Bare oss to

Juni 1947

 

Der Zug hat Kopenhagen gegen Mittag verlassen. Die Fahrt geht zunächst über die Insel Seeland. Und dann durch Fünen. Lillian sieht aus dem Fenster. Fünen wirkt auf sie wie ein unendlich großer Garten. Um 8 Uhr abends ist der Zug in Padborg. Auf dem Fahrplan sieht sie, dass der nächste Bus nach Kruså erst morgen früh geht. Sie fragt die Frau, die die Fahrkarten verkauft, nach einem Hotel.

»Ein Hotel? Wo denken Sie hin. Die sind alle vom Militär besetzt. Es gibt hier doch so viele Soldaten. Wir sind hier doch gleich an der deutschen Grenze …« Plötzlich hält ein Jeep vor dem Bahnhof. Die Frau hinter dem Schalter lässt Lillian stehen und geht mit schnellen Schritten zu den drei dänischen Soldaten, die in dem Fahrzeug sitzen, und wechselt ein paar Worte mit ihnen. Dann winkt sie Lillian zu sich. »Sie fahren nach Kruså. Ein Platz ist noch frei – wenn Sie wollen, können Sie mitfahren.« Sie zeigt auf Lillians Koffer. »Ihr Gepäck passt aber nicht mehr in das Auto. Sie können es gerne hier aufbewahren.«

Lillian reicht ihr eine Schachtel amerikanischer Zigaretten, die sie aus ihrer Tasche gezogen hat. Nein, das ist wirklich nicht nötig – »Es ist doch gut, dass wir Glück gehabt haben.« Dass die Frau »wir« gesagt hat, rührt Lillian. Sie nennt den Soldaten den Namen der Transportfirma, die in Helmuts Brief erwähnt ist. »Die Firma kenne ich«, sagt der Fahrer und legt den Gang ein. Dann geht es über die dunkle Landstraße mit einer Geschwindigkeit, die Lillian fast den Atem nimmt.

Nach einer halben Stunde kommt der Jeep mit quietschenden Reifen vor der Einfahrt zum Stehen. Lillian dankt den Soldaten und gibt jedem eine Schachtel Chesterfield. Dann greift sie nach ihrer Reisetasche, fährt sich kurz durchs Haar und geht zum Gartentor. Dahinter liegt ein lang gestrecktes Haus, aus dessen Fenstern warmes Licht fällt. Lillian schellt.

Eine junge Frau erscheint und schaut sie fragend an. Lillian nennt ihren Namen. »Entschuldigen Sie, dass ich noch so spät störe. Ich möchte gerne mit Herrn Assmussen sprechen.«

»Das ist mein Schwiegervater. Aber der ist nicht zu Hause und wird erst in der Nacht wieder hier sein. Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich kann leider über mein Anliegen nur mit Herrn Assmussen sprechen«, sagt Lillian. Für einen Augenblick herrscht Stille. Dann bittet die Frau Lillian hinein und stellt sich ihr als Hanne vor. »Ich höre, dass Sie aus Norwegen sind«, sagt Hanne. »Es ist so selten, dass Ausländer hierherkommen. Wir sind ja Grenzgebiet und militärische Sperrzone. Niemand verbringt hier seine Ferien.« Und dann erzählt sie, wie viele Soldaten jetzt die Grenze bewachen.

»Trotzdem kommen manchmal hungrige Deutsche, um etwas zu essen zu besorgen. Aber sobald sie entdeckt werden, schickt man sie zurück.«

Lillian weiß nicht recht, was sie dazu sagen soll. »Es gibt sehr strenge Kontrollen. Überall wurden Stacheldrahtsperren aufgestellt, und überall sind Wachhunde im Einsatz. Diese Deutschen! Die Gestapo hat zu viel Schlimmes in Dänemark gemacht. Wie in Norwegen ja auch!«

Lillian nickt. Hanne redet weiter.

»Wir haben ein Transportgeschäft, und alle vierzehn Tage fährt mein Schwiegervater mit seinem Lastwagen hinüber nach Deutschland, um Lebensmittel an das Rote Kreuz zu liefern. Es muss ganz schrecklich in Deutschland sein. Überall nur Ruinen, viele Menschen verhungern. Mein Schwiegervater sagt, dass es bestimmt hundert Jahre dauern wird, bis alles wieder aufgebaut ist.« Hanne füllt Kaffee in die Tassen und zündet eine Kerze an. Alles, was sie erzählt, deckt sich mit dem, was Lillian in den norwegischen Zeitungen gelesen hat.

»Sie können übrigens gerne hier übernachten. Es wird noch dauern, bis er zurückkommt, und Sie sind sicher sehr müde.« Lillian ist gerührt von dem Angebot. So viel Güte hatte sie nicht erwartet.

In ihrem Gästebett liegt sie lange wach. Wird dieser Assmussen ihr helfen können? Er fährt regelmäßig nach Deutschland! Vielleicht hatte Helmut eine Verabredung mit ihm getroffen. Aber trotzdem, wie soll sie es über eine Grenze schaffen, die so scharf bewacht wird? Lillian versucht sich zu beruhigen. »Bisher ist alles gut gegangen, ich darf nicht verzweifeln. Auf jeden Fall war es richtig, erst einmal zu Assmussen zu gehen und nicht zu diesem Metzger in Padborg«, sagt sie sich und schiebt Helmuts Foto unter ihr Kissen.

Am nächsten Morgen sitzt Herr Assmussen bereits am Küchentisch, als sie nach unten kommt. Er sieht müde und erschöpft aus und scheint gar nicht geschlafen zu haben. »Meine Schwiegertochter hat von Ihnen erzählt. Jetzt bin ich sehr neugierig, um was es sich handelt. Ich habe nämlich keine Bekannten in Norwegen. Ich kenne überhaupt niemanden in Norwegen.«

Lillian bittet ihn, die Tür zu schließen.

»Herr Assmussen, ich bin mit einem Deutschen verlobt, und ich versuche, zu ihm zu gelangen. Wir haben uns seit zwei Jahren nicht gesehen, und ich darf erst einreisen, wenn es einen Friedensvertrag mit Deutschland gibt. Das kann Jahre dauern.« Assmussen scheint nicht zu wissen, was sie von ihm will.

»Nun hat mein Verlobter vielleicht doch einen Weg gefunden. In einem Brief erwähnt er Ihren Namen. Er schrieb, dass Sie mir vielleicht helfen können.«

Der Mann am Küchentisch schüttelt bedauernd den Kopf.

»Armes Mädchen. Wie um alles in der Welt soll ich Ihnen helfen? Ja, ich fahre wohl alle vierzehn Tage zum Roten Kreuz nach Deutschland. Aber ich kann Sie unmöglich auf dem Lastwagen mitnehmen. Ich werde jedes Mal an der Grenze strengstens kontrolliert. Einen Menschen mitzunehmen ist ganz und gar ausgeschlossen. Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, wenn ich könnte.«

Lillian bemüht sich, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. »In demselben Brief, in dem Ihr Name erwähnt ist, ist noch von einem Carl Karing die Rede. Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Natürlich. Karing hat eine Metzgerei in Padborg. Kann durchaus sein, dass er einen Weg weiß. Sie können den Bus von hier um 11 Uhr nehmen. Sein Geschäft liegt genau gegenüber der Bushaltestelle in Padborg.«

 

In Padborg bleibt Lillian einen Augenblick vor dem Geschäft stehen. Carl Karing Slagteri. Im Laden steht ein großer kräftiger Mann in einer weißen Jacke und hackt Fleisch, und zwei Verkäuferinnen bedienen. Lillian wartet, bis alle Kunden das Geschäft verlassen haben. Als sie die Türe öffnet, geht die Ladenglocke und sofort fragt eine der beiden Verkäuferinnen:

»Bitte schön, was möchten Sie?«

»Ich möchte Metzgermeister Karing sprechen.« Als der Meister seinen Namen hört, senkt er die Axt und schaut sie fragend an. »Ich möchte gern mit Ihnen sprechen, Herr Karing. Aber bitte unter vier Augen.«

»Mit mir?« Der große Mann lacht.

»Sie sind Norwegerin, nicht wahr? Und wollen mich unter vier Augen sprechen? Da bin ich aber gespannt. Gehen wir also in mein Büro.«

Dort setzt er sich hinter seinen Schreibtisch. »Und worum geht es nun, kleine Norwegerin?«

Als Lillian erzählt, dass sein Name in einem Brief ihres deutschen Verlobten steht, runzelt er die Stirn. »Ich habe überhaupt keine Verbindungen nach Deutschland. Meine Frau ist zwar Deutsche, aber sie lebt schon seit 30 Jahren in Dänemark. Ihre einzige Verbindung zu Deutschland ist ihr kranker alter Vater, der in Flensburg lebt. Wir haben mehrmals versucht, ihn zu uns zu holen, weil die Not in Deutschland so groß ist. Aber er ist ein deutscher Bürger, und Sie wissen ja, was das heute bedeutet.«

Karing ruft nach seiner Frau. Die Bürotür geht auf und eine Frau mit rosigen Wangen und kurzen lockigen Haaren steht im Türrahmen.

»Emma, dies ist ein norwegisches Mädchen, das zu seinem Verlobten nach Deutschland will. Dort ist jemand, der meint, dass wir ihr helfen können, irgendwie über die Grenze zu kommen. Unser Name wurde in einem der Briefe erwähnt, die sie aus Deutschland bekommen hat. Kannst du das verstehen?«

»Nein, überhaupt nicht.« Frau Karing betrachtet Lillian nachdenklich. Es ist ganz still im Zimmer. Nur die Uhr auf dem Schreibtisch tickt. Lillian nimmt den Brief von Helmut aus der Reisetasche und liest ihn noch einmal durch.

»Hier steht noch ein weiterer Name – Schlohfeld.« Sie reicht den Brief an die Frau des Metzgers.

»Schlohfeld, Schlohfeld … Der Name kommt mir allerdings bekannt vor. War das nicht der Lokomotivführer, der früher einmal in dem Haus von meinem Vater gewohnt hat? Mein Gott, das sind sicher über 25 Jahre her, seitdem ich diesen Schlohfeld das letzte Mal gesehen habe. Carl, das muss doch etwas bedeuten?« Sie überlegt kurz. Dann fasst sie Lillian herzlich am Arm.

»Wir werden gleich zu Mittag essen. Sie, nein – du bist bei uns willkommen. Tu so, als wärst du bei uns zu Hause. Wir werden versuchen, alles für dich zu tun. Du wirst natürlich auch hier wohnen.«

Ihr Mann schaut sie überrascht an. »Du weißt, Emma, wir müssen sehr vorsichtig sein. Bei unerlaubtem Grenzübertritt drohen hohe Strafen. Die ganze Angelegenheit muss absolut unter uns bleiben.«

»Bleibt sie auch, Carl. Wir haben zwar eine Hausgehilfin und zwei Verkäuferinnen, die alle mit Grenzsoldaten befreundet sind. Und weil die auf keinen Fall erfahren sollen, warum unser Gast wirklich hier ist, werde ich ihnen sagen, dass die Eltern von Lillian schon seit langem unsere Freunde sind.« Sie schaut Lillian an. »Ich mag dich, ich habe ganz stark das Gefühl, dass es richtig ist, dir zu helfen.«

Nach dem Essen fährt Carl Karing mit Lillian zum Bahnhof, um die Koffer aus der Gepäckaufbewahrung abzuholen. »Drei Koffer! Wie willst du die bloß über die Grenze bekommen?«

In dem Zimmer, das sie von den Karings bekommen hat, packt Lillian die Kleidung für die nächsten Tage aus. Dann werden die Koffer auf dem Speicher versteckt, damit sich niemand wundert, warum der Gast mit so viel Gepäck angereist ist.

»Falls deine Reise nach Deutschland übrigens nicht gelingen sollte«, sagt Carl später beim Kaffee, »ich hätte in Kopenhagen auch einen Sohn, der eine Frau sucht.«

Lillian erschrickt. Doch dann merkt sie, dass es nur ein Scherz gewesen ist.

In der Küche umarmt sie Emma. Es tut ihr gut, dass diese fremden Menschen so lieb zu ihr sind. »Wir haben uns immer eine Tochter gewünscht«, sagt Emma. Und dann fügt sie plötzlich auf Deutsch hinzu: »Jetzt bist du für eine Zeitlang eben unsere Tochter.« Emma lächelt. »Deutsch ist schließlich meine Muttersprache.«

Am nächsten Tag hilft Lillian im Haus und auch im Garten. Es ist schön, sich abzulenken und zu arbeiten. Aber immer wieder ist sie in Gedanken damit beschäftigt, sich zu fragen, wie es wohl weitergehen wird. Was ist mit dieser Telefonnummer in Flensburg? Sie muss auf jeden Fall versuchen, bald da anzurufen. Aber sie will nicht sofort so viel von den Karings fordern.

Am Samstag nehmen Emma und Carl sie mit ans Meer zu ihrem kleinen Sommerhaus. Das kleine Häuschen ist einfach und schlicht eingerichtet. Von der Terrasse blickt man auf das Wasser. »Schau, Lillian, da drüben ist Deutschland.« Carl weist auf einen Landstrich, der vielleicht nur zwei Kilometer entfernt ist.

Lillian hat eine Idee. »Ich bin eine gute Schwimmerin. Meint ihr, ich kann hinüberschwimmen, wenn es dunkel geworden ist?«

Carl schüttelt den Kopf. »Mein kleines Mädchen. Wie willst du das schaffen? Siehst du die Schiffe dort, die immer an der Küste hin und her fahren? Das sind die Patrouillenboote der dänischen Marine und die passen auf, dass niemand hin und her schwimmt. Wir müssen eine andere Möglichkeit für dich finden.«

Lillian erwähnt jetzt doch die Telefonnummer in Flensburg. »Können wir versuchen da anzurufen?« Emma ist skeptisch. »Alle Telefongespräche nach Deutschland werden abgehört, und außerdem bekommt man so gut wie nie eine Verbindung. Manchmal muss man tagelang warten. Aber wir können es versuchen. Ich werde morgen ein Gespräch anmelden«, sagt sie.

 

Am nächsten Tag ist Schützenfest in Padborg. Im Festsaal ist für die Familie des Metzgers ein eigener Tisch reserviert. Und wieder wird Lillian als Tochter von Freunden vorgestellt, die hier ihre Ferien verbringt.

Die Musik spielt auf und ein junger dänischer Leutnant kommt an den Tisch und fordert Lillian zum Tanz auf. Lillian sieht Emma fragend an. Emma nickt.

»Sie haben ja Musik im Blut, mein Fräulein«, sagt er, als sie sich beim Walzer drehen. »Habt ihr das alle da oben bei euch im Norden? Woher ich weiß, dass Sie Norwegerin sind? Nun, die Neuigkeiten gehen schnell um in unserer kleinen Stadt.«

Der Leutnant begleitet sie zurück an den Tisch. Er nimmt einen Augenblick Platz: »In der vorigen Woche haben wir auch eine Norwegerin aufgegriffen. Sie wollte durch den Wald über die Grenze nach Deutschland. Wir haben sie verhaftet und zurück nach Norwegen geschickt. Armes Ding! Sie wird es gewiss nicht einfach haben, wenn sie zu Hause vor das Gericht muss.«

In Lillian krampft sich alles zusammen. »Ich begreife wirklich nicht, was ein norwegisches Mädchen ausgerechnet in Deutschland will, in diesem zerstörten Land«, hört sie ihre eigene Stimme sagen.

»Habe ich das nicht erwähnt?«, fragt der junge Leutnant. »Sie soll da einen Freund gehabt haben, einen Hitlersoldaten.« Der Leutnant steht auf. Dann fragt er, ob er noch einen Tanz heute Abend mit ihr haben kann.

Lillian schüttelt den Kopf.

 

Um 2 Uhr nachts wird Lillian von Emma geweckt. »Das Gespräch aus Flensburg ist da«. Sie reicht Lillian den Hörer. »Sei vorsichtig – es wird abgehört.«

»Ja?«, fragt Lillian auf Deutsch. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine Frau Matz.

»Hallo, Frau Matz? Hier ist Lillian, können Sie mich hören? Ich bin in Padborg im Urlaub. Ich soll Sie grüßen von meinen Eltern in Norwegen.«

Frau Matz antwortet langsam und deutlich. »Danke. Uns geht es gut. Aber um uns herum gibt es Schwierigkeiten. Ich hoffe auf bessere Zeiten, sodass wir uns wiedersehen können.«

Lillian fallen vor Aufregung kaum die deutschen Worte ein. »Und ich würde mich freuen, Frau Matz, wenn Sie einmal zur Vogtstraße 23 gingen und dem Herrn Schlohfeld viele Grüße von seinen norwegischen Freunden bestellen könnten.«

Dann bricht die Verbindung ab. Lillians Hand zittert, als sie Emma den Hörer reicht.

»Jetzt können wir nur warten, Lillian«, sagt Emma und legt den Hörer zurück auf die Gabel.

 

Einige Tage später sitzt Lillian im Wohnzimmer der Karings und liest die Zeitung. Plötzlich klingelt nebenan das Telefon. Lillian hört Emma sagen: »Ja, sie wird kommen. Ja, natürlich – sofort.« Augenblicklich ist Emma in der Küche. »Lillian, das war Schlohfeld. Er ist jetzt in Padborg. Du musst sofort zu ihm gehen. Er will dir einen Zettel geben. Darauf steht genau, was du machen sollst. Warte – ich komme mit, du kennst dich da am Bahnhof ja gar nicht aus.«

Das Bahngelände von Padborg ist Grenzgebiet – es ist umzäunt und darf von niemandem ohne Befugnis betreten werden. Der Weg zum Bahnhof geht durch eine Unterführung. Dann muss man eine Treppe hoch und gut hundert Meter an einem Zaun entlang, hinter dem die Gleise verlaufen, bis man zum Bahnhofsgebäude kommt. Hinter dem Zaun sehen Emma und Lillian drei Eisenbahner, die auf einer Bank sitzen. Der eine schaut in ihre Richtung, sieht sie und kommt näher.

»Ja, das ist Schlohfeld«, sagt Emma leise.

Jetzt sind sie auf gleicher Höhe.

Der Mann schiebt etwas durch den Zaun. Es ist ein Zettel. Lillian greift danach und steckt ihn in die Manteltasche. Der Mann entfernt sich. Und auch die beiden Frauen gehen weiter. Jetzt bloß keinen Verdacht erregen. In der Bahnhofshalle tun sie so, als würden sie die Abfahrtszeiten der Züge studieren.

Erst zu Hause holt Lillian den Zettel wieder hervor. »Seien Sie heute um 24 Uhr oben beim ersten Signalmast. Passen Sie auf, dass Sie nicht beobachtet werden. Nehmen Sie kein Gepäck mit. Wenn es heute nicht funktioniert, dann erst wieder in 14 Tagen.« Lillian starrt Emma an.

»Heute Nacht schon. Und ganz ohne Gepäck!«, sagt sie in einer Mischung aus Entsetzen und Freude.

 

Nach dem Mittagessen bittet Lillian Emma um Arbeit, damit die Zeit schneller vorbeigeht. Im Laufe des Nachmittags bügelt sie ein Dutzend Schlachterschürzen aus fester Baumwolle, die nur schwer zu glätten sind.

Am Abend packt sie eine kleine Reisetasche. Mit hinein kommen drei Tennisbälle für Helmut, dänische Pralinen für seine Mutter, Zigarillos für seinen Vater und reichlich belegte Brote von Emma. Dann macht sich Lillian noch einmal auf, um sich den Weg zum Signalmast ganz genau anzusehen.

Der Mast steht ein ganzes Stück vom Bahnhof entfernt auf der gegenüberliegenden Seite der Gleisanlage. Sie wird also nachher an der Straße über den Zaun steigen müssen, um über die Böschung zu den Gleisen zu gelangen.

Später sitzt sie mit Emma und Carl im Wohnzimmer. Alle drei sind sehr angespannt. Gesprochen wird wenig. Schließlich schenkt Carl allen ein Glas Cognac ein.

Carl hat Lillian vorgeschlagen, dass sie das Haus erst verlassen soll, wenn das Geräusch der einfahrenden Lokomotive aus dem Süden zu hören ist, der Dampflok, mit der Schlohfeld den Nordexpress aus Deutschland bringt. Die Dänen haben noch ihre Oberleitung, deshalb wird in Padborg eine elektrische Lokomotive vorgespannt.

Bis halb zwölf ist nichts zu hören. Lillian tritt ungeduldig ans Fenster. Draußen gehen dänische Grenzer mit geschulterten Gewehren vorbei. Plötzlich sagt Carl zu Emma: »Hättest du das eigentlich auch für mich getan?«

»Niemals, Carl«, sagt Emma. »Niemals.«

In diesem Augenblick hört man die Lokomotive.

Lillian umarmt die beiden Menschen, denen sie so viel zu verdanken hat.

Wenig später ist sie am Zaun. Niemand ist zu sehen. Sie wirft ihre Tasche über den Zaun. Dann steigt sie selbst hinüber. Sie will gerade die Böschung hochklettern, als sie hinter sich auf der Straße Schritte hört. Es sind zwei Wachen. Lillian wirft sich in das hohe Gras und hält den Atem an.

Sie ist unbemerkt geblieben. Sie wartet noch ein wenig und steigt dann die Böschung hoch. Oben, an den Gleisen, singt jemand. Zwar leise, aber deutlich vernehmbar. Und der Gesang kommt näher. Sie macht sich hinter einem Busch ganz klein. »Lieber Gott«, denkt sie, »mach, dass mich niemand sieht.«.

Jemand geht ganz dicht an ihr vorbei. Dann hört sie ein hartes metallisches Geräusch. Es ist wohl ein Bahnwärter, der eine Weiche umgestellt hat. Singend verschwindet er in der Dunkelheit.

Lillian atmet auf.

Dann fährt der Nordexpress in den Bahnhof ein. Das ganze Gelände ist hell ausgeleuchtet. Suchscheinwerfer schwenken über die Gleise, von links nach rechts und wieder zurück. Der Signalmast, zu dem Lillian soll, ist noch ein ganzes Stück entfernt.

Tief gebückt läuft sie die Gleisen entlang, bis sie ihn erreicht hat. Sie kauert sich in das Gras und wartet. Laute Rufe sind zu hören. Das müssen die Bahnarbeiter sein, die die Dampflok vom Nordexpress abkoppeln. Funken blitzen von der Oberleitung. Die dänische Elektrolok ist vorgefahren und hat den Zug übernommen. Gleich wird Schlohfeld mit seiner Dampflok für die Rückfahrt da sein. Lillian sieht zu ihrem Entsetzen, wie die abgekoppelte Lok plötzlich an einer Weiche eine andere Richtung nimmt und vor einem ganz anderen Signal hält. Wie soll sie das schaffen? Sie muss über mindestens vier Gleise! Lillian gibt sich einen Ruck. Sie läuft in gebeugter Haltung über die Gleisanlagen, springt über die Bohlen und Schwellen. Zum Schluss versagen ihr die Kräfte. Sie stolpert und fällt gegen die Trittleiter am Führerstand von Schlohfelds Lokomotive.

Jemand beugt sich über sie, greift nach ihr und zieht sie hinauf zum Führerstand, wo sie gleich nach hinten auf den Tender geschoben wird.

»Kein Wort und das Gesicht nach unten.« Es ist Schlohfeld, der das sagt. Er zeigt auf eine Vertiefung im Kohlehaufen.

Dann schippt er ein paar Schaufeln Koks auf sie.

Die Lokomotive setzt sich in Bewegung und rumpelt über Weichen und Gleise. Bei jedem Schienenstoß sackt der Koks ein bisschen nach. Aber es geht weiter, Richtung Deutschland. Lillian weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist, als sie wieder aus ihrem Versteck gezogen wird.

»Willkommen in Deutschland!« Der Lokführer und die beiden Heizer schauen sie lächelnd an. Lillian ist wie benommen. Hat sie es jetzt wirklich geschafft? Oder kommen noch neue Hindernisse?

Sie blickt an sich hinunter. Am besten, sie klopft sich erst einmal den Kohlenstaub vom Mantel ab. Wie wohl erst ihr Gesicht aussieht! Dann greift sie in ihre Tasche und verteilt die Wurstbrote aus der Metzgerei Karing. Schlohfeld isst nur ein kleines Stück. »Der Rest ist für meine kranke Frau.«

In Flensburg fährt die Lok direkt ins Depot.

»Jetzt müssen Sie nur noch runter vom Gelände, ohne dass es jemand sieht«, raunt Schlohfeld Lillian zu. »Ich bringe Sie gleich zu einer Stelle, an der ich ein Loch in den Zaun gemacht habe. Sie warten dann hinter dem Zaun auf mich. Ich muss erst die Papiere wegbringen.«

Lillian klettert durch den Zaun und wartet auf den Lokomotivführer. Sie kann es immer noch nicht fassen, dass sie jetzt in Deutschland ist.

Schlohfeld bringt sie zu einer Baracke, in der er mit seiner Frau wohnt. Sie liegt im Bett und sieht sehr krank aus. »Wer ist das Mädchen?«

»Ich habe sie über die Grenze gebracht. Sie wird heute Nacht hier bleiben.« Schlohfeld holt den Proviant aus seiner Tasche und reicht ihn seiner Frau. »Ist von ihr. In den nächsten Tagen soll es noch mehr geben.«

Am nächsten Morgen bringt Schlohfeld sie zu Frau Matz. Lillian spürt erst jetzt, wie die Anspannung langsam von ihr abfällt. Sie hat es tatsächlich geschafft. Sie ist in Deutschland. Alles ist gut gegangen. Jetzt ist der Weg zu Helmut nur noch kurz.

Herr und Frau Matz haben schon alles für ihre Weiterfahrt vorbereitet: »Sie fahren morgen mit dem Fern-D-Zug nach Düsseldorf. Hier ist Ihre Zugkarte zusammen mit der offiziellen Bescheinigung, dass Sie für das Flensburger Rationierungsamt ins Düsseldorfer Rationierungsamt reisen müssen, um dort etwas zu erledigen.«

»Für das Rationierungsamt?«, wiederholt Lillian.

»Ja, Fräulein Berthung«, sagt Herr Matz, »es gibt in Deutschland nur Fahrkarten, wenn man einen Grund für seine Reise hat. Und Familie Crott schicken wir ein Telegramm mit Ihrer Ankunftszeit.«

 

Um 9 Uhr steigt Lillian auf dem Flensburger Bahnhof wieder in einen Zug. Diesmal nicht auf den Tender der Lokomotive, sondern in ein Abteil des Fern-D-Zuges nach Frankfurt über Hamburg und Düsseldorf.

Es ist eine Fahrt durch ein ihr unbekanntes Land, durch völlig zerstörte Städte und Bahnhöfe, die nur Ruinen sind. Im Zug sind viele Kriegsopfer, Männer, denen ein Arm oder Bein fehlt, und Frauen mit harten, verschlossenen Gesichtern. Während der Fahrt schreibt Lillian auf, was sie in diesen langen Stunden auf dem Weg zu Helmut erlebt und fühlt. Sie wird es ihm ein halbes Jahr später gebunden als kleines Büchlein zu Weihnachten schenken:

 

Fredag, den 13. Juni 1947, begynte et nytt kapitel for meg. Etter to lange adskillelsens aar mötte VI hverandre igjen. Og boken forteller … – Freitag, den 13. Juni 1947, begann ein neues Kapitel für mich. Nach zwei langen Jahren sind WIR uns wieder begegnet. Und das Buch erzählt …

 

Als der Zug in den Düsseldorfer Bahnhof einfährt, steht Lillian am Fenster. Der Bahnsteig ist voller Menschen. Lillians Augen suchen nach Helmut. Ist er nicht da? Hat er das Telegramm nicht bekommen? Oder erkennt sie ihn nicht mehr?

Sie steigt aus. Da steht Helmut. Helmut im grauen Anzug. Und mit roten Nelken in der Hand.

Lillian weiß nicht, warum, aber sie versteckt sich hinter einer Säule. Sie beobachtet, wie er nach ihr sucht. Langsam geht seine Hand mit den Blumen nach unten. Er wendet sich dem Ausgang zu. Der Bahnsteig ist jetzt fast leer.

»Helmut!«, ruft sie. »Helmut!« und läuft auf ihn zu. Die Nelken fallen zu Boden.

»Vi saa ingen, det var bare oss to – wir sahen niemanden, es gab nur uns beide.«

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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