Führerbefehl
Herbst 1944
Im Oktober 1944 erhält Lillian auf der Kommandantur den Auftrag, um 17 Uhr im mittleren der drei Militärhäuser am Stabburshaugen zu erscheinen, um dort bei einer Besprechung zu übersetzen.
Das mittlere Haus, so schießt es ihr durch den Kopf, das ist doch das Haus, in dem Vera einmal gewohnt hat!
Als Lillian den steilen Weg hinaufgeht, hat sie ein unangenehmes Gefühl. Hauptmann Ascher hat Pünktlichkeit befohlen, absolute Pünktlichkeit. »Die Sache, Fräulein Berthung, ist ungemein wichtig.« Man könne sich doch auf sie verlassen, nicht wahr?
Der Wachtposten am Zaun betrachtet sie und ihren Passierschein im Schein der Taschenlampe. Dann verschwindet er in der Baracke. Es wird telefoniert. Lillian muss warten. Trotz der Dunkelheit sieht sie, dass das Gebäude von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben ist. Dann öffnet sich das Tor. Lillian muss vortreten. Ein Soldat bringt sie zur Haustür. Hier hat Vera gewohnt. Vera. Die beste Freundin. Die beste Freundin, die nun nichts mehr von ihr wissen will. Wegen Helmut. Und Lillian ist froh, dass Vera sie wenigstens jetzt nicht sehen kann.
Die Eingangstür sieht genauso aus wie früher. Nur das Schild fehlt. Ein Wachsoldat reißt die Tür auf. Lillian tritt in den Flur. Der große Spiegel, der in der Ecke hing, ist weg. Auch die Teppiche sind verschwunden. Lillian zieht den Mantel aus und geht zur Garderobe. Dort hängen einige dunkle Herrenüberzieher, aber keine Soldatenmäntel.
Der Wachsoldat öffnet die Tür zu dem Raum, der früher das Wohnzimmer war. Jetzt nutzt man ihn als Büro. Mehrere Männer stehen in der Ecke und unterhalten sich leise. Lillian bleibt am Kamin stehen. Früher hatten Vera und sie darin Äpfel gebraten. Jetzt ist er kalt. Die Männer grüßen Lillian kurz, nehmen dann aber keine Notiz mehr von ihr. Es sind Norweger. Lillian kann nicht hören, worüber sie reden. Sie schaut hinüber in das erleuchtete Esszimmer. Die große Doppeltür ist nicht mehr da. Dafür hängen vor den Fenstern schwarze Vorhänge zur Verdunklung. Ein großer Tisch steht mitten im Zimmer. An der einen Wand hängt eine Landkarte, an der anderen die Hakenkreuzfahne.
Nach einer Viertelstunde öffnet sich die Wohnzimmertür und ein deutscher Oberst, begleitet von zwei Offizieren, tritt ein. Er bittet alle an den großen Tisch.
»Wo ist die Dolmetscherin?« Lillian tritt nach vorne und stellt sich vor. Sie sieht, dass auf dem Tisch eine große Karte von Nordnorwegen liegt.
»Ich erwarte«, sagt der Oberst, »von der Dolmetscherin und den Herren Lensmenn absolute Verschwiegenheit in dieser Angelegenheit. Wenn Sie mir das bitte durch Ihre Unterschrift bestätigen wollen.« Die Männer sind also Lensmenn, Landräte. Mit einer Handbewegung fordert der Oberst von Lillian die Übersetzung. Einer der Offiziere legt eine Namensliste zur Unterschrift vor. Zuerst sind die Lensmenn dran, einer nach dem anderen, dann Lillian. Niemand sagt etwas. Nur das Kratzen der Feder auf dem Papier ist zu hören.
Während Lillian in der Reihe steht, kann sie den Oberst heimlich betrachten. Er ist sicher über 60, aber noch immer groß und kräftig und wirkt mit seinen blonden Haaren und den buschigen Augenbrauen wie ein norwegischer Bauer. Bloß dass ein norwegischer Bauer keinen Schmiss auf der Wange hat und kein Eisernes Kreuz an der Brust. Lillian unterschreibt als Letzte.
»Sie erhalten Nachricht, falls die Schweigepflicht aufgehoben werden sollte.« Die Stimme des Obersts ist von sachlicher Kühle. »Meine Herren Lensmenn, es geht um Folgendes: Wie Sie wissen, drängt die Rote Armee im Nordosten gegen die Grenzen Norwegens. Die Russen stehen kurz vor Kirkenes, die Front in Finnland ist zusammengebrochen, und unsere Truppen befinden sich im heroischen Abwehrkampf gegen den russischen Feind.« Der Oberst macht eine Pause, damit Lillian alles übersetzen kann.
»Meine Herren, es ist Befehl von Berlin gekommen, dass die Einwohner der Finnmark evakuiert und alle Häuser abgebrannt werden müssen. Falls die russischen Bataillone über die Grenze nach Norwegen kommen, werden sie dort nichts mehr vorfinden.«
Hat er das wirklich gesagt? Hat sie das richtig verstanden? Lillian ist sich nicht ganz sicher, doch das Gesicht des Obersts lässt keinen Zweifel. Sie übersetzt alles Wort für Wort. Auch die Lensmenn scheinen nicht recht glauben zu wollen, was ihnen die junge Frau da auf Norwegisch sagt. Einer bittet Lillian um eine Wiederholung. Sie tut es. Dann fragt er noch einmal nach: »Haben Sie das richtig übersetzt?« Sein Gesicht ist aschfahl. »Ja, ich habe genau übersetzt.«
Der Oberst spricht weiter, und Lillian kann sich nur mit großer Anstrengung auf seine Worte konzentrieren. »Alles, was wir hier noch an Schiffen haben, kommt zum Einsatz, um die Bevölkerung südwärts zu bringen. Für das Vieh wird der Platz aber nicht reichen. Alle Tiere müssen deshalb getötet werden.«
Lillian fühlt, wie ihre Stimme zittert, sie übersetzt ganz mechanisch.
»Die Frage an Sie, meine Herren Lensmenn, ist nun: Wie viele Flüchtlinge können Sie in Ihren Bezirken aufnehmen? Ich wünsche innerhalb der nächsten fünf Tage eine komplette Liste. Wir haben keine Zeit zu verlieren, der Norden braucht unseren Schutz vor den Russen.«
»Frag den Oberst, ob die Häuser nicht stehen bleiben können«, sagt einer der Lensmenn leise. »Und sag ihm, dass wir versuchen werden, weitere Schiffe zu besorgen, damit auch die Tiere weggeschafft werden können.« Lillian übersetzt mit großem Ernst und blickt den Oberst eindringlich an.
»Führerbefehl«, sagt der Oberst knapp. »Meine Herren, Sie wissen, was das bedeutet.« Er nickt kurz den beiden Offizieren zu. Dann verlassen die drei das Zimmer. Lillian und die acht Lensmenn bleiben erschüttert zurück.
»Du bist so blass, fühlst du dich krank?«, fragt die Mutter, als Lillian nach Hause kommt.
»Ich glaube, ich bekomme die Grippe, ich will mich gleich hinlegen.« Sie kann jetzt mit niemandem sprechen. Die Mutter schaut ihr bekümmert nach. Auf der Kommode liegt ein Brief von Helmut. Er ist nun schon so lange mit seiner Kompanie am Lyngenfjord. Lillian lässt den Brief liegen. Sie wirft sich auf ihr Bett. Sie kann die Tränen nicht mehr aufhalten. Sie presst das Gesicht in das Kissen, damit niemand im Haus hört, dass sie weint.