Das Narvikschild in Harstad

Sommer/Herbst 1940

 

Die ersten Wehrmachtstruppen, die in Harstad eintreffen, sind die Österreicher der Gebirgstruppe Dietl. Lillian sieht die jungen Männer die Storgate hinuntermarschieren. Am linken Oberarm tragen sie zum Zeichen, dass sie an den Kämpfen im Norden teilgenommen haben, das silberne Narvikschild. Die Österreicher werden zunächst mit Neugier und auch mit einiger Sympathie betrachtet, denn, so glaubt man in Harstad, von Männern, deren Heimat ebenfalls von Hitler besetzt worden ist, wird wohl nicht so eine Gefahr ausgehen wie von den Deutschen selbst.

Die Besatzer geben sich zunächst freundlich. Im Sommer 1940 werden sogar einige Fußballspiele und Tanzveranstaltungen zwischen Militär und Bevölkerung organisiert. Aber die Atmosphäre bleibt angespannt. Die meisten Norweger zeigen wenig Neigung, die neuen Machtverhältnisse als dauerhaft zu betrachten.

Schulen, Hotels und andere öffentliche Gebäude sind beschlagnahmt worden, Zimmer in Privathäusern von Offizieren belegt. Die Truppen marschieren durch die Straßen, und schon von weitem hört man ihren Gesang vom »Edelweiß«. Die Norweger begreifen zunehmend, dass die Österreicher von Hitler und der »neuen Ordnung« in Europa durchaus überzeugt sind und sich entschlossen zeigen, Norwegen vor der »Gefahr aus dem Osten« zu schützen.

Drei Monate nach den Österreichern, die an die Front nach Finnland verlegt werden, kommen die deutschen Okkupationstruppen nach Harstad. In den folgenden Wochen wird alles reglementierter. Auf Plakaten und in Bekanntmachungen werden zahlreiche Verbote und Gebote veröffentlicht. Auch Gestapo und SS richten sich in der Stadt ein. Die Gestapo hat ihren Sitz in den Räumen der Molkerei, und in den Straßen erkennt man die Männer an den langen dunklen Ledermänteln und den Hüten.

Die Dämmerung des Herbstes liegt schwer über den Menschen und der Landschaft. Ein Winter der Besatzung steht bevor, alles wirkt so trist, besonders, wenn das kurze Tageslicht hinter den Bergen verschwunden ist. Die Verdunklungsgardinen, die die Norweger auf Befehl der Deutschen besorgen müssen, sind genau in die Fensteröffnungen eingepasst, kein Lichtschimmer soll nach außen dringen. In der amtlichen Mitteilung liest Lillian, dass feindliche Flugzeuge sonst Harstad entdecken könnten, selbst aus großer Höhe. Wer die Verordnung nicht ernst nimmt, wird mit schweren Strafen bedroht.

Die Versorgung mit Lebensmitteln, die immer über den Seeweg erfolgte, wird noch schwieriger. Die Schiffe können wegen U-Boot-Alarm und Minengefahr kaum noch in den Hafen einlaufen. Heimlich betreibt man Tauschhandel, Silberlöffel, Porzellan oder ein Gemälde gegen etwas Fleisch, Butter, Milch oder Eier. Man spricht in diesen Tagen überall leise in Harstad, nicht nur, wenn es um politische Themen geht.

Referenzpunkt Abbildung 11

 

Von denen, die noch heimlich Radio hören können, weil sie ihren Apparat besser vor den Deutschen versteckt haben, erfährt man ab und zu Nachrichten, die direkt aus England oder Schweden kommen und nicht den Umweg über die Außenstellen des Reichspropagandaministeriums gemacht haben.

Aber die Menschen in Harstad fragen sich, was die Welt da draußen von der Situation im okkupierten Norwegen und den Schwierigkeiten, die die Besatzung mit sich bringt, weiß.

Kriegsjahre sind verlorene Jahre für jedes Volk, denn sie nehmen den Menschen die Möglichkeit ihrer Entwicklung. Was in Harstad allerdings wächst, ist die Hilfsbereitschaft der Menschen. Sie gilt jedoch nicht dem Feind gegenüber, mit dem man jetzt leben muss und der sich in fast jedem Haus ein Zimmer genommen hat. Denn Harstad ist mittlerweile ein wichtiger strategischer Ort für die Okkupationsmacht geworden. Heer und Marine haben hier Tausende Soldaten stationiert, außerdem ist die Stadt Durchgangsstation für viele Soldaten auf ihrem Weg nach Finnmark, der nördlichsten norwegischen Provinz, und zu den Fronten in Finnland und der Sowjetunion.

Überall werden Baracken als Durchgangslager errichtet. Die deutschen Besatzer bestimmen mittlerweile das ganze Leben der Norweger. Die Zeitungen dürfen nur das berichten, was die jetzigen Machthaber in Oslo vorgeben. Die große Kaserne, in der früher norwegische Männer ihre militärische Ausbildung bekommen haben, ist auch von den fremden Truppen besetzt. Hinter der Kaserne ist jetzt alles Sperrgebiet geworden. Dort, wo im letzten Jahr noch die Kinder zwischen den Offiziershäusern Schlitten gefahren sind, ist nun alles abgeriegelt. Die Offiziersfamilien lebten in drei schönen Häusern, und das mittlere Haus hat Lillian besonders in Erinnerung, denn dort hat Vera, ihre beste Freundin, gewohnt. Als deren Vater 1938 nach Südnorwegen versetzt worden ist, versprachen sich die Mädchen, das Band ihrer Freundschaft über Briefe aufrechtzuerhalten. Es wird eines Tages für immer zerreißen.

Tore war unverletzt von der Front zurückgekehrt und besucht inzwischen eine Landwirtschaftsschule weit weg von Harstad in Südnorwegen. Ab und zu erhält Lillian einen Brief von ihm. Er leidet sehr unter seinen Erlebnissen und den Grausamkeiten des Krieges. Er hofft auf ein Wiedersehen mit ihr und darauf, dass das Leben wieder norsk, also normal sein wird. Oft denkt er an den Abschlussball. Und an Lillian im grünen Kleid. Es sind zwar nur ein paar Monate seit jenem Abend im Januar 1940 vergangen. Aber was hat sich in dieser kurzen Zeit nicht alles verändert!

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