Wiedersehen in Kasfjord
Ende Juli 1943
Helmut schreibt Lillian, er mache sich Sorgen, dass sie zu schwer arbeiten muss. Außerdem hat er Sehnsucht nach ihr, große Sehnsucht. »Ich werde versuchen, dich am nächsten Sonntag zu besuchen. Wann und wo?«
Zwei Wochen sind seit ihrem letzten Treffen vergangen. Diese zwei Wochen kommen ihr unendlich lang vor. Lillian ahnt nicht, dass sie einmal zwei lange Jahre wird warten müssen, bis sie Helmut wiedersieht.
Die Zeit bis zum Sonntag will einfach nicht vergehen. Als es endlich so weit ist, läuft Lillian am Morgen den Weg hinunter zur Busstation. Im Bus sind nur wenige Leute. Lillian setzt sich gleich hinter den Fahrer. Kurz vor der nächsten Haltestelle bittet sie ihn, kurz anzuhalten.
»Die Haltestelle liegt aber hinter der Kurve«, sagt der verwundert.
»Ja, ich weiß es, doch ich möchte das letzte Stück zu Fuß laufen.« Der Fahrer lacht und öffnet die Tür.
Als Lillian aussteigt, kommt es ihr so vor, als könne sie Helmuts Nähe fühlen. Und trotzdem will sie den ersehnten Augenblick noch ein wenig hinauszögern.
Es ist so ein wunderschöner Sommertag. Ganz unten liegt der blaue Fjord. Ein Boot legt gerade ab. Man kann von hier oben nicht erkennen, ob es einem Fischer gehört. Oder den Deutschen. Aber das ist ihr jetzt egal. Sie zieht einen kleinen Spiegel aus der Tasche und betrachtet ihr Gesicht. Die Landarbeit hat ihrer Haut offenbar gut getan. Helmut wird sich wundern, wie braun sie in den zwei Wochen geworden ist.
Da kommt er ihr auch schon entgegen. Er wirft das Fahrrad auf den Boden und umarmt sie. »Lillian, ich hab dich so vermisst.« Er lässt sie für einen Augenblick los und schaut sie an. »Du bist ja in der Zwischenzeit noch schöner geworden!«
Helmut packt aus seinem Rucksack eine Flasche Saft, zwei Gläser und eine Dose Kekse aus. Lillian erzählt von der Arbeit auf dem Bauernhof. »Ich bin froh, wenn das vorbei ist und ich wieder in Harstad bin.«
»Harstad«, sagt Helmut und seufzt. »Wie oft bin ich zu euch nach Hause gekommen und habe mit deinem Vater Schach gespielt. Und dabei hatte ich nur den einen Wunsch, dich wiederzusehen. Der Teschner hat übrigens schnell gemerkt, was mit mir los war. Der hat mich sofort gewarnt, weil er sich schon dachte, dass dein Vater das nicht gerne sähe. Aber die Liebe, Lillian, ist nun einmal stärker als alles andere.« Er gibt ihr einen Kuss. In der Ferne hört man einen Kuckuck.
»Wünsch dir was, Helmut, in Norwegen macht man das, wenn man einen Kuckuck hört. Aber du darfst natürlich nicht erzählen, was du dir wünschst, sonst geht es nicht in Erfüllung.« Sie schaut ihn liebevoll an. »Ich habe mir schon etwas gewünscht, und zwar so fest, dass es der Kuckuck unbedingt Wirklichkeit werden lassen muss.«
»Wenn’s bloß so einfach wäre, Lillian.« Helmut tastet nach den Briefen in seiner Tasche. Er ist sich gar nicht sicher, ob er ihr von dem Schicksal der Eltern erzählen und sie damit belasten soll. Ausgerechnet an diesem schönen Tag. »Diesen einen Brief hier«, sagte er schließlich, »den habe ich schon vor einiger Zeit bekommen. Ich weiß gar nicht, ob das jetzt passt.« Helmut liest vor, was ihm sein Vater über die Bomben auf Wuppertal berichtete.
»Und jetzt sind meine Eltern vorübergehend bei Verwandten in Friesoythe, einem kleinen Ort im Norden Deutschlands, untergekommen. Es wird schwer werden, eine andere Wohnung zu bekommen, Wuppertal ist völlig zerstört. Und ich kann von hier aus gar nichts tun. Außer meinen Eltern immer wieder Mut zu machen.«
Lillian greift nach seiner Hand. »Das ist eine schwere Situation für deine Eltern und für dich«, sagt sie. »Deinem Vater werden deine Briefe sehr gut tun und deiner Mutter auch.«
»Ich fürchte, meiner Mutter helfen auch die besten Briefe nicht mehr.« Dann erzählt er Lillian von Tante Tetta. Dass man nicht weiß, was mit ihr geschehen ist. Und dass man das Schlimmste annehmen muss.
Lillian muss wieder an die Salomons denken, die die Deutschen aus Harstad abgeholt haben. Auch sie sind nicht mehr zurückgekommen. »Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«, sagt sie nach einer Weile. »Warum quälst du dich alleine damit?«
Helmut antwortet nicht darauf, sondern greift in seine Tasche und zieht einen zweiten Brief hervor. »Ich möchte dir aber gerne noch etwas vorlesen. Auch das hat mein Vater geschrieben. Der Brief ist gestern erst gekommen.«
Mein lieber Helmut, Mutter und ich sind glücklich, daß es Dir gutgeht. Es war für uns eine Freude, zu hören, was Du über Hun erzählst. Es macht uns glücklich, und wir fühlen, was es für Dich bedeutet, einen Menschen gefunden zu haben, der an Deinem Leben teilnimmt. An dem, was gewesen ist, was jetzt ist und was eventuell noch kommen wird. Du schreibst so schön über sie und ihr Mitgefühl, wenn Du ihr von unseren bitteren Jahren erzählst. Ihre Haltung zeigt eine Reife, die man selten bei einer so jungen Frau findet. Grüße bitte dieses norwegische Mädchen von uns. Unser innigster Wunsch ist, daß wir sie eines Tages kennenlernen werden. Obwohl die Zukunft ungewisser ist als jemals zuvor, wollen wir die Hoffnung nicht aufgeben. Ich werde selbst an Hun schreiben und erzählen, daß sie bereits einen Platz in unseren Herzen bekommen hat. Alles Liebe wünschen Deine fernen Eltern.
Lillian ist zutiefst gerührt. »Die Gedanken deines Vaters sind so warmherzig. Es ist aber doch selbstverständlich, dass man Grausamkeit und Ungerechtigkeit verabscheut. Wenn ich nur meinen Eltern die volle Wahrheit erzählen könnte!«