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Wenn man zu mir »Somalia« sagt, dann denke ich an den Regen in der roten Wüste, an Staub, der mir an den Beinen hochspritzt, und an Kinder, die vor Freude kreischen, wenn die ersten dicken Tropfen auf den Boden fallen. Ich denke an Kamele, die mit geweiteten Nüstern den Kopf heben. Und an den Geruch der Erde, in der die Samen aufplatzen und aufgehen.

Wenn der Gu-Regen kommt, verändert sich die Welt über Nacht von Rot in Grün, vom Hungerland in frisches, reiches Weideland. Die Bäume breiten ihre Blätter aus und die Tiere werden wieder fett. Es ist, als hätte alles den Atem angehalten. Und plötzlich wird dieser Atem in einem großen, lebensfrohen Seufzer wieder ausgestoßen.

Ich hätte nie geglaubt, dass ich Regen einmal hassen würde.

 

Mein richtiger Name ist nicht Khadija. Das müsst ihr wissen, bevor ihr meine Geschichte hört. Jetzt, wo ich berühmt bin, glaubt ihr vielleicht, alles über mich zu wissen, aber da irrt ihr euch. Ich bin vor euch verborgen und alles, was ihr gehört habt, ist falsch.

Mein kleiner Bruder Mahmoud nennt mich Geri – Giraffe –, weil ich große Augen und lange Beine habe, aber auch das ist nicht mein Name. Mein wirklicher Name zählt meine Vorfahren auf und reicht dreizehn Generationen zurück. Wenn ihr ihn hören würdet, wüsstet ihr genau, wer ich bin – wenn ihr aus Somalia seid.

Aber es ist vielleicht nicht klug, es euch zu sagen, also verschwendet keine Zeit damit, danach zu fragen. Hört mir einfach zu.

Als ich ein noch ein kleines Mädchen war, galt mein Vater als reicher Mann, mit einer großen Kamelherde, Schafen und Ziegen. Außerdem besaß er Häuser und Geschäfte in Mogadischu und Beledweyne und er reiste von einem Ort zum anderen bis in den Ogaden. Seine zweite Frau wohnte in Mogadischu, aber wir sahen sie kaum. Ich wuchs zusammen mit meinen Schwestern und meinem Bruder Mahmoud auf und wir zogen mit meiner Mutter und unseren Verwandten von einer Weide zur nächsten. Es war ein schönes Leben.

Aber plötzlich änderte sich alles, ohne Vorwarnung. Im Grunde hatte es schon gewisse Anzeichen gegeben, aber ich war zu unschuldig gewesen, um sie richtig zu deuten. Zu vertrauensvoll.

Zuerst kam mein Vater aus Mogadischu und nahm drei der Kamele mit. Wir wussten, dass er sie verkaufen würde, aber er sagte uns nicht, was er mit dem Geld vorhatte. Schließlich waren es seine Kamele. Und da der Regen ausgeblieben war, dachte ich, er verkauft sie wegen der Dürre.

Als er das nächste Mal kam, hatte er eine Kamera dabei. Meiner Mutter gefiel das nicht. Ich sah, wie sie sich heftig mit ihm stritt, aber sie waren zu weit weg, als dass ich hätte verstehen können, worum es ging. Als er mich rief, ging sie allein fort.

Er hängte ein Laken über die Seite seines Autos und befahl mir, mich davorzusetzen, während er Fotos von meinem Gesicht machte. Als er die erste Aufnahme machte, lächelte ich und winkte, aber er schüttelte den Kopf.

»Sieh gerade in die Kamera«, sagte er. »Ich brauche nur dein Gesicht.«

Vielleicht sucht er einen Ehemann für dich, hatte Mahmoud später gesagt. Dann lachte er über meinen Gesichtsausdruck und da wusste ich, dass er nur gescherzt hatte. Er ist zu jung, um so etwas wie die Ehe ernst zu nehmen. Aber ich fragte mich, ob er wohl recht hatte.

An Passbilder hatte ich nie im Leben gedacht.

Als mein Vater das dritte Mal kam, war es fast schon dunkel. Er saß mit meiner Mutter am Feuer und unterhielt sich lange mit ihr. Mahmoud sagte nichts, aber er sah mich von der Seite her an und wackelte mit den Augenbrauen, um mich zum Lachen zu bringen. Als wir schlafen gingen, konnten wir unsere Eltern immer noch reden hören.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stellte ich fest, dass meine Mutter all meine Sachen in einem Tuch zusammengepackt hatte. Es war nicht allzu viel. Wenn man sein Leben damit verbringt, herumzuziehen, nimmt man nur die Dinge mit, die wirklich wichtig sind.

»Du ziehst ins Haus deines Vaters nach Mogadischu«, erklärte meine Mutter. »Sei ein gutes Mädchen und tu, was man dir sagt.«

»Was ist denn los? Warum soll ich weggehen?«

Sie tätschelte mir den Arm und schenkte mir ein leises Lächeln. »Das wirst du schon bald erfahren. Es ist eine wundervolle Gelegenheit.«

Warum wollte sie mir nicht mehr verraten? Ich wollte noch mehr Fragen stellen, aber es war keine Zeit dafür. Mein Vater rief mich und alle standen um sein Auto herum und warteten darauf, dass ich einstieg. Mahmoud saß am Steuer und tat so, als würde er fahren, und Zainab und Sagal sahen mich neidisch an. Mahmoud hatte auch mit ihnen gesprochen und sie glaubten, dass eine Hochzeit anstand.

Alle umarmten mich. Dann scheuchte mein Vater Mahmoud aus dem Wagen und hielt mir die Tür auf.

»Fertig?«, fragte er.

Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Fertig!«, antwortete ich und stieg ein.

 

Unterwegs versuchte ich herauszufinden, was los war. Zuerst ließ ich einige Hinweise fallen, und da mein Vater nicht darauf reagierte, fragte ich ihn schließlich ganz direkt: »Abbo, bringst du mich weg, um mich zu verheiraten?«

Erstaunt sah er mich an. »Wer hat dir denn das erzählt?«

»Niemand hat es mir erzählt. Aber Mahmoud hat gedacht …«

»Mahmoud?« Mein Vater begann zu lachen. »Was für ein geschickter Geschichtenerzähler! Erinnerst du dich noch an sein Lied über die Ziege? Hey, kleine Ziege, du bist die schönste aller Ziegen! Du bist so hübsch wie ein Kamel, kleine Ziege! Alle Kamelmännchen sind in dich verliebt, kleine Ziege!«

Er war ein guter Imitator und sang mit hoher, dünner Stimme, wie Mahmoud. Es war unmöglich, nicht zu lachen – aber ich hatte meine Frage noch nicht vergessen. »Also wenn ich nicht verheiratet werde, warum bringst du mich dann nach Mogadischu?«

Mein Vater schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Du gehst nicht nach Mogadischu. Du gehst auf eine viel längere Reise.« Er sah weg. »Ich habe einen Platz für dich in England gefunden.«

»England?«, stieß ich krächzend hervor, als ob mich jemand würgte. »Warum schickst du mich fort? Was habe ich getan?«

»Du hast gar nichts getan. Wenn du ein böses Mädchen wärst, würde ich nicht wagen, dich dorthin zu schicken. Es ist eine wunderbare Gelegenheit. Du bekommst eine gute Ausbildung …«

»Ich bin zu alt für die Schule! Und wie soll ich die Leute da verstehen?«

»Dir bieten sich Möglichkeiten …«

»Ich will keine Möglichkeiten. Ich will hierbleiben, bei euch!«

Wir stritten uns während der ganzen Fahrt durch die Wüste und auch noch auf der Autobahn. Das ist das Einzige, woran ich mich bei dieser Reise erinnere, an unsere Stimmen, die hin- und hergingen, und die Verzweiflung, die mich umfing wie der Dornenzaun die Tiere in der Nacht.

Wenn ich jetzt zurückdenke, wünschte ich mir, ich hätte geschwiegen und mir stattdessen die Landschaft angesehen. Ich werde nie wieder so durch die Wüste reisen – als jemand, der dorthin gehört. Diese Reise bedeutete das Ende von allem, was ich bis dahin gekannt hatte. Aber das war mir nicht klar und daher schimpfte und zeterte ich weiter.

Schließlich hielt mein Vater den Wagen an. Er drehte sich zu mir um und unterbrach mich. »Es reicht!« Seine Stimme klang gebieterisch. »Wir werden gleich jemanden treffen und ich will mich nicht für dich schämen müssen. Du wirst dich ruhig verhalten und genau das tun, was man dir sagt. Das ist der Mann, der dich nach England bringen wird.«

Er fuhr wieder an und setzte die Fahrt schweigend fort, die Lippen fest zusammengepresst und den Blick auf die Straße gerichtet. Da bekam ich zum ersten Mal Angst. Mir wurde klar, dass er fest entschlossen war. Es würde wirklich so kommen.

Kurz vor der Stadt trafen wir uns mit dem Schlepper. Er saß geduldig am Straßenrand und rauchte eine Zigarette. Als wir anhielten, machte er sie aus und stand auf. Mein Vater befahl mir auszusteigen.

»Das ist also Khadija«, meinte der Schlepper.

Ich wollte schon den Mund aufmachen und ihm sagen, dass das nicht mein Name war, aber er ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen.

»Hier ist dein Pass.«

Er gab ihn mir nicht, sondern hielt ihn nur so aufgeklappt, dass ich mein Foto sehen konnte, das Foto, das mein Vater in der Wüste gemacht hatte, und den Namen deutlich lesen konnte. Khadija Ahmed Mussa.

»Das bist du«, sagte er. »Ich bin dein Onkel, Guleed Mussa Ali, und ich bringe dich zu deiner Familie in England.«

Was für eine Familie?

Mein Vater stieg aus und legte mir den Arm um die Schultern. »Hör auf deinen Onkel. Merke dir alles, was er dir erzählt. Wenn du es dir nicht richtig merkst, könntest du Schwierigkeiten bekommen.«

Der Schlepper blickte stirnrunzelnd auf das Bündel in meinen Händen. »Was ist das?«

Ich verstand die überflüssige Frage nicht. »Das sind die Sachen, die ich mitgenommen habe.«

Er sah meinen Vater finster an. »Das kann sie im Flugzeug nicht mitnehmen. Haben Sie die Sachen gekauft, die ich Ihnen genannt habe?«

Mein Vater nickte, ging zum Kofferraum des Wagens und holte eine billige Reisetasche aus Plastik heraus. Bevor ich noch ahnte, was er vorhatte, nahm er mir mein Bündel weg – in dem alles war, was ich besaß –, warf es ins Auto und stellte mir die Tasche vor die Füße.

»Mach sie auf«, verlangte der Schlepper ungeduldig. »Du musst wissen, was darin ist.«

Ich zog den Reißverschluss auf und sah hinein. Es war nicht viel. Ein paar Kleidungsstücke in gedeckten Farben, ein kleiner Beutel mit Toilettenartikeln und ein Kopftuch. Kein großes buntes Somali-Kopftuch wie ich es gerade trug, sondern nur ein Stück dünner schwarzer Stoff.

»Du brauchst nicht viel«, meinte mein Vater. »Du kommst in eine gute Familie. Sie werden sich um dich kümmern.«

Der Schlepper wedelte ungeduldig mit der Hand und befahl mir, die Tasche zu nehmen. Als ich danach griff, fragte er mich barsch: »Wie heißt du?«

Ich vermutete, dass er mich hereinlegen wollte, aber darauf war ich gefasst gewesen. »Ich bin Khadija«, antwortete ich. »Khadija Ahmed Mussa.« Der Name hatte sich mir bereits eingeprägt.

»Und wer bin ich?«

»Sie sind Guleed Mussa Ali.«

»Guleed Mussa Ali …?«

Zuerst verstand ich nicht, was er meinte, doch er und mein Vater beobachteten mich scharf, daher war mir klar, dass das ein Test war. »Guleed Mussa Ali …«, wiederholte ich langsam. Und dann fiel es mir plötzlich wieder ein. »Onkel. Ich muss Sie Onkel nennen.«

»Denk daran«, verlangte er. Er lächelte nicht. »Und jetzt nimm deine Tasche und komm. Wir müssen das Schiff finden.«

Er ging die Straße entlang und ich sah meinen Vater an, immer noch in der Hoffnung, dass es einen Ausweg gab. Aber es gab keinen. Mein Vater schüttelte den Kopf.

»Ich tue etwas wirklich Gutes für dich«, erklärte er mir. »Ich habe eine Menge Geld dafür bezahlt, dass du sicher nach England kommst. Verschwende es nicht.«

»Aber ich habe dich nicht darum gebeten …«

Er nahm mich an den Armen und sah mich fest an. »Hör zu«, verlangte er. »Hier kannst du nichts tun. Für Leute wie uns, die mit ihren Tieren herumziehen, wird es immer schwieriger. Bald werden wir nichts mehr haben. Wenn du nach England gehst, wirst du der ganzen Familie helfen können. Und vielleicht kannst du eines Tages zurückkommen und auch Somalia helfen.«

Noch vor einer Woche war ich nur ein ganz normales Mädchen gewesen, das die Ziegen hütete und erwartete, ihr Leben so zu leben wie ihre Mutter es getan hatte. Ich hatte geglaubt, dass ich eines Tages einen Ehemann haben würde und Kinder, um die ich mich kümmern und die ich erziehen musste. Und jetzt war ich plötzlich für meine ganze Familie verantwortlich  – und für das Schicksal meines Landes. Einen Moment lang war ich zu entsetzt, um meinem Vater zu antworten. Aber ich wusste, dass er seine Meinung nicht ändern würde. Er hatte mich für diese Aufgabe ausgesucht und ich musste sie übernehmen. Also riss ich mich zusammen und sah ihm in die Augen.

»Ja«, sagte ich, »das werde ich.«

Für mehr blieb uns keine Zeit. Der Schlepper rief schon ungeduldig über die Schulter nach mir, weil er fürchtete, das Boot könnte ohne uns ablegen. Mein Vater tätschelte mir den Arm und sprang dann ins Auto, wendete schnell und fuhr mit eisernem Gesichtsausdruck davon.

Ich nahm die Plastiktasche und ging die Straße entlang zu dem Mann, der mich wegbringen sollte.

 

Zuerst brachte er mich nach Kenia, in einem Boot. Diese Reisen sind sehr gefährlich, denn die Boote sind stets überladen und das Meer ist voller Haie. Hunderte von Menschen sind bei dem Versuch, dasselbe zu tun wie ich, auf schreckliche Weise umgekommen. Aber das habe ich erst viel später erfahren. So lange wir auf See waren, hatte ich ganz andere Sorgen.

Es war ein kleines Boot und ich saß fest eingeklemmt zwischen Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich war zum ersten Mal auf einem Boot und niemand hatte mich gewarnt, dass es schaukeln und schwanken würde, wenn die Wellen dagegenschlugen. Ich hatte Angst und glaubte, mich jeden Moment übergeben zu müssen.

Um mich abzulenken, schloss ich die Augen und konzentrierte mich darauf, was mir der Mann beigebracht hatte. Das wiederholte ich immer und immer wieder.

Mein Name ist Khadija Ahmed Mussa. Ich bin dreizehn Jahre alt. Ich gehe nach England zu meiner Mutter und meinen Geschwistern. Die Namen meiner Schwestern sind Fowsia, Maryan und Sahra. Fowsia ist elf, Maryan ist sieben und Sahra ist vier. Und mein Bruder Abdi ist vierzehn.

Ich versuchte erst gar nicht, mir ihre Gesichter vorzustellen oder wie sie waren. Sie waren für mich keine Menschen, sondern nur Worte, die ich auswendig lernen musste. Wenn ich es falsch machte, würde man mich nicht nach England lassen und mein Vater hätte sein Geld umsonst ausgegeben.

Mein Name ist Khadija …

Diese Stunden im Boot waren die schlimmsten meines Lebens. Ich überlebte sie, indem ich mich von den Geschehnissen um mich herum abschottete. Und als wir in Kenia landeten, fühlte ich mich wirklich wie ein anderer Mensch.

 

Was mit mir geschah, nennt man Hambaar. Huckepack. Der Onkel nahm mich »Huckepack« mit nach England, für das Geld, das mein Vater ihm dafür bezahlt hatte. Das war sein Geschäft und er tat genau das, was er versprochen hatte. Nicht mehr und nicht weniger.

Nachdem wir von Bord gegangen waren, reisten wir erst auf der Straße und dann mit dem Flugzeug weiter und jedes Mal, wenn wir durch eine Kontrolle mussten, lächelte mich mein Begleiter freundlich an. Das gehörte zu seinem Job. Sobald wir durch waren, packte er das Lächeln zusammen mit meinem Pass wieder ein und ignorierte mich, selbst wenn wir nebeneinandersaßen.

Beim Umsteigen in Dubai hätte ich weglaufen können. Der Mann wies auf einen Stuhl am Flughafen und befahl mir, mich dorthin zu setzen und zu warten, bis er kam und mich holte. Aber wo hätte ich hinlaufen sollen? Ich kannte den Ort nicht und hatte nur den Pass, der sich in der Tasche des Onkels befand. Mein Vater hatte dafür bezahlt, dass ich nach England ging, also musste ich das auch tun. So saß ich da, zitterte in der klimatisierten Luft und wiederholte immer wieder dieselben Worte: Mein Name ist Khadija …

 

Als wir in England landeten, war der Himmel grau und es regnete. Kein sauberer, schwerer Regen wie der Gu, sondern ein gleichmäßiges, deprimierendes Nieseln. Ich wusste nicht, wie davon irgendetwas wachsen sollte. Aber überall, wo ich hinsah, war der Boden sowieso mit Beton bedeckt.

Ich fühlte mich so hart und kalt wie dieser Betonboden. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich mich anders verhalten hätte. Wenn ich mit klopfendem Herzen und schuldbewussten Blicken zur Passkontrolle gegangen wäre, hätten mich die Behörden vielleicht nicht nach England gelassen und mich wieder nach Hause geschickt. Aber ich war innerlich starr und still. Daher warfen sie nur einen Blick auf mein Gesicht und auf meinen Pass und ließen mich ins Land.

Im Zug saßen Menschen aus aller Welt – und alle achteten sorgfältig darauf, einander nicht anzusehen. Im Bus, den wir anschließend nahmen, war es ebenso. War die ganze Stadt so? Tausende von Menschen, die so taten, als existierten die anderen nicht?

Wir fuhren durch Straßen mit großen, graugelben Gebäuden und die ganze Zeit über fiel dieser nutzlose Regen. Als ich zum Himmel hinaufblickte, konnte ich keine Spur von Sonne entdecken. War sie hier immer unsichtbar?

Ich hatte geglaubt, dass der Mann mich zum Haus meiner neuen Familie bringen würde. Ich hatte geglaubt, er würde mich Abdi und seinen Schwestern und der Frau vorstellen, die meine Mutter darstellen sollte. Aber es geschah etwas völlig anderes.

Als wir aus dem Bus stiegen, nahm er ein paar Münzen aus der Hosentasche und gab sie mir. »Weißt du, wie ein Telefon funktioniert?«, fragte er.

Ich hob den Kopf. »Natürlich!«

»Siehst du das Telefon dort?« Er deutete über die Straße. »Steck das Geld in den Schlitz und ruf die Nummer an, die ich dir gebe. Dann bleibst du in der Telefonzelle. Der, der das Gespräch annimmt, kommt und holt dich ab.«

Ich war viel zu erstaunt, um etwas anderes tun zu können, als ihn anzustarren.

»Steh hier nicht rum!«, verlangte er ungeduldig. »Die Leute werden sonst auf dich aufmerksam. Geh!« Er drückte mir eine kleine weiße Karte in die Hand und gab mir einen Stoß.

Langsam nahm ich meine Tasche und ging die Straße entlang zu der Telefonzelle. Auf halbem Weg sah ich über die Schulter zurück. Der Mann war bereits verschwunden. Die Huckepackreise war vorbei und ich stand in dieser fremden Straße auf eigenen Füßen.

Das Telefon war anders als die, die ich bisher benutzt hatte, aber ich verstand schnell, wie es funktionierte. Ich steckte das Geld in den Schlitz, drückte sehr sorgfältig die Ziffern und überprüfte die Nummer dabei immer wieder. Wenn ich beim ersten Mal einen Fehler machte, hatte ich kein Geld mehr für einen zweiten Versuch.

Es klingelte nur zweimal, bevor abgenommen wurde. »Hallo?«, sagte eine Jungenstimme. Er sprach Somali, aber mit einem sehr merkwürdigen Akzent. »Bist du in der Telefonzelle?«

»Ja«, antwortete ich. »Aber ich weiß nicht, wo …«

»Warte einfach«, sagte er. »Ich komme.« Damit legte er auf.

Ich blieb mit dem Hörer in der Hand stehen, sah die Straße entlang und fragte mich, woran ich den Jungen erkennen sollte. Aber darüber hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen, denn das war ganz leicht. Ich erkannte ihn, sobald er um die Ecke kam. Ein großer somalischer Junge, der direkt auf die Telefonzelle zukam.

Er machte die Tür auf und sah mich an. »Ich bin Abdi«, sagte er. Als ich zögerte, nannte er noch einmal seinen Namen, diesmal vollständig. »Ich bin Abdirahman Ahmed Mussa.«

Er war viel älter als Mahmoud und auch sehr groß, aber er war viel mehr – Junge. Da wusste ich, wie weit ich wirklich gereist war. Ich war weit weg von Somalia und weit weg von meinem eigentlichen Ich, an einem Ort, wo die Menschen anders waren. Und ich musste lernen, hier zu leben.

Ich hob den Kopf, sah Abdi in die Augen und erwiderte: »Und ich bin Khadija Ahmed Mussa.«

Schöne Khadija
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