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»Dreh den Globus, mein Junge«, pflegte mein Vater zu sagen. »Gut. Und jetzt gib mir deinen Finger.«

Er hielt ihn in die Luft und als der Globus sich langsamer drehte und die verschwommenen Konturen der einzelnen Länder deutlicher wurden – stach er plötzlich zu.

Und er traf nie daneben. Jedes Mal, wenn die Welt mit einem Knirschen zum Stillstand kam, saß mein Finger genau am Horn von Afrika, genau an der Stelle, wo die Buchstaben um die Küste liefen.

SOMALIA.

»Da!«, rief mein Vater. »Da gehörst du hin!«

Und ich betrachtete die zerrissene, schartige Form und dachte an Kriegsherren und Piraten. An Kinder, die mit Kalaschnikows über der Schulter die Straßen entlangliefen. Gepanzerte Wagen mit Maschinenpistolen und Männer, die auf dem Waffenmarkt von Mogadischu um Munition feilschten.

Um an einem solchen Ort zu überleben, muss man stark sein. Man braucht eine starke Familie, die einen unterstützt, und man muss stolz sein auf seine eigene Identität. Genau dafür sind wir Somalis bekannt – sogar hier. Die Leute sehen, dass wir an der Schule füreinander einstehen und sagen: Ärgere ihn nicht, das ist eines von den Somalia-Kindern.

Das sitzt ganz tief in mir drin. Jedes Mal, wenn ich einen Globus sehe, jedes Mal, wenn ich den Namen meines Heimatlandes lese oder es auf einer Karte sehe, steigt ein unbeschreibliches Gefühl in mir hoch. Ich denke dann immer: Das bin ich. Da komme ich her.

Mein Vater hat mir den Weg dorthin gezeigt; Dutzende Male, mit dem Finger über dem Globus. Du fliegst nach Dubai oder Dschibuti. Und dann nimmst du ein Flugzeug geradewegs nach Somalia. Ganz einfach. Das macht man ständig, trotz der Gefahr und der Waffen. Somalis aus der ganzen Welt kehren zurück, um ihre Familien zu Hause zu besuchen.

Nur ich nicht. Ich bin noch nie dort gewesen.

 

Ich wurde in den Niederlanden geboren. Meine Mutter war dorthin geflüchtet, als die Lage in Somalia brenzlig wurde. Und es wurde ganz schön brenzlig, das kann man mir glauben.

Zuerst gab es einen Diktator, der seinen eigenen Clan begünstigte, sagt Maamo. Er unterdrückte alle anderen – bis die westlichen Länder begannen, am Horn von Afrika mitzumischen. Da brach alles auseinander.

Und die Kriegsherren übernahmen die Macht.

Wie es damals war? Nun, man muss sich das so vorstellen, als ob man mitten in einem Computerspiel lebt, nur dass alles echt ist. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Alle Gebäude sind zerbombt; wenn man die Straße entlangläuft, explodieren die Granaten, und die Kugeln aus den Maschinengewehren mähen alles nieder, was ihnen in die Quere kommt. Maamo sagt, überall herrschte Gewalt. Und Korruption. Und Chaos.

Sie war damals mit mir schwanger und mein Vater versuchte verzweifelt, sie irgendwo in Sicherheit zu bringen, aber seine Eltern waren alt und krank und er konnte sie nicht verlassen. Also ging Maamo allein ins Ausland, als Flüchtling. Und mein Vater versprach, zu kommen und sie zu holen, wenn sich das Land wieder beruhigt hatte.

Aber es beruhigte sich nicht.

 

Während ich aufwuchs, wohnte mein Vater nie bei uns. Solange ich klein war, kam er uns besuchen und erfüllte das ganze Haus mit Leben und Energie. Er spielte sehr gerne und er liebte es, Geschichten zu erzählen – vor allem über die Streiche, die er und sein bester Freund Suliman anderen als Jungen gespielt hatten.

Wir wussten nie, wann er zu uns kommen würde. Ich wachte einfach morgens auf und da war er und grinste mich an, wenn ich die Augen aufschlug. Wenn ich heute versuche, mich an diese Besuche zu erinnern, verschmelzen sie alle zu einem einzigen Mal. Ich sehe sein Gesicht und schreie vor Freude auf, wenn er mich aus dem Bett hebt. Dann wirft er mich in die Luft, drei, vier, fünf Mal, und fängt mich mit seinen großen, starken Händen wieder auf.

»Und ich dachte, du wärst gewachsen!«, sagte er dann. Er neckte mich. »Ich dachte, du seist jetzt groß genug, um dich um Maamo zu kümmern, aber du bist ja immer noch so ein Winzling!«

»Bin ich nicht!«, quiekte ich. »Miss nach! Miss mich, Abbo!«

Ich zappelte mich frei und glitt zu Boden, um ihn an die Wand gegenüber zu ziehen, wo wir mich immer gemessen und mein Wachstum mit Strichen angezeigt haben. Die Bleistiftstriche kletterten nach oben wie die Sprossen einer Leiter, eine für jeden seiner Besuche.

Erst gab es nur Markierungen für mich, aber jetzt stehen drei weitere Leitern neben meiner, je eine für meine drei kleinen Schwestern. Erst Fowsia, dann Maryan, dann Sahra. Aber meine Leiter ist die längste und sie wächst sehr schnell. Das macht mich richtig froh, denn ich kann es gar nicht abwarten, so groß zu sein wie mein Vater. Er hat bei seiner eigenen Größe ebenfalls eine Markierung gesetzt, damit ich mein Ziel immer vor Augen habe.

Wie nah bin ich an ihm dran?

 

Ich werde es nie erfahren, denn wir wohnen dort nicht mehr. Ich war zehn, als wir nach England zogen – und mein Vater aufhörte, uns zu besuchen.

Aber er blieb mit uns in Kontakt. Er schickte uns an den Ort, wo neben vielen anderen Somalis Suliman Osman und seine Familie wohnten. Das ist ein Teil von London, den man Battle Hill nennt. Dort hatte Suliman eine Reihe von Internetcafés eröffnet. Ich ging jede Woche zu einem, das ganz bei uns in der Nähe war. Und immer erwartete mich dort eine E-Mail: Hi Abdi! Wie geht es? Das waren ja gute Neuigkeiten von dem Fußballspiel … Mein Vater erinnerte sich immer daran, was ich gerade tat und was ich gerne mochte. Und seine Mails endeten immer gleich. Kümmere dich um Maamo und deine Schwestern, bis ich wiederkomme. Ich bin stolz auf dich. Abbo.

Aber er kam nie.

»Er hat uns immer noch lieb«, erklärte uns Maamo. »Aber es ist jetzt schwieriger. Er kann nicht mehr so einfach wie früher hin- und herreisen. Wir müssen eine Menge Geld sparen, damit er hierherkommen und für immer bei uns bleiben kann – bis wir wieder nach Hause nach Somalia gehen können.«

Dass wir sparen mussten, war auch der Grund dafür, dass ich meine E-Mails in Suliman Osmans Café lesen musste. Wir konnten uns keinen eigenen Computer leisten, weil wir jeden Penny brauchten, um Abbo nach England zu holen.

Sonntags setzten Maamo und ich uns hin, zählten, was wir in der Woche gespart hatten, und bauten kleine Münzstapel auf dem Küchentisch. Am Montag brachte Maamo das Geld dann zu Onkel Osman Hersi, damit er es für uns aufbewahrte. So machten wir es jeden Sonntag, drei Jahre lang. Als ich dreizehn war, hatten wir endlich genügend Geld zusammen und Onkel Osman kam und sagte uns, dass es zu meinem Vater geschickt worden sei. Als er ging, tanzte Maamo in der Küche herum und sang Lieder aus Somalia.

Wir dachten natürlich, dass Abbo uns eine E-Mail schicken würde, um uns zu sagen, wann er kommen würde. Aber wir hörten nichts von ihm. Es kamen überhaupt keine Mails mehr von ihm. Einmal war noch die übliche Nachricht gekommen, voller Neuigkeiten und Fragen, mit lustigen Geschichten und Scherzen. Und dann … nichts mehr.

Jeden Tag sah ich in meinen Posteingang, in der Schule und abends im Café noch einmal. Suliman musste erraten haben, warum ich immer wiederkam. Eine Zeit lang sagte er seinem Angestellten, dass ich zehn Minuten am Tag kostenlos ins Internet dürfte. Mehr brauchte ich nicht – es sei denn, ich musste Hausaufgaben machen – denn die Nachricht, auf die ich wartete, kam nie. Zuerst versuchte Maamo herauszufinden, was passiert war. Sie schickte ihre Frage um die ganze Welt, von einem Somali zum nächsten. Wo ist Ahmed Mussa Ali? Aber niemand schien eine Antwort zu haben.

Eines Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, erzählte sie mir, er sei tot.

Sie versuchte nicht einmal, es mir schonend beizubringen. Sie sagte einfach nur: »Dein Vater ist tot.«

Als ich die natürliche Frage stellte, wann und wo das passiert sei, und wer schuld sei – da wurde ihr Gesicht abweisend, als sei die Geschichte zu schmerzhaft, um sie zu erzählen. Sie weigerte sich, darüber zu reden.

Wenn ich mir danach das Gesicht meines Vaters vorzustellen versuchte, dann sagte er immer dasselbe. Pass auf Maamo und deine Schwestern auf, bis ich wiederkomme. Ich bin stolz auf dich … Ich spürte die Last auf meinen Schultern wie ein schweres Gewicht.

 

Es war etwa sechs Monate später, als ich bei meiner Rückkehr aus der Schule sah, dass wir Besuch hatten. Es war Sulimans Vater, Onkel Osman, mit seiner Frau, Tante Safia. Sie saßen im Wohnzimmer und tranken Tee mit Maamo. Die Wohnung war sehr ruhig und aufgeräumt und von meinen Schwestern war nichts zu sehen.

Maamo goss mir eine Tasse Tee ein und bedeutete mir mit einem Kopfnicken Richtung Sofa, dass ich mich zu Onkel Osman setzen sollte. Dann unterhielt sie sich weiter mit Tante Safia, während Onkel Osman mich anlächelte.

»Du machst dich sehr gut«, stellte er fest. »Und deine Schwestern werden gute, vernünftige Mädchen.« Als ich mich umsah und mich fragte, wo sie wohl waren, lächelte er wieder und sagte: »Sie besuchen meine Töchter.«

Er und Tante Safia hatten nur einen Sohn – Suliman –, aber drei Töchter, die alle älter waren als ich. Früher hatten wir die Töchter häufig gesehen, als sie noch in Tante Safias Laden ausgeholfen hatten, aber dort waren sie jetzt nicht mehr. Sie lernten eifrig für ihre Prüfungen. Wenn sie sich freigenommen hatten, um auf meine kleinen Schwestern aufzupassen, dann konnte das nur eines bedeuten.

Onkel Osman war gekommen, um uns etwas Wichtiges zu sagen.

Er sah mich an, während ich darüber nachdachte. Dann meinte er leise: »Wenn du allerdings eine ältere Schwester hättest, dann könnte sie sich um Fowsia, Maryan und Sahra kümmern. Mädchen brauchen eine ältere Schwester, wenn sie aufwachsen.«

Maamo und Tante Safia hielten in ihrer Unterhaltung inne. Als sie weitersprachen, war mir klar, dass sie sich gegenseitig nicht wirklich zuhörten. Sie wollten wissen, was ich Onkel Osman antworten würde. Das war also der Grund seines Besuches.

»Ältere Schwestern tauchen nicht aus dem Nichts auf«, sagte ich.

Onkel Osman sah mich prüfend an. Dann sagte er sehr vorsichtig: »Da ist ein Mann in Somalia – ein guter, schwer arbeitender Mann –, der möchte, dass seine Tochter hier in Großbritannien zur Schule geht. Aber sie hat hier keine Verwandten, die sie aufnehmen könnten. Er hat mich gebeten, eine gute Familie für sie zu finden, in der sie wie eine Tochter behandelt wird … oder wie eine Schwester.«

Jetzt starrten sie mich alle an. Sie mussten das bereits alleine, ohne mich, besprochen haben, aber ich hatte das Gefühl, als läge die Entscheidung bei mir. Als ob sie auf meine Erlaubnis warteten.

»Wie alt ist das Mädchen denn?«, fragte ich.

Onkel Osman zuckte mit den Schultern. »Vielleicht … vierzehn?«

Das hieß, dass sie wahrscheinlich älter war. Ich weiß nicht viel darüber, wie diese Dinge laufen, aber ich weiß, dass jünger besser ist, denn dann hat man mehr Zeit für die Ausbildung. Und man bekommt länger Geld.

»Wer ist sie?«, wollte ich wissen. »Aus was für einer Familie kommt sie?«

Onkel Osman runzelte ganz leicht die Stirn. »Es ist nicht gut, solche Unterscheidungen zu machen. Sie heißt Khadija und sie ist deine Schwester. Wir sind jetzt alle eine Familie. Dein Vater hat das verstanden.«

Wie konnte ich da ablehnen? Er hatte uns nicht des Geldes wegen gewählt, sondern weil er wusste, dass wir die Richtigen waren. Die Frau und die Kinder von Ahmed Mussa Ali.

»Und? Wie lautet deine Antwort?«, fragte Onkel Osman.

Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen.

»Sie kann kommen«, sagte ich. »Sag ihrem Vater, dass wir uns um sie kümmern werden.«

Schöne Khadija
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