Abbildung

Mir gefiel das überhaupt nicht. Suliman hatte unser Problem mit Sahra und Maryan aus der Welt geschafft, aber das war viel zu einfach gewesen, als hätte er die ganze Zeit irgendwelche Spielchen gespielt. Er hatte uns nicht einmal gefragt, ob wir damit einverstanden waren, Sahra und Maryan mit einer Wildfremden verschwinden zu lassen. Und auch wenn ich wusste, dass ihnen nichts passieren würde, hatte ich ein ungutes Gefühl.

Aber ich musste bei allem mitspielen, was mir die Chance verschaffte, Mahmoud zu retten. Also verdrängte ich den Gedanken an die Mädchen und machte meine Tasche auf. Es wurde Zeit, die Kleider anzuziehen, die Sandy mir gegeben hatte.

Ich breitete sie aus und begann, mich umzuziehen. Selbst in Onkel Sulimans großem Auto war kaum genug Platz, um die Hände durch die Ärmel der Abayad zu winden, und ich musste mich vom Sitz erheben, um den langen Rock über meine Jeans zu ziehen. Als er richtig saß, wickelte ich mir das schwarze Tuch um den Kopf über meinen eigenen Hijaab und griff nach dem kleinen Niqab, dem Schleier für das Gesicht.

Aber er lag nicht auf dem Sitz. Ich vermutete, dass ich ihn vom Sitz geschubst hatte, als ich mich angezogen hatte, konnte ihn aber nicht sehen, daher tastete ich mit den Füßen danach. Doch er lag auch nicht auf dem Boden. Ich bückte mich, um unter dem Fahrersitz danach zu fühlen.

Und spürte kaltes Metall.

Etwas war dort versteckt, mit Klebeband an die Unterseite des Sitzes geheftet. Ich ließ die Finger über die hässlichen Kanten gleiten und erkannte die Form. Ich wusste, was es war – aber ich hätte nicht erwartet, so etwas in England zu finden.

In Somalia gehören Waffen zum täglichen Leben dazu. Wie soll man sonst in der einsamen Wüste seine Familie und seine Tiere schützen? Wie kann man in der Stadt, wo die Menschen Gottes Gesetze ignorieren, für sie sorgen? Nomaden brauchen Waffen und ich habe schon von klein auf gelernt, damit umzugehen.

Aber wozu brauchte jemand wie Suliman eine Waffe?

Der Niqab lag direkt darunter. Ich zog ihn unter dem Sitz hervor und setzte mich wieder auf. Als ich ihn mir über das Gesicht zog, sagte ich ganz leise: »Abdi, unter Sulimans Sitz ist eine Waffe.«

Er hob den Kopf, aber bevor er sich noch umsehen konnte, kamen Suliman und Faarah auf uns zu und Faarah verabschiedete sich.

»Keine Sorge, Bruder«, hörte ich ihn sagen, als Suliman wegging. »Bleibt nur nicht zu lange weg.«

Suliman hob die Hand und wandte sich halb um. »Nur ein paar Stunden. Und dann kümmere ich mich um unser kleines Problem, O. K .?«

Er machte die Tür auf und sah ins Auto. Als er meine Kleidung bemerkte, verzog er das Gesicht zu einem merkwürdigen kleinen Lächeln.

Er ließ den Motor an und lachte: »Ist das das große Geheimnis? Schleier als Mode? Bist du sicher, dass dich diese Frau nicht nur aufziehen will, Khadija?«

»Du verstehst das nicht«, erwiderte ich. »Ich bin das Geheimnis, nicht die Kleider. Niemand darf wissen, wer ich bin.«

Wieder blitzten seine Augen im Rückspiegel auf, als wolle er sehen, ob ich das ernst meinte. Doch er konnte natürlich mein Gesicht nicht sehen. Ich starrte zurück und sah, wie sein Lächeln erlosch, aber er sagte nichts weiter, sondern fuhr los. Und auch ich sagte nichts, sondern starrte nur auf seinen Hinterkopf und fragte mich, wozu er die Waffe brauchte.

Fünfzehn Minuten später hielten wir vor einem hohen neuen Wohnblock mit Sicherheitsschranken am Eingang. Suliman nickte Abdi zu. »Ruf sie an und sag ihr, dass wir hier sind.«

Abdi tippte bereits Sandys Nummer. Als sie antwortete, drehte er sich um und wiederholte mir, was sie sagte. »Du sollst alleine hineingehen, Khadija. Sie wird jemanden herunterschicken, der dich abholt, einen Mann namens David.«

»Und was ist mit uns?«, erkundigte sich Suliman. »Will sie uns ausschließen?«

Er musste so laut gesprochen haben, dass Sandy ihn gehört hatte, denn es folgten einige weitere Anweisungen über das Telefon.

»In Ordnung«, sagte Abdi. »Wir sehen uns in zehn Minuten. Und Khadija kommt jetzt.« Er wedelte ungeduldig mit der Hand, dass ich aussteigen sollte und ich riss schnell die Tür auf. Dabei verhedderten sich meine Turnschuhe im Saum meiner Abayad und beinahe wäre ich gestürzt.

»Mit einem Minirock wäre dir das nicht passiert!«, rief Suliman hinter mir her.

Ich hob den Kopf und überquerte mit langen Schritten schnell den Gehweg. An der Glastür angekommen sah ich auf der anderen Seite der Eingangshalle den Aufzug kommen, aus dem ein großer Mann ausstieg und leicht die Hand hob, um zu zeigen, dass er mir entgegenkam.

Einen Augenblick später glitten die Glastüren auseinander und ich trat ein.

»Hallo«, sagte der Mann. »Ich bin David. Freyas Vater.« Das hätte ich wahrscheinlich auch so erraten, denn er sah ihr sehr ähnlich. Er war blond und blass, hatte ein kantiges Gesicht und hellblaue Augen.

Ich hob den Kopf, um ihm meinen Namen zu nennen. »Ich bin …«

Doch er unterbrach mich, bevor ich etwas sagen konnte. »Du bist Qarsoon«, sagte er. »So sollst du dich nennen, wenn dich die Leute fragen.«

Qarsoon. Die Verborgene. Wieder ein neuer Name, mit dem ich wiederum den verstecken sollte, den man mir bei der Flucht gegeben hatte.

Immer neue verhüllende Schichten.

»Ich bin Qarsoon«, sagte ich gehorsam.

David nickte lächelnd. Dann ging er zum Lift voran. Als wir nach oben fuhren, begann er mich mit ruhiger Stimme auf das vorzubereiten, was gleich geschehen würde.

»Vielleicht wird dieses Treffen nicht ganz so friedlich verlaufen. Marco hat darauf bestanden, anwesend zu sein. Er ist Sandys Geschäftsführer und ich habe den Eindruck, dass er nicht mit ihren Plänen einverstanden ist. Aber davon darfst du dich nicht beeindrucken lassen. Wahrscheinlich wird er reichlich herumstampfen und brüllen. Aber letztendlich bekommt Sandy doch immer ihren Willen.«

Aus dem Aufzug kamen wir in einen hellen, mit Teppichboden ausgelegten Gang, und David nahm seinen Schlüssel. »Hier wohne ich. Und Freya wohnt ebenfalls hier, wenn sie nicht bei Sandy ist. Herzlich willkommen.« Er schloss die Tür auf und führte mich durch die Diele ins Wohnzimmer.

Ich hatte das Gefühl, in den Himmel hinauszutreten. Wir befanden uns in einem großen, lichten Raum, dessen Fenster sich vom Boden bis zur Decke erstreckten. Alle Formen in diesem Zimmer waren schlicht und einfach und man hatte einen großartigen Blick über die Stadt. Alles war hell und ruhig.

Bis auf den schlanken, dunkelhaarigen Mann auf dem Sofa. Als er mich sah, runzelte er die Stirn.

»Das ist es?«, fragte er trotzig und ungeduldig. »Das ist das große Geheimnis, das die ganze Kollektion bestimmen soll? Also, Sandy, das wird doch nie funktionieren!«

Einen Geschäftsmann hatte ich mir anders vorgestellt. Er war eher ein zorniges, verzogenes Kind ohne Manieren. Aber Sandy lachte ihn aus.

»Gib der Sache eine Chance, Marco! Und sag Qarsoon guten Tag!«

Marco erhob sich und rechte mir die Hand. Er war einen Kopf kleiner als ich und seine Arme waren kräftig und stark behaart.

»Hallo«, sagte er. »Beachte mich nicht zu viel, ich leide unter zwanzig Jahren Zusammenarbeit mit Sandy Dexter. Der Arzt sagt, die Narben würden für immer zurückbleiben.«

Ich sah auf seine Hand hinunter. Ich ergriff sie nicht  – so etwas tun wir nicht –, aber ich neigte höflich den Kopf und sagte: »Guten Abend.«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe und er trat einen Schritt vor. »Na gut, dann wollen wir dich einmal ansehen.« Er streckte die Hand aus, um meinen Schleier beiseitezuziehen.

Sandys Arm schoss vor und sie schlug seine Hand weg. »Nein, lass das! Niemand bekommt sie zu sehen!«

Marco starrte sie an. Ich starrte sie auch an. Meinte sie wirklich, dass sie das durchziehen konnte? Was sollte ich tun, wenn er es noch einmal versuchte, wenn sie nicht dabei war?

Aber er versuchte es nicht. Er trat ein paar Schritte zurück und sah mich von oben bis unten an. »Kann sie laufen?«

»Natürlich kann sie das.« Sandy nickte mir zu. »Bitte zeig es ihm, Qarsoon. Geh auf und ab, so wie du es in Merry Fox’ Büro getan hast.«

Ich straffte die Schultern und begann vor dem großen Fenster auf und ab zu gehen, den Kopf hoch erhoben. Der Saum des langen Rockes schwang um meine Beine. Ich war entschlossen, mich von diesem Marco nicht auslachen zu lassen. Ich würde ihm schon zeigen, wie gut ich laufen konnte.

Und er sah zu. Schweigend zupfte er an seinem Ohrläppchen und folgte mir mit den Blicken, während ich hin- und herlief. Ich lief stolz und vermied es, ihn auch nur einmal anzusehen, sondern stellte mir vor, dass ich auf der anderen Seite der Glasscheibe lief und von Wolke zu Wolke über den Himmel schritt.

Ich war wohl fünf Minuten oder länger gelaufen, als er die Hand hob, damit ich stehen blieb.

»Nicht schlecht«, musste er widerwillig zugeben. »Sie wird wunderbar aussehen auf dem Laufsteg.« Dann wirbelte er zu Sandy herum. »Und das ist auch alles, was du brauchst. Es hat keinen Sinn, jemanden in eine banditenverseuchte Wüste zu schleifen. Du musst hier in London bleiben, mit den Kleidern. Denn hier werden auch deine Kunden sein.«

»Ich werde sie nicht in London zeigen«, erklärte Sandy ruhig. »Ich habe dir doch gesagt, was ich tun werde.«

Marco wurde puterrot und seine Augen begannen hervorzutreten. Er kam auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen, sodass er mir durch den Schlitz in meinem Schleier direkt in die Augen sehen konnte. »Und was sagst du dazu, Qarsoon? Bist du dazu bereit, die London Fashion Week zu verpassen, nur damit du zwanzig Minuten in Somalia auf und ab spazieren kannst? Von allen grauenhaften Orten auf der Welt ausgerechnet Somalia! Macht dir die Vorstellung Spaß?«

Was meinte er denn damit? War es wirklich möglich …?

Bevor ich nachfragen konnte, brüllte er Sandy erneut an. »Es ist eine großartige Kollektion! Eine brillante Kollektion! Und du willst alles wegwerfen, weil du die lächerliche Vorstellung hast, dass du das gottverlassenste Land in Afrika besuchen musst!«

Auf Sandy machte die Brüllerei keinen Eindruck. Sie saß mit im Schoß gefalteten Händen auf dem Sofa und sah ihn nur an. Ich hatte das Gefühl, als wolle sie warten, bis er sich heiser geschrien hatte, damit sie wieder Nein sagen konnte, ohne die Stimme erheben zu müssen.

Doch ich konnte nicht zulassen, dass er weiterhin so schreckliche, falsche Dinge sagte. Ich stand auf und versuchte ihn zu unterbrechen.

»Entschuldigung …«

Ich glaube, er hörte mich nicht einmal, er brüllte nur weiter herum und wurde dabei immer roter und roter. »… und es nutzt auch nichts, so zu tun, als hättest du es nicht nötig, die Kleider zu verkaufen …«

»ENTSCHULDIGUNG !«

Ich hatte nicht beabsichtigt zu schreien, aber es kam sehr laut heraus. Lauter als Marcos Stimme. Er hörte auf zu schreien und drehte sich mit offenem Mund zu mir um.

Höflich erklärte ich ihm: »Ich muss Ihnen sagen, dass Somalia keineswegs gottverlassen ist. Und es ist nicht abscheulich. Es ist ein wunderschönes Land und wenn Sandy mich bittet, dorthin zu gehen, werde ich das sehr gerne tun.«

Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille, als ob alle überrascht wären, dass ich mein Land liebte.

Dann sagte Sandy sehr, sehr leise: »Seht ihr! Jawohl!« Sie sagte es nicht zu mir, sondern zu Marco. »Wie kannst du überhaupt von Somalia reden, ohne je da gewesen zu sein? Und wie soll ich diese Kollektion verkaufen – wie soll sie denn überzeugen –, wenn ich den Leuten nicht zeige, dass ich nicht nur herumspinne? Natürlich werde ich dorthin gehen!«

So, wie sie es sagte, war dies das Ende der Diskussion. Sie würde ihre Meinung nicht mehr ändern, ihre Pläne standen fest.

Ich hätte gedacht, dass Marco etwas sagen würde, weil er bislang die ganze Zeit herumgebrüllt hatte. Aber ich irrte mich. Es war David, der Sandy antwortete. Und er war noch blasser als zuvor, als sei alles Blut aus seinem Gesicht gewichen.

»Wenn du nach Somalia gehst«, verkündete er, »dann komme ich mit.«

Sandy blinzelte ihn an. Sie wirkte sehr überrascht. »Und was ist mit Freya?«

»Ich kann nicht …« David schloss die Augen und legte eine Hand auf das Sofa, als müsse er sich stützen. »Glaubst du wirklich, dass ich Freya wählen würde anstatt dich? Ich kann dich nicht allein gehen lassen, Sandy.«

Ich merkte, dass er da etwas Schreckliches sagte. Ich wusste zwar nicht, warum, aber ich erkannte es am Klang seiner Stimme und an Sandys Gesichtsausdruck. Einen Augenblick lang herrschte gespannte Stille im Raum.

Dann erklang eine harsche Stimme aus dem Flur: »Nun, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, dass ihr mich zurücklassen müsst. Wenn ihr beide nach Afrika abdampft, komme ich mit.«

In der Tür stand Freya in abgerissenen Jeans und schäbigen, dreckigen Turnschuhen.

Schöne Khadija
00000000000_cover.html
b978-3-8387-1190-4_000017.xhtml
b978-3-8387-1190-4_000041.xhtml
b978-3-8387-1190-4_000136.xhtml
b978-3-8387-1190-4_000152.xhtml
b978-3-8387-1190-4_000173.xhtml
b978-3-8387-1190-4_000389.xhtml
b978-3-8387-1190-4_000757.xhtml
b978-3-8387-1190-4_001046.xhtml
b978-3-8387-1190-4_001104.xhtml
b978-3-8387-1190-4_001277.xhtml
b978-3-8387-1190-4_001478.xhtml
b978-3-8387-1190-4_001813.xhtml
b978-3-8387-1190-4_001855.xhtml
b978-3-8387-1190-4_001996.xhtml
b978-3-8387-1190-4_002131.xhtml
b978-3-8387-1190-4_002439.xhtml
b978-3-8387-1190-4_002496.xhtml
b978-3-8387-1190-4_002641.xhtml
b978-3-8387-1190-4_002825.xhtml
b978-3-8387-1190-4_003044.xhtml
b978-3-8387-1190-4_003129.xhtml
b978-3-8387-1190-4_003293.xhtml
b978-3-8387-1190-4_003589.xhtml
b978-3-8387-1190-4_003747.xhtml
b978-3-8387-1190-4_003778.xhtml
b978-3-8387-1190-4_004064.xhtml
b978-3-8387-1190-4_004218.xhtml
b978-3-8387-1190-4_004523.xhtml
b978-3-8387-1190-4_004582.xhtml
b978-3-8387-1190-4_004751.xhtml
b978-3-8387-1190-4_005008.xhtml
b978-3-8387-1190-4_005243.xhtml
b978-3-8387-1190-4_005294.xhtml
b978-3-8387-1190-4_005404.xhtml
b978-3-8387-1190-4_005664.xhtml
b978-3-8387-1190-4_005802.xhtml
b978-3-8387-1190-4_005904.xhtml
b978-3-8387-1190-4_006039.xhtml
b978-3-8387-1190-4_006307.xhtml
b978-3-8387-1190-4_006681.xhtml
b978-3-8387-1190-4_006735.xhtml
b978-3-8387-1190-4_006909.xhtml
b978-3-8387-1190-4_007026.xhtml
b978-3-8387-1190-4_007219.xhtml
b978-3-8387-1190-4_007296.xhtml
b978-3-8387-1190-4_007446.xhtml
b978-3-8387-1190-4_007591.xhtml
b978-3-8387-1190-4_007718.xhtml
b978-3-8387-1190-4_007829.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008029.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008133.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008342.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008392.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008486.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008566.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008661.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008687.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008776.xhtml
b978-3-8387-1190-4_008844.xhtml
b978-3-8387-1190-4_009153.xhtml