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Ja, ich hatte Streit mit Khadija. Denn sie war völlig unvernünftig.

Gut, ich hatte versprochen, sie zweimal die Woche zu Tante Safias Laden zu begleiten und sie dort wieder abzuholen. Und das hatte ich ja auch getan. Eine ganze Woche lang war ich an den Abenden, die sie arbeitete, hin- und hergelaufen. Das erste Mal, als ich sie abholte, regnete es und ich wurde nass bis auf die Knochen. Und beim zweiten Mal musste ich zehn Minuten warten, bis sie den Boden fertig gewischt hatte. Doch ich hatte mich nicht beschwert.

Aber an diesem Abend war es anders. Mein Freund Rageh wollte am nächsten Tag nach Somalia reisen. Er soll zurück in unsere Kultur, um besseres Benehmen zu lernen, hatte seine Mutter gesagt. Er würde vier oder fünf Monate weg sein (mindestens!) und hatte mich gefragt, ob ich zu seiner Abschiedsparty kommen würde. Es wäre unhöflich gewesen, nicht hinzugehen.

»Du wirst deinen Job im Laden heute auslassen müssen«, sagte ich zu Khadija. »Ich kann dich anschließend nicht abholen.«

Sie fauchte mich an wie eine wütende Katze – sie war völlig aus dem Häuschen. Und es war ihr egal, dass wir auf der Straße standen, wo uns alle sehen konnten. »Das kannst du mir nicht antun! Du hast mir versprochen, dass du mich abholen kommst.«

»Ich habe gesagt, ich versuche es, das ist alles. Ich kann das nicht mein ganzes Leben lang tun, klar?«

»Aber du kannst nicht einfach so aufhören. Was soll ich denn jetzt tun?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Habe ich doch gesagt. Du gehst nicht. Ein Abend wird schon nichts ausmachen.«

»Doch, das wird es. Ich bin noch in der Probezeit. Wenn Tante Safia glaubt, ich sei nicht zuverlässig, werde ich meinen Job verlieren.«

»Das ist doch albern«, sagte ich abwehrend.

Aber Khadija gab nicht nach. Sie stand kerzengerade da und starrte mich an und dann trat sie einen Schritt zurück und hob die Hände, als wolle sie jeden Widerspruch abwehren.

Mach dich nicht lächerlich. Das wollte ich sagen. Doch plötzlich sah sie an mir vorbei, über meine Schulter hinweg, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Etwas hinter mir hatte sie abgelenkt. Ich drehte mich um – und sah etwas Merkwürdiges.

An der Straßenecke vor dem Laden stand eine verschleierte Frau. Sie war keine Somali. Und sie war nicht wie die anderen verschleierten Frauen, die ich je gesehen hatte – denn sie stand einfach da und starrte uns an. Sie versuchte nicht einmal, es zu verbergen, sie sah ganz offen zu uns herüber. Und am anderen Ende der Straße, bei den Wohnungen, wo mein Freund Liban wohnt, stand eine zweite Frau. Auch sie war schwarz gekleidet und trug einen Niqab  – genau wie die erste. Und auch sie starrte uns an.

Khadija blickte von einer Frau zur anderen und versuchte, sie im Auge zu behalten. Das sind nur ein paar Frauen, dachte ich. Was können die uns schon tun? Aber mir gefiel das auch nicht. Ich starrte die Frau ebenfalls an und versuchte, sie dazu zu bringen, wegzugehen.

Doch es funktionierte nicht. Im Gegenteil, es hatte genau die entgegengesetzte Wirkung. Als sie unsere Blicke bemerkte, kam sie auf uns zu, blieb vor Khadija stehen und zog den langen schwarzen Rock ihrer Abayad hoch. Darunter trug sie Jeans. Sie steckte die Hand in eine Tasche und suchte etwas.

Ich sah sie böse an, aber das merkte sie nicht einmal. Sie konzentrierte sich ganz auf Khadija.

»Du bist aus Somalia, nicht wahr?«, sagte sie.

Das war nicht schwer zu erraten. Khadija erfüllt alle Vorstellungen von einer Somali. Sie ist groß und schlank, mit feinen, selbstbewussten Zügen.

Ich trat zwischen sie. »Und wenn schon?«, meinte ich. »Was geht Sie das an?«

Die Frau ignorierte mich völlig. »Augenblick bitte«, sagte sie zu Khadija. »Ich möchte dir meine Karte geben. Ich glaube, ich habe einen Job für dich.«

Einen kurzen Augenblick lang blitzten Khadijas Augen hell auf. Aber das sah die Frau nicht, weil sie zu beschäftigt in ihren Taschen grub. Schließlich fand sie eine weiße Visitenkarte und streckte sie Khadija hin. Die warf einen Blick auf den Namen und ich las ihn über ihre Schulter hinweg – Sandy Dexter. Der Name sagte uns beiden nichts. Damals noch nicht.

»Ich suche ein Model aus Somalia«, erklärte die Frau knapp. »Und du könntest genau das Mädchen sein, das ich brauche. Wenn du Interesse hast, brauchst du eine Agentur – es geht um viel Geld. Wenn du nicht weißt, wo du anfangen sollst, versuche es mit dieser hier.« Sie kritzelte einen Namen auf die Rückseite der Karte. »Sag ihnen, dass ich dich geschickt habe  – und nimm die Karte mit, um es zu beweisen.«

»Erwarten Sie, dass wir das alles glauben?«, fragte ich. »Halten Sie uns für Kinder?«

Die Frau schnaubte ungeduldig. »Ihr könnt mich ja im Internet suchen, wenn ihr mir nicht traut. Das ist nicht sonderlich schwierig. Es gibt jede Menge Bilder von mir. Hier.« Sie schlug ihren Schleier zurück und zeigte uns ein schmales Gesicht mit sehr blasser Haut. Ihre Haare standen in schwarzen Strähnen ab und unter ihrem linken Auge befand sich eine Tätowierung von einem blauen Fisch. »Seht mich gut an, damit ihr mich erkennen könnt.« Sie ließ uns einen Moment Zeit, um sie ansehen, und streckte dann wieder die Hand mit der Karte aus.

Khadija rührte sich nicht.

»Denk darüber nach, ja? Aber sag es niemandem außer deinen Eltern. Das ist sehr wichtig.« Die Frau bückte sich und legte ihre Karte vor Khadija auf den Boden. Dann richtete sie sich auf und rief über die Straße. »Komm, Freya, wir gehen.«

Die andere Frau hatte ich fast vergessen. Aber sie war noch da. Jetzt eilte sie auf uns zu und als sie die Karte sah, stöhnte sie leise auf. Als die beiden fortgingen, hörten wir sie murmeln: »So kannst du nicht herumlaufen, Sandy. Du siehst lächerlich aus! Zieh den Schleier herunter.«

Sandy war es egal. Sie lachte nur und verschwand um die Ecke, den Niqab über den Kopf zurückgeworfen.

Als sie außer Sichtweite waren, bückte ich mich, um die Karte aufzuheben, aber ich war nicht schnell genug. Khadija tauchte ebenfalls hinunter, nahm sie und drehte sie um, um den Text auf der Rückseite zu lesen.

»Was bedeutet das?«, fragte sie.

Es war ein Name – Meredith Fox – sowie eine Adresse, in energischer schwarzer Schrift. Darunter stand ein merkwürdiger kleiner Kringel, bei dem es sich um Initialien handeln konnte. S D.

»Was für ein Freak«, meinte ich. »Glaubst du, dass sie das immer so macht? Herumläuft und Mädchen auf der Straße anspricht?«

Khadija antwortete nicht, sondern starrte die Karte an.

»He«, sagte ich. »Nimm es nicht so ernst. Es ist bestimmt ein Schwindel.«

»Und wenn nicht?«, fragte Khadija. »Wenn es wahr ist?« Wieder sah sie die Karte an und steckte sie sorgfältig ein. »Ich werde sie morgen überprüfen.«

Schöne Khadija
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