass du für sie mehr wert bist als Mahmoud, und entführen stattdessen dich.«

»Dann wäre Mahmoud zumindest frei«, gab ich zurück.

Suliman hatte mich verächtlich angesehen. »Meinst du, sie ließen ihn einfach so laufen? Sei nicht albern, Khadija. Wenn du ihn retten willst, muss dies ein heimlicher Besuch sein.«

Ich verstand immer noch nicht ganz, warum, aber das Erste, was er gesagt hatte, hallte in meinen Ohren nach. Man weiß nie, wer so eine E-Mail liest. Wenn jemand meine Mail an Mahmoud gelesen hatte, in der ich ihm von Sandy erzählt hatte, dann war ich allein an seiner Entführung schuld.

Aber hatte das jemand gesehen? Wie war so etwas nur möglich?

Mit einem hatte Suliman allerdings recht. Ich würde es nicht riskieren, Mahmoud noch mehr Schwierigkeiten zu machen. Also kam ich als Khadija Ahmed Mussa nach Somalia, zusammen mit meinem Bruder Abdirahman Ahmed Mussa und zwei Freunden unserer Familie.

Die Gefahr, dass man mich zufällig erkannte, bestand nicht. Seit unserer Ankunft in Dubai hatte ich mich hinter meinem schwarzen Schleier in den Kleidern versteckt, die mich zu Qarsoon machten. Niemand sah mein Gesicht auf dem Flughafen, wo ich mit Abdi und Amina darauf wartete, dass Suliman die Einreisegebühr bezahlte.

Er holte unser Gepäck und feilschte dann um ein Taxi, das uns nach Galkayo bringen sollte. Am liebsten wäre ich gelaufen und gelaufen, den weiten Himmel über mir, hätte die saubere Luft geatmet und den heißen Sand unter meinen Füßen gespürt. Aber Suliman hatte andere Pläne. Amina, Abdi und ich quetschten uns auf den Rücksitz eines verbeulten alten Autos mit fest geschlossenen Fenstern. Das Gepäck hielten wir auf den Knien. Ich bekam kaum Luft, als wir den Flughafen verließen und auf die Straße zur Stadtmitte einbogen.

Den ganzen Weg über klebte Abdi mit der Nase an der Scheibe und sah hinaus. Bei allem, was er sah, schrie er auf, selbst bei so gewöhnlichen Dingen wie Kamelen, Ziegen oder den Bildern an den Geschäften. Als wir am Stand eines Munitionshändlers vorbeikamen, war er so aufgeregt, dass er Suliman bat, anzuhalten.

Aber wir hielten erst vor einem Haus in der Stadtmitte. Suliman befahl dem Taxifahrer, direkt vor der Tür zu halten, und scheuchte uns hinein, bevor uns jemand sah.

Im Haus war eine Frau, die Tee und Lahooh machte. Sie war alt und dick und etwas ungeschickt, als ob sie schlecht sehen könnte. Suliman begrüßte sie wie eine Verwandte und sie murmelte so leise eine Antwort, dass wir sie nicht verstanden. Dann setzten wir uns und sie schenkte uns ein.

»Was passiert jetzt?«, flüsterte ich Amina zu. »Warum sind wir hier?«

Sie zuckte nur kopfschüttelnd mit den Schultern.

Doch Abdi hatte die Antwort: »Wir müssen hierbleiben, bis Sandy kommt«, erklärte er wichtigtuerisch. »Dann verlassen wir die Stadt und fahren in das Dorf, in dem die Show stattfinden soll. Suliman hat alles arrangiert.«

»Und was ist mit Mahmoud?«, fragte ich. »Wir könnten doch versuchen, ihn zu finden, anstatt hier nur herumzusitzen.«

»Versuch jetzt nicht, alles durcheinanderzubringen«, rief Abdi. »Suliman weiß, was er tut. Überlass es ihm und misch dich nicht ein!«

Fast hätte ich zurückgeschrien, doch Amina legte mir die Hand auf den Arm und sagte leise: »Lass sie das machen. Es ist besser so.«

Ich verstand nicht, wie sie sich so herumkommandieren lassen konnte. Sie war doch eine kluge Frau.

»Abdi weiß gar nichts«, sagte ich. »Er ist nur ein Junge und er ist noch nie hier gewesen.«

»Aber er arbeitet mit Suliman zusammen«, antwortete Amina, als ob das alles erklärte.

 

Zwei ganze Tage blieben wir in diesem Haus und ständig kamen Männer, um mit Suliman zu reden. Die schweigsame Frau kochte für uns alle, machte Tee und Pfannkuchen und wässrigen Ziegeneintopf. Sie hieß Haleema, aber Suliman erzählte uns nicht, wer sie war oder warum sie allein lebte, ohne Ehemann oder Kinder.

Amina bot ihr natürlich an, zu helfen, aber sie hatte bislang nur auf einem englischen Herd gekocht. Als ich versuchte, ihr die somalische Art zu kochen zu zeigen, befahl mir Suliman, mich nicht einzumischen. Und selbst im Haus musste ich meinen Schleier tragen.

Außerdem sollten wir drinnen bleiben. Für Abdi war das besonders schwer, schließlich war er zum ersten Mal in Somalia und sehnte sich danach, hinauszugehen und sich umzusehen. Aber Suliman blieb hart.

»Niemand außer mir geht raus. Ich habe zu tun und ich will keine Zeit damit verschwenden, mir Sorgen um euch zu machen. Ihr bleibt bei Haleema, bis wir von Sandy hören.«

Das geschah am dritten Tag, ganz früh am Morgen. Das Telefon weckte alle und ich hörte, wie sich Haleema leise beschwerte, als Suliman zum Telefonieren hinausging. Schwerfällig erhob sie sich und schürte das Feuer.

Suliman blieb nur zwei oder drei Minuten draußen, dann kam er wieder herein und verteilte Befehle. »Sandy Dexter sitzt im Flugzeug aus Dubai  – mit ihrer ganzen Crew. Sie erwartet uns am Flughafen, wenn sie landet, also packt so schnell wie möglich alles zusammen. Mein Cousin Ied wird uns in seinem Auto abholen.«

Abdi rieb sich gähnend die Augen und Amina suchte nach ihren Vitamin-B-Tabletten. Sie brauchten ziemlich lange, um richtig wach zu werden. Bevor sie auch nur aufgestanden waren, hatte ich meine Tasche schon halb gepackt, und wenn ich es gewagt hätte, hätte ich auch ihre gepackt. Warum beeilten sie sich nicht etwas?

Ich wollte ins Auto steigen und zum Flughafen fahren. Wenn Sandy erst da war, dann konnte ich anfangen zu arbeiten. Dafür war ich schließlich gekommen.

Damit ich das Geld verdienen konnte, mit dem ich Mahmoud das Leben retten konnte.

Schöne Khadija
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