Das Vaterland meldet sich in Croydon

Juni 1939

 

Es regnet an diesem warmen Abend im Juni 1939 in London. Dr. Helmut Crott kommt von der Arbeit nach Hause in seine kleine Wohnung in Croydon. Er ist seit Mai 1939 in der englischen Hauptstadt und von seinem Arbeitgeber, den Vereinigten Stahlwerken Düsseldorf, beauftragt, bei der Londoner Handelsgesellschaft des Unternehmens die Umstellung der Buchhaltung auf ein neuzeitliches Verfahren durchzuführen. Die Stelle hat er nach seinem Jurastudium bekommen. Für einen Berufsanfänger ein großes Glück – die Vereinigten Stahlwerke sind einer der bedeutendsten Konzerne im Reich.

In der Zentrale hat sich Helmut Crott schnell eingearbeitet und bald so gute Fachkenntnisse vorzuweisen, dass sein Unternehmen ihm die wirtschaftliche Überwachung seiner englischen Auslands-Handelsgesellschaft zutraut. Der junge Mann ist darauf nicht wenig stolz, vor allem nach seinen Erfahrungen während der letzten Jahre im Deutschen Reich.

Dr. Crott starrt auf den Brief, den ihm seine Eltern aus Wuppertal nach London nachgesandt haben. Es ist sein Einberufungsbefehl. Das amtliche Schreiben mit dem Hakenkreuz fordert ihn auf, ab dem 18. Juli 1939 an einer sechswöchigen Wehrübung teilzunehmen. Ausgerechnet ihn, der nach den Nürnberger Rassegesetzen als »Halbjude« gilt … Crott schüttelt den Kopf.

Und überhaupt: Ist das schon ein Hinweis für einen bevorstehenden Krieg? Aber selbst wenn es nur bei dieser Übung bliebe, was würde nach den sechs Wochen passieren? Wird er in London weiterarbeiten können? Wäre es nicht besser, er ginge überhaupt nicht nach Deutschland zurück, sondern bliebe einfach hier?

Auf einmal sind alle Sorgen und Ängste wieder ganz präsent. Er hat natürlich mitbekommen, dass in Großbritannien Wehrpflichtige registriert worden sind, obwohl die britischen Streitkräfte bis jetzt eine Freiwilligenarmee waren. Deutet das nicht doch schon darauf hin, dass auch die Engländer sich auf einen Krieg vorbereiten?

Er beschließt, noch am selben Abend mit seinen Eltern zu telefonieren, um sich mit ihnen zu beraten. Aber ihm ist eigentlich schon jetzt klar, dass ein Missachten dieser Einberufung Konsequenzen für die Seinen zu Hause haben wird. Andererseits könnte ein Eintritt in die Wehrmacht doch auch Schutz für ihn und seine Eltern bedeuten. Wird das Vaterland jemandem, den es in seinen Dienst gerufen hat, auf Dauer die Anerkennung der bürgerlichen Rechte verweigern können?

Er hatte sich ja im Mai mit widersprüchlichen Gefühlen von seinen Eltern verabschiedet. Einerseits voller Erwartung und Vorfreude auf die Arbeit und das Leben in London, andererseits in großer Sorge, wie sich die Dinge in Deutschland und seiner Heimatstadt Wuppertal entwickeln würden. Zum Beispiel für seine Tante Tetta, die in einem jüdischen Altersheim in Wuppertal lebt. Tante Tetta, die stets so sorgenvoll fragte, ob er unter den neuen Gesetzen überhaupt sein Studium würde vollenden dürfen, und der er schließlich doch ein Exemplar seiner Dissertation mit der Widmung schenkte konnte: »Meiner lieben und besorgten Tante Tetta zugeeignet.«

Helmut Crott liebt diese Tante sehr. Vielleicht auch deshalb, weil sie eher wie eine Großmutter für ihn ist. Tetta war noch klein, als ihre Mutter starb. Einige Jahre später heiratete der Vater erneut und Carola kam zur Welt. Kurz darauf starb auch seine zweite Ehefrau. So hatte es Henriette übernehmen müssen, die kleine Schwester, von der sie nur Tetta genannt wurde, großzuziehen. Tettas eigenes Leben ist wegen dieser frühen Pflichten für die Familie auf der Strecke geblieben. Wenn Carola nun ihre ältere Schwester regelmäßig zu sich in die Wohnung holt, soll dies auch ein wenig eine Wiedergutmachung für diese Dienste sein.

Helmut Crott tritt ans Fenster und sieht den Leuten auf der Straße zu. Da gehen sie und leben sie – Mr Smith und Ms Smith, Mr Brown und Ms Brown, Mr Miller und Ms Miller, Menschen, für die es keine Rolle spielt, dass sein Vater 1912 ein Mädchen aus jüdischer Familie geheiratet hat. Hier in London ist alles so angenehm normal. Aber wenn er in Wuppertal Tante Tetta aus dem jüdischen Altenheim in der Königstraße abholt, dann muss er sich jedes Mal erst umsehen, bevor er die Stufen zum Eingang hochgeht. Jetzt heißt die Straße auch nicht mehr nach dem König, sondern »Straße der SA«.

Zum Glück heißt die Blumenstraße noch Blumenstraße, doch selbst der kurze Weg zurück zur Wohnung seiner Eltern kommt ihm jedes Mal wie ein Spießrutenlauf vor. Vor allem, weil die Dienststelle der Geheimen Staatspolizei in der Luisenstraße nicht weit ist.

Der Tante geht es ähnlich. Kaum dass die Tür ins Schloss gefallen ist, sinkt Tetta in den Lehnstuhl am Nähtisch und braucht erst einmal ein Glas Wasser.

Von seinem Vater weiß Helmut Crott, dass Tetta nun fast jeden Tag in die Blumenstraße kommt, denn die Wohnverhältnisse im Altenheim sind unerträglich geworden. In einem Haus, das einmal für 23 Bewohner geplant wurde, leben nun 80 Menschen auf engstem Raum zusammen. So sieht es nämlich die Verordnung über »Mietverhältnisse mit Juden« vor:2 Jüdische Wohnungs- und Hauseigentümer müssen jüdische Mitbürger bei sich aufnehmen.

Helmut Crott tritt vor den Kleiderschrank und betrachtet sich im Spiegel. Sieht er jüdisch aus? Wie sehen Juden überhaupt aus? Verrät sein Gesicht, dass er eine jüdische Mutter hat? Das fragt er sich nicht zum ersten Mal. Er fragt es sich, seitdem die Angst Bestandteil seines Lebens geworden ist. Nur zu gut erinnert er sich an den Morgen des 10. November im letzten Jahr. Er sitzt im Zug nach Düsseldorf, auf dem Weg in die Vereinigten Stahlwerke A.G., und hört, wie die Leute darüber reden, dass in der Nacht die Wuppertaler Synagoge gebrannt hat, dass die jüdischen Geschäfte in der Berliner- und Herzogstraße geplündert worden sind. Kaum ist er in seinem Büro in der Düsseldorfer Innenstadt angekommen, ruft er seine Eltern an. Carola ist zunächst noch um Fassung bemüht. Doch dann fleht sie ihn an: »Komm heute Abend gleich nach Hause, hörst du, Junge?«

 

Helmut Crott hat den Gestellungsbefehl noch immer in der Hand. Wenn er an dieser Übung nun tatsächlich teilnimmt, werden sie ihn dann wieder auf eine Liste setzen, so wie damals an der Universität?

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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