Solstad
Frühjahr 1940
In diesen Kriegswochen gibt es für Lillian einen Ort, zu dem es sie besonders hinzieht. Es ist das Haus ihrer Großeltern auf Solstad, eine halbe Stunde Fußweg von der Halvdansgate entfernt. Der Mittelpunkt und ruhende Pol auf Solstad ist Othilie, und die Ausstrahlung ihrer Großmutter wirkt auf Lillian gerade in dieser Zeit wohltuend und beruhigend. Lillian liebt ihre Bestemor27 sehr und hat sie immer dafür bewundert, wie sie sich für Menschen in Not stark macht und ihnen hilft.
Das weinrote Holzhaus mit den weiß ummalten Fenstern und dem vorgebauten Altan28 liegt am Ende eines steilen Weges, der von der Straße hinaufführt. Von dort geht der Blick über den Vågsfjord, auf dem jetzt die Kriegsschiffe der Engländer liegen, bis zu den schneebedeckten Bergen bei Narvik, wo sich der General Dietl und seine Gebirgsjäger erbitterte Kämpfe mit den Truppen der Alliierten liefern.
Auf Solstad ist Lillians Mutter Annie mit sieben anderen Geschwistern groß geworden. Später kamen noch zwei Pflegekinder dazu. Und weil Othilie und Jørgen Solstad großen Wert darauf legten, dass auch ihre Töchter eine gute Ausbildung bekamen, wurde Annie mit 17 Jahren ins weit entfernte Oslo auf die Treider-Handelsskole geschickt und Olga, die Schwester, nach Volda auf die Lehrerinnen-Schule.
Doch Olga starb früh. Die spanische Grippe, die überall in Europa grassierte, war im Sommer 1918 auch nach Norwegen gekommen. Olga erkrankte an der Pandemie und erlag ihr mit nur 21 Jahren.
Als Lillian zur Welt kommt, will Annie ihre Tochter eigentlich nach der verstorbenen Schwester nennen, aber John kann sich damit nicht so recht anfreunden. Und so einigt man sich schließlich darauf, dass Lillian zusätzlich zumindest Olgas zweiten Namen erhält, Hjørdis.
In diesem Frühling 1940 haben die ersten Flüchtlinge aus Narvik und Bjerkvik Unterkunft in Solstad gefunden, denn Großmutter Solstad hilft auch jetzt ganz selbstverständlich, wo sie nur helfen kann.
»Wir müssen nun zusammenrücken«, sagt sie zu ihrem Mann, »Solstad hat Platz für viele.« Die Flüchtlinge schlafen im Stall auf den Heuschobern, aber tagsüber finden sie Platz im Haus. Die große Küche ist der Mittelpunkt, denn hier können sich die Menschen ihre eigenen Mahlzeiten zubereiten. Das gibt ihnen das Gefühl, ihr Leben zumindest am Herd noch in der eigenen Hand zu haben.
Die vielen Stühle um den Esstisch vor dem großen Fenster sind in diesen Tagen fast immer besetzt, und das Radio läuft den ganzen Tag. Alle sind still, wenn die Nachrichten gesendet werden. Die Flüchtlinge aus Bjerkvik und Narvik haben ihre Häuser in Flammen aufgehen sehen, »aber«, so sagt eine Frau, »wir leben und hoffen, dass wir zurückkehren können, um alles wieder aufzubauen.« Im Gesicht der Frau glaubt Lillian den ungebrochenen Willen ihrer Landsleute erkennen zu können. Man will der fremden Macht jedenfalls in Gedanken nicht zu viel Raum geben und sich die Zukunft nicht von ihr nehmen lassen.
So wie Lotte Berg, die in der Storgate in Harstad ein kleines Geschäft für Hüte und Schals führt. Auch sie ist in Großmutters Haus gekommen, weil sie sich in der Stadt nicht mehr sicher fühlt. Auf Solstad kann sie sogar in einem eigenen Zimmer schlafen. Jeden Morgen nimmt sie sich viel Zeit, um ihre Schuhe mit einem Bürstchen zu bearbeiten. Der Geruch der Schuhcreme auf dem feinen Leder, der dann das Haus durchzieht, sagt viel über die Sehnsucht, bald wieder in eine Welt zurückzukehren, in der Damenschuhe wichtiger sind als Soldatenstiefel.
Aber vorerst bestimmt das Kriegsgeschehen auch das Leben auf Solstad. Im Garten haben englische Soldaten die Himbeerbüsche ausgegraben. Dort gibt es jetzt eine Vertiefung für eine Kanone, die zur Tarnung mit Reisig bedeckt ist.
»Wir legen alles in Gottes Hände, Lillian, wir dürfen nicht die Hoffnung verlieren, dass alles wieder gut wird.« Die Großmutter streichelt die Wange ihrer Enkelin, aber sie sieht müde dabei aus.
In den kommenden Tagen versuchen alle, so gut es geht, ihren Beschäftigungen nachzugehen, die nur bei Fliegeralarm unterbrochen werden müssen. Die Berichte von den Fronten sind dramatisch. Es sieht ganz danach aus, dass es der Wehrmacht gelingen wird, weiter vorzurücken. Immer wieder Meldungen von Toten und Verletzten.
Anfang Juni kommt es den Menschen in Harstad so vor, als ob zunehmend alliierte Soldaten an Bord der Kriegsschiffe gebracht werden. »Man weiß gar nicht, was los ist«, sagt John abends beim Essen. »Es gibt Gerüchte, dass diese Truppen in anderen Frontabschnitten in Nordnorwegen eingesetzt werden sollen, aber man sagt auch, dass sie nach Dünkirchen in Nordfrankreich abkommandiert worden sind.« Nicht nur John hat die Befürchtung, dass eine Kapitulation unmittelbar bevorsteht. Auch Annie macht sich Sorgen um die Zukunft ihres Landes: »Wo ist eigentlich der König, und wo ist unsere Regierung?«
Die Menschen in Harstad fühlen sich in den Junitagen 1940 unsicher und allein gelassen in einem Land ohne Regierung, ohne Polizeibehörde, ohne herrschende Gesetze. Es ist ein Zustand, den sie nicht kennen und der sie nicht nur äußerst besorgt, sondern auch ratlos macht.