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Die Fahrt mit dem Taxi nach Hause war wie eine Reise von einem Leben in ein anderes. Als wir Sandys Atelier verließen, hatte ich tatsächlich gedacht, wir würden Maamo erzählen, wo wir gewesen waren. Sie würde doch sicher verstehen, was für eine großartige Chance sich Khadija bot? Und nicht nur Khadija. Die Verbindung mit Sandy konnte alles verändern. Wir mussten nur Maamo davon überzeugen.

Aber das war natürlich nur eine Fantasie. Als wir die Straße zum Battle Hill hinauffuhren, überlegte ich mir einen Plan. Vielleicht war es besser, das Geheimnis noch ein wenig länger zu bewahren. Damit wir nicht alles ruinierten.

»Lassen Sie uns bitte hier aussteigen«, sagte ich zum Fahrer. »Den Rest können wir laufen.«

Er zuckte mit den Achseln und hielt an, gleich um die Ecke von der Schulbushaltestelle. Wenn wir von dort aus kamen, sah es so aus, als wären wir wie üblich mit dem Bus gekommen.

So dachte ich mir das jedenfalls. Aber es war schon zu spät, um schlau zu sein, denn eine der Lehrerinnen hatte bemerkt, dass Khadija und ich nicht zum Unterricht erschienen waren. Sie hatte Fowsia gefragt, ob wir uns den Virus eingefangen hätten, der umging, und diese war nicht so schlau gewesen, zu Hause den Mund zu halten.

Als wir in die Wohnung kamen, saßen Onkel Osman und Tante Safia bei Maamo in der Küche. Von den Mädchen war nichts zu sehen. Nur die drei Erwachsenen warteten auf unsere Rückkehr. Sobald ich sie sah und ihre Blicke bemerkte, wusste ich, dass wir Ärger bekommen würden.

»Wo wart ihr?«, fragte Onkel Osman.

»In der Schule«, antwortete Khadija schnell.

War das nicht dumm? Wieso, glaubte sie, warteten sie hier auf uns? Sie mussten doch schon wissen, dass sie log.

Ich tat, was ich konnte, um den Schaden zu reparieren. »Khadija ist weggegangen – in die Bibliothek«, stieß ich hervor. »Sie wollte etwas für ein Projekt suchen, aber ich sah, dass sie sich nicht ausgetragen hatte, also bin ich ihr nach, um sie zurückzuholen und …«

In meinem Kopf hatte ich die ganze Geschichte bereit und sie war fast überzeugend. Aber Onkel Osman sah mir in die Augen und die Worte verpufften sinnlos in der Luft.

»Setz dich«, befahl er mir. »Da drüben. Und du dort, Khadija.«

Wir setzten uns ihm gegenüber nebeneinander an den Tisch. Hätten wir nur daran gedacht, uns eine gute Geschichte auszudenken! Jetzt war es zu spät für Lügen – aber die Wahrheit konnten wir auch nicht erzählen. Aber denkt daran  – es muss ein Geheimnis bleiben. Wenn ihr anderen Leuten davon erzählt, ist die Sache gestorben, verstanden?

Es war leicht gewesen, es zu versprechen. Natürlich erzählen wir nichts. Aber da hatte ich nicht mit Onkel Osman gerechnet. Und Maamo sah uns kopfschüttelnd an, als hätten wir eine Bank überfallen. Was sollten wir ihnen nur sagen?

Tante Safia beugte sich über den Tisch. »Wo hast du Khadija hingebracht?«, fragte sie sanft. »Du musst vorsichtig sein, Abdi. Denk daran – sie ist nicht wirklich deine Schwester.«

Auf diese Idee war ich nicht einmal gekommen. Es war so lächerlich, dass ich fast gelacht hätte. »Es war nichts in der Art!«

Khadija schien erbost. »Ich und Abdi? Wie könnt ihr auch nur daran denken …!«

»Es geht nicht darum, was wir denken«, fuhr Maamo auf, wie sie es immer tut, wenn sie sich Sorgen macht. »Es geht darum, was die anderen denken! Dein Vater vertraut darauf, dass wir auf dich aufpassen.«

Khadija hieb mit der Hand auf den Tisch. »Ihr passt auf mich auf. Und ich habe nichts getan.«

»Und – wo seid ihr gewesen?«, fragte Onkel Osman wieder.

Seid ihr schon einmal in einer dunklen Gasse von einer Gang in die Enge gedrängt worden? Genau so fühlte es sich an. Onkel Osman würde nicht aufgeben, bis er wusste, wo wir gewesen waren – und das durften wir ihm nicht sagen. Verzweifelt sah ich Khadija an.

Sie tat das Einzige, an das ich nicht gedacht hatte. Sie sagte die Wahrheit. »Man hat mir einen wirklich guten Job angeboten. Es ist ehrliche und gut bezahlte Arbeit und ich glaube, ich kann damit genug Geld verdienen, um meine ganze Familie hierher zu bringen.«

»Alle?«, staunte Onkel Osman und zog die Augenbrauen hoch. »Ich wusste nicht, dass man mit ehrlicher Arbeit so leicht Geld verdienen kann.«

»Auf was habt ihr euch eingelassen?«, fragte Maamo.

Khadija richtete sich auf. »Das ist ein Geheimnis.«

Das war natürlich, als hätte sie eine Bombe geworfen. Tante Safia keuchte erschrocken auf und Maamo drehte durch.

»Wie könnt ihr nur so dumm sein!«, rief sie. »Warum sollte euch jemand, der ehrlich ist, darum bitten, es vor eurer Mutter geheim zu halten?«

Nicht die Beherrschung verlieren, sagte ich mir und zwang mich, ganz ruhig zu bleiben. »Ich weiß, dass das schlimm klingt, Maamo, aber wir haben es versprochen. Und es gibt einen guten Grund dafür. Ihr müsst uns vertrauen, bitte.«

Maamo schnaubte, als hätte ich gerade das Allerdümmste gesagt, doch Onkel Osman sah mich nachdenklich an.

»Versprechen sind eine ernste Sache«, meinte er. »Und ich weiß, dass du ein vernünftiger Junge bist, Abdi. Vielleicht sollten wir euch also tatsächlich vertrauen.« Er kaute einen Moment an seiner Lippe und nickte dann Khadija zu. »Geh doch deine Schwestern abholen, ja? Sie sind bei uns zu Hause.«

Wollte er damit sagen, dass wir unser Geheimnis für uns behalten konnten? Ich staunte. Auch Khadija schien verwirrt, aber sie stand auf und ging zur Tür.

Ich stand auf, um sie zu begleiten, aber Onkel Osman hielt mich mit einer leisen Kopfbewegung auf. Er wartete, bis Khadija draußen war, sah mich dann scharf an und streckte die Hand aus.

»Gib mir dein Telefon«, verlangte er.

»Was?« Ich starrte ihn an.

Er sagte es nicht noch einmal. Er saß einfach da, mit ausgestreckter Hand und ernstem, geduldigem Gesicht. Ich wollte mich weigern, aber mir war klar, dass er nur versuchte, das Richtige zu tun. Seit mein Vater verschwunden war, hatte er uns Dutzende Male geholfen – ohne um eine Gegenleistung zu bitten.

Ich nahm mein Telefon und hielt es ihm auf der Handfläche hin. »Ich muss mein Versprechen halten«, sagte ich schwach.

»Ich verlange nicht, dass du es brichst«, erklärte Onkel Osman. »Ich suche nur nach einem anderen Weg, dich zu schützen. Und nicht nur dich, Abdi. Was du tust, betrifft auch uns andere.«

Ich wusste, was er meinte. Wenn ein Somali etwas Schlimmes tut, hängen die Leute es gleich der ganzen Gemeinde an. Somalis sind stolz … Somalis unterstützen sich gegenseitig … Es gibt Dutzende von diesen Vorwürfen. Für Sandy zu arbeiten war zwar nichts Schlimmes, aber es konnte der Liste einen neuen Vorwurf hinzufügen. Somalis sind gut auf dem Laufsteg. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Onkel Osman darüber sehr erfreut sein würde.

Ich legte ihm das Telefon in die Hand und er schloss die Finger darum. »Du bist ein guter Junge«, sagte er. »Sorg dafür, dass es so bleibt. Und ich werde sehen, was ich für Khadijas Familie tun kann.«

Noch vor ein paar Tagen hätte ich ihm geglaubt. Bis dahin war ich davon überzeugt gewesen, dass er ein wirklich mächtiger, wichtiger Mann war, der große Dinge bewirken konnte. Aber das war, bevor ich meine Nase in Sandy Dexters Welt gesteckt hatte. Jetzt war mir klar, dass ich mein Leben bisher in einer engen Kiste verbracht hatte. Die wirkliche Macht und das Geld waren außerhalb – und dort wollte ich sein.

Also lächelte ich Onkel Osman an, als er das Telefon in die Tasche steckte, und versuchte, auszusehen, als hätte ich nachgegeben. Doch dabei überlegte ich schon fieberhaft, wie ich dieses neue Problem lösen konnte.

Wie sollte Sandy uns finden, wenn ich kein Telefon mehr hatte?

Schöne Khadija
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