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Das Leben ohne Handy war ein Albtraum. Ich verpasste alles.

»Natürlich wollte ich dich nicht ausschließen«, sagte Liban, als sich die anderen ohne mich getroffen hatten. »Ich hab dir doch eine S M S geschickt, oder?«

»Aber ich habe dir doch gesagt, dass ich mein Telefon verloren habe«, sagte ich. »Du hättest doch kommen und es mir sagen können, oder?«

»O. K ., O. K .«, meinte Liban leichthin. »Aber … du weißt doch, wie das ist.«

Das fand ich schnell heraus. Ohne Telefon oder Computer ist es, als würde man nicht existieren. Und keiner bringt Verständnis dafür auf. Man wird nur angemeckert.

»Es ist echt schlimm, dass man dich nicht anrufen kann«, beschwerte sich Liban ständig. »Du musst dir ein neues Telefon besorgen, ganz dringend.«

Das war leicht gesagt für ihn. Sein Dad hatte in England einen guten Job und Liban bekam alles, was er wollte. Er verstand nicht, wie es war, wenn man knapp bei Kasse war. Maamo sparte all unser Geld, um uns einen Computer zu kaufen (damit ihr besser lernen könnt), da hatte es keinen Sinn, nach einem Handy zu fragen.

Selbst wenn Onkel Osman mir das Telefonieren nicht verboten hätte, indem er mir mein Handy wegnahm.

Das wollte ich Liban natürlich nicht sagen. Aber ich musste immer daran denken. Jedes Mal, wenn ich zu Onkel Osman ging, hielt ich die Augen offen und hoffte, mein Telefon irgendwo herumliegen zu sehen. Hätte ich gewusst, wo es war, hätte ich es mir möglicherweise nehmen können, wenn er nicht hinsah. Ich stellte mir vor, wie sich meine Finger darum schlossen und das vertraute Gewicht, wenn es in meine Tasche fiel.

Aber ich erfuhr nie, wo er es hingelegt hatte.

Manchmal lag ich nachts wach und fragte mich, wie oft Sandy Dexter wohl anrufen würde, bevor sie aufgab. Was würde sie tun, wenn sie keine Antwort bekam? Würde sie es weiter versuchen oder würde sie sich ein anderes Mädchen an Khadijas Stelle suchen? Ich malte mir Dutzende von Möglichkeiten aus.

Aber nicht das, was tatsächlich geschah. Das war total verrückt.

Eines Morgens Ende Juni standen wir an der Bushaltestelle – Khadija und die anderen Mädchen in einer ordentlichen Reihe, die Jungen überall verstreut. Die Leute beschweren sich immer, weil sie sich an uns vorbeidrängeln müssen, und an jenem Morgen gab es die üblichen Meckerer wie Rabis Mutter und den alten Mann mit dem Einkaufswagen.

Aber heute war da noch jemand.

Kurz bevor der Bus kam, hielt Sulimans Frau Amina am Straßenrand. Sie sprang aus ihrem Auto und begann uns auszuschimpfen wie kleine Kinder.

»Wisst ihr nicht, wie gefährlich es ist, so den Gehsteig zu versperren? Die Leute müssen auf die Straße ausweichen, um durchzukommen! Was soll denn die Frau im Rollstuhl dort machen?«

Sie wedelte mit der Hand und deutete hinter uns. Wir sahen uns um, aber ich weiß nicht, warum sie sich so aufregte. Der Rollstuhl war meilenweit weg.

»Und seht euch den ganzen Dreck an!«, schalt sie weiter, als sie sich wieder umwandte. Sie bückte sich und hob eine Chipspackung auf. »Das verschandelt die ganze Gegend! Los, hebt das auf!«

Wir sammelten ein paar Sachen ein, um sie zufriedenzustellen. Aber nur, so lange sie hinsah. Als sie wegfuhr, ließ Hassan alles wieder fallen und schnitt eine Grimasse in ihre Richtung.

»Sie glaubt wohl, sie kann uns alle herumkommandieren, nur weil sie die Frau von Suliman Osman ist!«

»Sie ist Ärztin«, versuchte ich sie zu verteidigen. »Vielleicht hat sie zu viele Unfallopfer gesehen. Deshalb ist sie …«

In diesem Moment begann mein Handy zu klingeln.

Da ich nicht reagierte, stieß mich Liban an. »Willst du nicht rangehen?«

Ich nahm den Rucksack ab und da war es. In der Seitentasche, wo ich es nie selbst hingesteckt hätte. Ich muss es angestarrt haben wie ein Idiot, denn Hassan begann zu lachen.

»Das ganze Theater, du hättest es verloren, dabei war es in deiner Tasche! Wird Zeit, dass du zum Augenarzt gehst, Abdi!«

Ich hörte nur halb hin, denn ich hatte das Handy bereits am Ohr. Es waren aber nur ein paar Nachrichten von der Mailbox darauf. Hassan war nah genug, um die erste zu hören.

Wo steckst du, Mann? Wie oft muss ich dich denn noch anrufen?

Laut rief er: »Das ist Rageh! Er ruft aus Somalia an!«

Plötzlich drängten sich alle um mich, um meine Nachrichten mitzuhören. Das schien mir keine gute Idee zu sein, deshalb schaltete ich das Telefon wieder aus und steckte es in die Tasche. Zum Glück kam gerade der Bus. Bis wir alle eingestiegen waren, erzählte Liban von seiner Band, und die anderen hatten mein Telefon vergessen.

Aber ich nicht.

Wie war das Telefon plötzlich in meiner Tasche gelandet? Mit Onkel Osman konnte es nichts zu tun haben. Wenn er gewollt hätte, dass ich es zurückbekomme, hätte er es mir selbst gegeben – zusammen mit einer langen Rede darüber, dass er mir vertraute, es vernünftig zu benutzen.

Aber wenn er es mir nicht wiedergegeben hatte – wer dann?

 

Erst in der Pause kam ich dazu, meine Nachrichten in Ruhe abzuhören. Sobald die anderen außer Hörweite in der Schlange vor den Getränkeautomaten standen, schlüpfte ich wieder ins Klassenzimmer zurück.

Die beiden neuen Nachrichten waren von Rageh. Es war vorherzusehen, wie sie lauteten: Komm schon, Abdi, ruf mich zurück! Ich will alles über das Fußballspiel wissen! (Nichts darüber, wie es in Somalia war, was ich gerne wissen wollte.)

Aber es war auch eine gespeicherte Nachricht da. Beinahe hätte ich aufgelegt, ohne sie abzuhören, weil ich glaubte, ich müsse sie schon kennen. Aber irgendetwas ließ mich weiterhören. Und da erklang plötzlich die Stimme, auf die ich gewartet hatte. Sehr deutlich und geschäftsmäßig:

Hier ist Sandy. Ruf mich an. So schnell wie möglich.

Ich hörte sie dreimal ab, nur um sicherzugehen, dass ich mir das nicht nur einbildete. Dann lief ich los, um Khadija zu suchen. Sie stand am Rand einer Gruppe von Somali-Mädchen und kam auf ein leichtes Kopfnicken von mir herüber.

»Sieh mal, was ich hier habe.« Ich hielt das Telefon hoch, um es ihr zu zeigen. »Und rate mal, wer eine Nachricht hinterlassen hat!«

Wir hatten nicht über Sandy gesprochen, nicht seit dem Tag, an dem mir mein Telefon weggenommen worden war. Aber Khadija verstand mich sofort. Einen Moment lang wurde sie ganz still, dann streckte sie die Hand aus.

»Lass mich mal hören«, verlangte sie.

Kein Oh mein Gott! Ich fasse es nicht!-Geschrei wie bei anderen Mädchen. Es war, als hätte sie nie auch nur einen Moment daran gezweifelt, dass Sandy anrufen würde. Sie nahm das Telefon, hörte sich die Nachricht an und nickte dann zufrieden.

»Wir sollten sie zurückrufen. Worauf wartest du, Abdi? Tu es gleich. Das hat sie doch gesagt.«

»Warte mal.« Ich hatte nachgedacht. »Irgendjemand hat diese Nachricht gespeichert  – und das war nicht ich. Das heißt, dass jemand meine Mailbox abgehört hat. Und der weiß jetzt von Sandy.«

»Was weiß er darüber?«, meinte Khadija verächtlich. »Sie ist ja schließlich nicht die einzige Sandy auf der Welt, oder? Hör auf, dir unnütze Sorgen zu machen und ruf sie an!«

Es wäre verrückt gewesen, es hier zu tun, wo jeder mithören konnte, daher gingen wir in unser Klassenzimmer zurück und schlossen die Tür. Ich spielte die Nachricht für Khadija noch einmal ab und rief dann Sandys Nummer an.

Sie antwortete fast sofort. »Abdi? Bist du das?«

Mein Herz klopfte heftig. »Ja, hier ist Abdi«, sagte ich. »Sie wollten mich sprechen?«

»Natürlich. Warum hat das so lange gedauert?«

»Ich hatte ein paar Probleme mit dem Handy.«

»Nun, wir müssen weitermachen.« Ich hörte ihre Ungeduld. »Und ich möchte mit euren Eltern sprechen. Können wir uns am Sonntagnachmittag treffen? Gegen vier?«

Ich stellte mir vor, was Maamo sagen würde, wenn sie Sandy traf. »Vielleicht«, antwortete ich vorsichtig.

»Ich muss mit euren Eltern sprechen«, beharrte Sandy. »Ihr bringt sie mit, ja?«

»Ja, natürlich.« Ich wollte nichts sagen, was sie abschrecken würde. »Wir werden am Sonntag da sein.«

»Gut«, sagte Sandy. »Aber denkt daran, dass es geheim bleiben muss. Wenn sie mit jemand anderem reden, kann ich Khadija nicht einsetzen, verstanden?«

»Verstanden«, sagte ich, denn das war die Antwort, die sie hören wollte.

Aber ich fragte mich unwillkürlich, was sie wohl für ein Leben führte. Hatte sie denn keine Freunde? Oder Familie? Wenn Maamo hörte, was sie Khadija anbot, würde sie natürlich mit anderen Leuten sprechen. Sie würde jedermanns Rat einholen, bevor sie sich entschied.

Aber das würde ich ihr nicht sagen, denn das würde wahrscheinlich alles ruinieren.

Sandy redete bereits weiter. »Ich glaube, ihr solltet lieber nicht zum Atelier kommen. Wir treffen uns an einem neutralen Ort. Ich schicke dir eine Adresse per S M S, O.K .?«

»O. K .«, antwortete ich. »Wir werden um vier Uhr da sein.«

»Gut«, sagte Sandy und legte auf, ohne sich auch nur zu verabschieden.

Einen Moment lang waren wir sprachlos. Khadija und ich sahen uns an und ich wusste, dass wir dasselbe dachten. Was sollen wir jetzt tun?

Doch bevor wir darüber reden konnten, klingelte das Telefon erneut. Ich kannte die Nummer nicht, daher dachte ich, dass Sandy zurückrief, und antwortete sofort.

»Ja, hallo?«

Es war nicht Sandy. Und es gab keine Begrüßung. Nur eine raue, tiefe Stimme, die sehr schnell auf Somali sprach.

»Dies ist eine Nachricht für das Mädchen, das ihr Khadija Ahmed Mussa nennt. Sag ihr, wir haben ihren Bruder Mahmoud. Der Preis für sein Leben beträgt zehntausend Dollar.«

Zuerst konnte ich gar nichts sagen. Mein Gehirn bemühte sich, die Worte zu verstehen.

»Hast du gehört?«, fragte die Stimme. »Der Preis ist zehntausend Dollar.«

Im Hintergrund hörte man Geräusche. Vielleicht ein Radio. Und ich hörte andere Männer, die sich irgendwo in der Nähe unterhielten.

»Khadija hat … sie hat kein Geld«, brachte ich erstickt hervor. »Sie ist nur eine Schülerin.«

Der Mann am anderen Ende lachte verächtlich und seine Stimme verschwamm, als er sich umwandte, um meine Worte für die anderen zu wiederholen. Ich hörte, wie sie sich über viertausend Meilen hinweg über mich lustig machten.

Khadija sagte auch etwas, fragte etwas, aber das konnte ich im Moment nicht brauchen. Ich legte eine Hand über mein Ohr, versuchte, sie auszublenden, und redete hektisch ins Telefon. Ich wusste, dass sie mir nicht zuhören würden, aber ich musste es versuchen.

»Hören Sie, Khadija geht mit mir zur Schule. Und abends arbeitet sie in einem Laden, für etwa …« Ich rechnete schnell nach. »… fünfzig Dollar die Woche. Das ist alles, was sie hat. Wie sollte sie …«

Die raue Stimme unterbrach mich und wischte alles, was ich gesagt hatte, mit zwei Worten beiseite. »Sandy Dexter!«

Der Somali-Akzent war so stark, dass ich es zuerst gar nicht verstand. Doch dann krampfte sich mein Magen so zusammen, dass ich mich fast übergeben hätte. Plötzlich erkannte ich, wie ernst die Lage war.

Der Mann sprach jetzt schnell und rief mir Befehle zu. »In zehn Minuten rufe ich diese Nummer wieder an. Und ich will Khadija sprechen, verstanden? Sorg dafür, dass sie da ist, wenn ich anrufe.«

Zehn Minuten. Wir hatten zehn Minuten Zeit zum Überlegen.

»Ich sorge dafür«, versprach ich.

»Gut.« Das Telefon in meiner Hand verstummte und ich lehnte mich an die Wand, weil ich mich nicht mehr aufrecht halten konnte. Aber wir hatten keine Zeit, herumzusitzen. Wir hatten nur zehn Minuten.

Schöne Khadija
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