Iwan
November 1943
Iwan lässt sich Zeit, wenn er das Holz für den Ofen im Geschäftszimmer stapelt. Hier oben ist es warm. Unten im Keller, wo er das Holz spaltet, ist es kalt. Lillian tut der russische Kriegsgefangene leid. Der Mann ist so mager, so müde und erschöpft. Den Kontakt zu Gefangenen haben die Deutschen streng verboten.
Als Lillian an einem Nachmittag allein im Büro ist, bittet sie den Russen mit einem Handzeichen, zu der großen Landkarte hinter ihrem Schreibtisch zu kommen.
Iwan bleibt, wo er ist.
Lillian zeigt zuerst auf die Karte, dann auf ihn und macht einen fragenden Gesichtsausdruck.
»Poltava«, sagt Iwan leise.
Nach kurzem Suchen findet Lillian die Stadt Poltava in der Ukraine, südöstlich von Kiew.
Lillian macht dort ein kleines Kreuz. Dann macht sie noch ein Kreuz bei Harstad.
Erst jetzt tritt Iwan zögernd vor die Karte. Lillian nimmt seine Hand und führt seinen Zeigefinger von Poltava nach Harstad. Über das Gesicht des Russen laufen Tränen. Die beiden Kreuze sind so weit voneinander entfernt.
Ein paar Tage später legt Iwan wieder Scheit auf Scheit neben den Ofen des Geschäftszimmers. Lillian und der Russe sind allein im Zimmer. Er kommt plötzlich zu Lillians Schreibtisch und greift schnell unter sein löchriges Hemd, um ihr etwas zu übergeben, das in einen Lappen gehüllt ist.
Sie schlägt den Lappen auseinander. Es sind zwei kleine Bilderrahmen. Iwan hat sie aus Holzresten gebastelt. An der oberen Kante hat er ein Hakenkreuz eingeritzt. Iwan strahlt. Das ist sein Geschenk für die junge Frau. Für die Deutsche, wie er glaubt. Die ihm ab und zu Essen gibt. Und ihm auf der Karte gezeigt hat, wohin man ihn gebracht hat.
Am Nachmittag kommt Ulvall von einem Übersetzungsauftrag zurück ins Büro. »Stell dir vor, sie haben Grete festgenommen. Ich kenne sie seit meiner Schulzeit. Sie wohnt mit ihren Eltern in dem kleinen weißen Haus neben Friseur Jensen.« Auch Lillian weiß, wer das Mädchen ist. Ulvall erzählt weiter, dass Grete einem russischen Kriegsgefangenen, der Eisenstangen ausladen sollte, heimlich Handschuhe zugesteckt hat. Ein Wachmann hat Grete dabei beobachtet, und dann hat man sie sofort abgeführt. Niemand weiß, wo sie ist, die Eltern sind verzweifelt.
Eines Abends fliegt die Tür zum Geschäftszimmer auf, ohne dass jemand vorher angeklopft hätte. Ein Mann in einem schweren Ledermantel fragt auf Deutsch, ob es ein Telefon gibt, über das er ein Gespräch von der norwegischen Telefonzentrale vermitteln lassen kann. Lillian zeigt auf das Telefon an der Wand. Der Mann kurbelt, nimmt den Hörer ab und gibt der Vermittlung eine Nummer durch.
Lillian und Ulvall tun so, als seien sie in ihre Akten vertieft, hören aber genau zu, was der Fremde sagt. Das Gesicht des Mannes ist hart, seine Stimme hat einen metallischen Klang.
»Ich bin gekommen, um meinen Jungen zu holen«, sagt er auf Deutsch. »Ich werde ihn morgen Mittag mitnehmen. Wir reisen dann sofort nach Deutschland weiter. Heil Hitler.« Der Mann legt den Hörer auf und sagt noch einmal, diesmal zu ihnen, »Heil Hitler.« Dann ist er weg.
Lillian ahnt, mit wem der Mann gesprochen hat. Mit ihrer ehemaligen Lehrerin, der Mutter von Anna-Karin. Anna-Karin hatte Mitte der dreißiger Jahre in Berlin einen Deutschen geheiratet und ein Kind bekommen. Die Ehe scheiterte, Anna-Karin arbeitet nun auf einer Insel der Vesterålen, und ihr Sohn lebt bei den Großeltern in Harstad. Jetzt also soll der Junge nach Berlin gebracht werden. Weil in Harstad die Deutschen die Macht haben, nimmt sich der Mann im Ledermantel das Recht dazu heraus. Das Recht, den Jungen in eine Stadt zu bringen, die Tag und Nacht bombardiert wird und weit weg von den Menschen ist, die er kennt und liebt.
Als Lillian später durch die dunklen Straßen nach Hause geht, denkt sie daran, wie verzweifelt die Mutter und die Großeltern jetzt sein müssen. Und dass am nächsten Tag ein Pult in der Schulklasse leer bleiben wird. Die Schulkameraden werden nicht verstehen, warum.
Lillian würde so gerne mit Helmut über all das sprechen. Aber der ist vor vier Wochen mit seiner Kompanie nach Lenvikmark bei Narvik versetzt worden. Mehrmals in der Woche ruft er über die Heeresvermittlung in der Kommandantur an. Ulvalls Blicke sind böse, wenn er Lillian den Hörer weiterreicht. Und wenn der Kurier, der kleine freundliche Herr Bolt, mit den Briefen aus Lenvikmark kommt und schon in der Tür ruft: »Auch für Sie ist wieder einer dabei, Fräulein Berthung«, dann rollt Ulvall nur mit den Augen.