Die halbe Portion ist nicht mehr in Zeitz

Februar 1945

 

13. Februar

Carola Crott, Zeitz, an Heinz Crott, Wuppertal:

Mein lieber Heinz, morgen früh gegen 6 Uhr müssen wir von hier fort, wohin natürlich noch unbekannt.

Referenzpunkt Abbildung 26

 

19. Februar

Heinz Crott, Wuppertal, an Unteroffizier Helmut Crott, Harstad:

Die halbe Portion ist nicht mehr in Zeitz. Schon im vergangenen Brief hätte ich Dich vorbereiten können, aber ich habe davon abgesehen, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Die Damen aus Weimar sind nämlich schon seit Anfang Februar abbefördert worden, und da konnte es ja nur eine Frage der Zeit sein, daß es auch die von Zeitz treffen würde. Grund war leicht zu finden, wenn man die Ereignisse im südlichen Ostabschnitt sich vor Augen hält. Sonnabend erhalte ich denn auch eine Karte, worin mir die halbe Portion unter dem 13. mitteilt, daß sie mit den anderen Damen – nur die jungen Mädels bleiben vorläufig noch – am nächsten Morgen um sechs Uhr mit unbekanntem Ziel abtransportiert würden. Sie bestellt u.a. auch an Dich herzlichste Grüße. Was das unbekannte Ziel anbelangt, so befürchte ich zu wissen, wohin es gegangen ist, und zwar wird es mit dem von Tetta übereinstimmen. Doch wollen wir noch nicht verzagen, weil die Zeiten sich doch inzwischen erheblich gewandelt haben …

 

26. Februar

Heinz Crott, Wuppertal, an Unteroffizier Helmut Crott, Harstad:

Wie Du Dir wohl denken kannst, habe ich von der halben Portion noch keine weitere Nachricht. Ich hab von anderer Seite, die eine Karte von unterwegs erhalten hat, erfahren können, dass sie nicht wie die meisten Betroffenen in einem Güterwagen, sondern in einem Personenwagen Unterkunft gefunden hat. Immerhin war man nach mehr als zwei Tagen noch nicht aus Sachsen heraus, was bei nicht geheizten Zügen keiner weiteren Erklärung mehr bedarf. Für mich war es ein grausamer Schlag, als ich die Nachricht von der Abschiebung hinnehmen mußte. Wie die Verhältnisse jetzt da unten sein werden, weiß man nicht. Wir wollen uns jetzt noch nicht über alle Möglichkeiten einer künftigen Entwicklung in dieser Beziehung unterhalten, da man sich das Herz damit nur noch schwerer macht. Eine persönliche Annäherung wird kaum möglich sein. Hast Du schon Nachricht von Hun, ob sie gut an ihrem vorläufigen Aufenthaltsort angelangt ist? Falls möglich, grüße sie auch herzlichst von mir. Bei ihrem mitfühlenden Herzen wird sie die neue Wendung mit der halben Portion mit großer Betrübnis aufnehmen.

 

5. März

Heinz Crott, Wuppertal, an Unteroffizier Helmut Crott, Harstad:

Ich habe seit Wochen keinen Brief mehr von Dir erhalten. Ich könnte mir Sorgen machen, wenn ich nicht die inzwischen mehr als verworrenen Postverhältnisse berücksichtigte. Somit will ich denn Deinethalben auch weiterhin guter Dinge sein, da ich ganz selbstverständlich den Fortgang der Dinge auf allen Kriegsschauplätzen mit großem und begreiflichem Interesse verfolge. Dort oben ist danach wieder alles ruhig. Von der halben Portion habe ich noch keine Nachricht. Es ist auch in absehbarer Zeit kaum mit einer solchen zu rechnen. Von einem der jungen Mädels, die vorläufig in Zeitz zurückgeblieben sind, erhalte ich vor wenigen Tagen die Schilderung von dem Abtransport. Die halbe Portion hat nicht einen Schritt gehen können. Zwei Mädels haben sie zum Bahnhof und nachher in das Abteil getragen. Das Mädel hat dann noch den Lagerführer von Zeitz, mit dem ich erfolgreich verhandelt hatte, veranlaßt, daß er das Tragen der halben Portion in Halle in den endgültigen Wagen, den einzigen Personenwagen, anordnete. Schließlich hat die Mutter dieses Mädels ausdrücklich versprochen, daß sie nicht von der Seite der halben Portion weichen würde. Damit ist, wenn auch wenig, doch alles getan worden, was im Augenblick getan werden konnte.

 

Das sind die letzten Informationen, die Heinz über den Verbleib von Carola erhalten hat. Er weiß nicht, wohin man sie verschleppt hat.

Ich fahre im Januar 2011 noch einmal nach Wuppertal zur Begegnungsstätte Alte Synagoge. Sie ist an der Stelle in der Genügsamkeitsstraße, wo früher jene Synagoge gestanden hat, in die meine Großmutter und mein Vater jeden Samstag gegangen sind. Aus den dort befindlichen Akten entnehme ich, dass die Gestapoleitstelle Frankfurt für die Deportierten aus dem Arbeitslager der »Organisation Todt« in Zeitz zuständig war. In deren Protokoll steht: »Abfahrt von Zeitz 13.2.1945, über Frankfurt dann mit dem Transport XII/X von Frankfurt nach Theresienstadt. Ankunft dort: 18.2.1945.« Dieser Tag ist ein Sonntag. Dreieinhalb Wochen vor dem 58. Geburtstag meiner Großmutter. Sie hatte die Transportnummer 481.

Ein Brief aus Prag erreicht mich Anfang Februar 2011: »Zu Ihrem Gesuch betreffend Carola Crott (geb. 14.3.1887) teilt das Nationalarchiv in Prag mit, dass sie im Ghetto Theresienstadt unter diesen Adressen gelebt hat: Parkstraße 12/38, ab dem 23.2.1945 Parkstraße 12/33 und ab dem 24.4.1945 Seestraße 10.«

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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