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Von diesem Tag an schien Abdi ständig bei Suliman zu sein. Was taten sie dort nur? Die Zeit verging … drei Wochen … vier Wochen … fünf Wochen  – und alles, was ich hörte, war, dass sie eifrig daran arbeiteten, Sandys Show zu organisieren. Dafür wurde jede Menge Zeit und Geld aufgewendet, aber wozu sollte das gut sein? Verstand Suliman denn nicht, dass Mahmouds Leben in Gefahr war?

Die E-Mails meiner Eltern wurden immer panischer: Niemand weiß etwas über Mahmoud … wir haben alles versucht, was uns eingefallen ist … Warum haben die Entführer unseren Sohn ausgesucht?

Die Fragen waren wie Messer, die sich in mein Herz bohrten, denn ich kannte die Antworten. Aber ich konnte es ihnen nicht sagen. Es war alles meine Schuld, aber ich wagte nicht, etwas zu sagen, damit ich nicht für noch mehr Kummer sorgte. Wenn ich versuchte, mit Abdi zu reden, verlangte er nur, ich solle nicht so ungeduldig sein.

»Suliman weiß, was er tut«, sagte er. »Jetzt ist es erst einmal wichtig, Sandy nach Somalia zu bringen. Wenn sie dort ist – und sieht, wie es dort ist  –, dann gibt sie dir ohne zu zögern die zehntausend Dollar. Verglichen mit dem, was sie für die Show ausgibt, ist das gar nichts. Aber Suliman sagt, zuerst muss sie dorthin.«

Es ging nur noch darum, was Suliman sagte. Besonders nach dem Beginn der Sommerferien. Danach sah ich Abdi kaum noch und wenn ich ihn fragte, was sie taten, sagte er nur: »Wir rufen Leute an. Wir arrangieren Dinge. Es gibt eine Menge zu tun.«

Warum aber geschah dann nichts? Mit Maamo hatten wir immer noch nicht gesprochen und ich hatte Angst davor, es ihr zu sagen. Überlass das Suliman, hatte Abdi gesagt. Er macht das schon. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sie von der Sache überzeugen konnte.

Als ich eines Tages vom Einkaufen nach Hause kam, war Sulimans Frau Amina bei uns. Sie saß bei Maamo. Die beiden Frauen unterhielten sich höflich und tranken Tee.

Als ich hereinkam, lächelte mir Maamo steif zu. »Du hast Glück«, sagte sie. »Tante Amina und Onkel Suliman haben angeboten, dich und Abdi nach Somalia mitzunehmen. Sie glauben, dass sie vielleicht deinen Bruder finden können, Khadija.«

Sie sagte es, als hätte sie die Worte auswendig gelernt und ich sah, dass sie nicht glücklich darüber war. Aber was für eine Rolle spielte das schon? Irgendwie hatte Amina es geschafft, sie zu überreden, uns gehen zu lassen, und das war das Einzige, was zählte.

Amina setzte die Teetasse ab, stand auf und lächelte mich breit an. »Wir haben viel zu tun und nicht sehr viel Zeit. Zunächst einmal braucht ihr Pässe mit Fotos. Das machen wir am besten gleich. Mein Auto steht draußen und unterwegs können wir Abdi abholen.« Sie warf mir einen langen Blick zu und nahm ihre Tasche. »Was möchtest du auf den Fotos anhaben? Vielleicht etwas Besonderes?«

Versteh mich!, sagten ihre Augen. Einen Augenblick lang war ich verwirrt, doch dann wurde mir klar, dass das mit den Passfotos gelogen war. Wir würden Sandy besuchen.

Die Kleider waren in meiner Schultasche, weil das der einzige Ort war, an dem Maamo nie nachsehen würde. Ich holte sie und Amina wartete bereits an der Türe.

»Du musst dich im Auto umziehen«, sagte sie, als wir die Treppe hinuntergingen. »Suliman hat mir gesagt, dass du darauf achten musst, dass dein Gesicht verborgen ist. Warum, weiß ich auch nicht.«

Sie schloss das Auto auf und ich setzte mich nach hinten. »Ich bin Qarsoon«, sagte ich leichthin. »Die Verborgene. Niemand darf je mein Gesicht sehen.«

Amina ließ den Wagen an. »Was soll das heute dann? Ich soll dich zu einem Fotoshooting bringen. Was bringt das denn, wenn dein Gesicht verborgen ist?«

Ich rollte die Abayad auseinander und schüttelte sie aus. »Frag mich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, wohin es geht.«

Aber Abdi wusste es natürlich. Amina hielt vor ihrem Haus, um ihn abzuholen und er hatte alle Anweisungen, die wir brauchten.

»Wir treffen uns mit Sandy in Davids Wohnung. Sie möchte ein paar Bilder machen – damit die Leute anfangen, über Qarsoon zu reden – David fotografiert sie.«

Als wir unterwegs waren, nahm Abdi sein Telefon und rief Sandy an, um ihr zu sagen, dass wir bald bei ihnen sein würden.

David erwartete uns schon in der Eingangshalle. Er machte gleich die Tür auf und führte uns schnell zum Lift.

Als wir nach oben fuhren, fragte er mich mit hochgezogenen Augenbrauen: »Nun? Bist du bereit für harte Arbeit?«

Ich dachte, er macht Witze. »Was ist denn so schwer daran, sich fotografieren zu lassen?«

Er lachte und rieb sich mit der Hand über die Stirn, über der sich das Haar langsam lichtete. »Das wirst du schon bald sehen. Wenn wir fertig sind mit der Fotosession, wirst du mich für ein Monster halten. Und du wirst auch feststellen, dass Sandy sehr anspruchsvoll sein kann.«

»Sandy ist hier?«, fragte Amina, als könne sie es gar nicht glauben.

David grinste. »Kommen Sie, ich stelle sie Ihnen vor.«

 

Sandy war nicht nur in der Wohnung, sie hatte sie geradezu übernommen. Das Wohnzimmer war mit Lichtern und Wandschirmen für die Fotos bereit gemacht und sie hatte Davids Schlafzimmer zum Umkleideraum umfunktioniert. Dort stand ein großer Kleiderständer mit den Sachen, die ich anziehen sollte und sie suchte geschäftig darin herum.

Amina ging direkt ins Schlafzimmer, um Sandy zu begrüßen und diese hob den Kopf und lächelte sie an.

»Sie müssen Khadijas Mutter sein.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Amina eifrig. »Ich liebe Ihre Mode.« Sie warf einen Blick an Sandy vorbei auf die Kleider am Ständer – und ihr Lächeln erstarrte.

Sandy grinste noch breiter. »Haben Sie geglaubt, ich würde Ihre Tochter in Ballonröcke und Etuikleider stecken? Bei Mode geht es immer um Veränderung, verstehen Sie?«

»Besonders bei deiner«, erklärte David trocken, als er den Kopf zur Tür hereinsteckte.

Sandy zog ihm eine Grimasse. »Geh weg«, verlangte sie. »Hier darf niemand herein außer mir und Qarsoon und …?«

»Amina«, stellte diese sich vor. Höflich lächelte sie David an. »Vielleicht kann Abdi Ihnen da draußen helfen?«

»Vielleicht möchte Abdi einen Kaffee?«, grinste David ihn an. »Wir sollten uns eine Pause gönnen, solange es noch geht.« Er schloss die Tür und Sandy zog einen Kleiderbügel vom Ständer.

»Sollen wir damit anfangen?«

Ich nickte, ohne genau hinzusehen. Was für eine Rolle spielte es schon, welche Kleider ich trug? Dies alles tat ich für Mahmoud, nicht meinetwegen. Ich begann, meine schwarzen Sachen auszuziehen, aber Sandy schüttelte heftig den Kopf.

»Es ist einfacher, wenn wir das für dich tun. In Ordnung, Amina?«

»Natürlich«, strahlte Amina begeistert.

Ich stand einfach still da, während die beiden um mich herumliefen und hefteten und knöpften wie Frauen, die eine Braut für ihre Hochzeit vorbereiten. Sie legten mir nicht nur Kleider an. Das lange Gewand musste mit Nadeln gehalten werden, damit es genau richtig fiel. Die Schuhe mussten mit Papier ausgelegt werden, damit sie mir passten, und mein Haar wurde zu einem festen Knoten zurückgebunden.

Dann schminkte Sandy meine Augen.

»Normalerweise würde ich einen Profi für so etwas holen«, erklärte sie mir, als sie die Farben auswählte. »Aber wir wollen nicht, dass noch jemand dein Gesicht sieht, deshalb mache ich es selbst. Aber wir halten es möglichst schlicht.«

Möglichst schlicht bedeutete schwarze Linien um meine Augen und dunkelroter Lidschatten auf meinen Lidern. Ich konnte ihn spüren wenn ich blinzelte.

Sandy zog mir den Hiyab über den Kopf und band den Schleier zurecht. Dann trat sie zurück und sah mich mit schief gelegtem Kopf an.

»Wow!«, machte Amina. »Das ist ja wundervoll!«

Als ich mich umdrehte, um mein Spiegelbild zu sehen, stockte mir einen Augenblick lang der Atem. Was ich sah, war eine goldene Säule. Wenn ich mich bewegte, glitzerte das Licht auf meinem Körper wie Wasser, so fragil wie eine Luftblase. Durch den Schlitz in dem goldenen Schleier wirkten meine Augen dunkel wie die Nacht, die dem Sonnenuntergang folgt.

»Fangen wir an«, meinte Sandy.

 

David hatte recht gehabt, als er mich gewarnt hatte, dass es schwere Arbeit sein würde. Drei Stunden lang stand, lag, lief und saß ich und tat alles, was er mir befahl, so gut wie ich es konnte. Zweimal wechselte ich die Kleider und jedes Mal waren die Posen anders.

»Das ist gut«, sagte er ständig leise. »Du bist sehr gut, Khadija.« Aber ich wusste, dass er mich gar nicht ansah. Hier ging es nur um Qarsoon. Sie war ein Bild, das wir zusammen erschufen und dabei spielte jeder von uns seine Rolle.

Ein- oder zweimal murmelte Sandy eine Frage oder gab eine Anweisung, aber meist saß sie nur ganz still und konzentrierte sich. David antwortete kaum einmal, wenn sie etwas sagte, aber ich sah, dass sie die ganze Zeit zusammenarbeiteten. Und ich gehörte dazu.

Amina saß daneben und sah fast ohne zu blinzeln zu, während Abdi in der Küche verschwand. Ich glaube, die meiste Zeit sah er fern, aber ungefähr jede Stunde kam er mit Kaffee und Keksen heraus.

Ich hätte nicht gedacht, wie hungrig es mich machte, mich nur fotografieren zu lassen.

Schließlich nickte David und legte seine Kamera beiseite. »Das war’s«, meinte er. »Ich glaube, wir haben alles, was möglich ist, aus diesen Kleidern herausgeholt. Vielen Dank, Khadija.« Er zögerte kurz und fuhr dann fort: »Ich weiß, dass ich es dir nicht leicht gemacht habe, aber meinst du, du schaffst noch eine Sache?«

Amina sah auf die Uhr und hüstelte. »Ich glaube, wir sollten wirklich …«

»Nur noch zehn Minuten«, sagte David. »Ich möchte nur ein paar Fotos in den schwarzen Kleidern, in denen sie gekommen ist.«

»Die?« Sandy sah aus, als ob sie widersprechen wollte. Doch dann zuckte sie mit den Achseln. »Na ja, warum nicht. Sie muss sie ja sowieso anziehen, bevor sie geht.«

Diesmal gab es kein großes Getue. Sandy nahm mir die Kleider ab, die ich gerade trug und ich zog mir allein die schwarzen Sachen an. Ein paar Minuten später war ich so weit.

David hatte die großen Glastüren zum Balkon geöffnet und bat mich, zu ihm herauszukommen. Es wurde bereits dunkel und vor dem Himmel zeichneten sich die Hochhäuser der Stadt ab. Dahinter erglühte rotgolden der Abendhimmel.

David wusste genau, was er wollte, und es ging sehr schnell. Ich lehnte mich in eine Ecke des Balkons, vor dem Sonnenuntergang, und er machte das Foto, das mich berühmt machen sollte. Eine starke, schwarze Silhouette, die auf die Stadt im Dämmerlicht schaut, während im Westen die Sonne untergeht.

Das ist heute das Bild, das jeder vor Augen hat, wenn er Qarsoon hört.

 

Wir waren rechtzeitig zurück, damit ich in Tante Safias Laden gehen konnte. Ich war sehr müde, aber es tat gut, vertraute Dinge an einem vertrauten Ort zu tun.

Tante Safia war an diesem Abend ganz besonders nett zu mir – in einer merkwürdigen, nervösen Art. Ich glaube, sie wunderte sich über die Reise nach Somalia, aber sie stellte keine Fragen. Vielleicht wollte sie die Antworten gar nicht hören. Auf jeden Fall machte sie mir eine Tasse Tee und gab mir Kekse, während ich fegte und Staub wischte. Und nach der Arbeit ging sie mit mir zur Tür, wo ich mich mit Abdi traf.

»Nun«, meinte sie zu uns beiden, »ihr fahrt also in zwei Wochen nach Somalia.«

»In zehn Tagen!«, berichtigte sie Abdi eifrig.

»Ihr fliegt nach Dubai und von dort aus nach Hargeysa?«

Abdi schüttelte den Kopf. »Nein, wir nehmen einen anderen Weg. Wir fliegen nach Galkayo.«

Davon hatte ich noch nichts gehört. Mein Herz schlug schneller, als ich daran dachte, dass wir den Orten, an denen meine Familie herumgezogen war, so nahe kommen sollten, aber Tante Safia runzelte die Stirn.

»Aber das hat Suliman mir gar nicht erzählt. Hat er seine Pläne geändert? Oder hast du dich vielleicht geirrt?«

Abdi zögerte. Dann nickte er langsam. »Ja«, meinte er, »da habe ich mich wohl geirrt.«

Aber ich wusste, dass er log.

Und Tante Safia auch. Sie sagte nichts, aber als wir gingen, sah sie uns nach, bis wir am Ende der Straße waren.

Schöne Khadija
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