Ab jetzt sprechen wir nur noch Norwegisch
Sommer 1960
Mir wurde immer übel auf den langen Reisen nach Harstad. 3000 Kilometer.
Ich, das Kind hinten auf der Rückbank. Meistens sind wir über Schweden nach Norden gefahren, erst mit dem VW Käfer, dann mit dem Ford und später mit dem hellblauen Mercedes. Insofern wurde es immer komfortabler. Aber ich hasste diese lange Strecke, auf deren erstem Teil die Fahrt mit der Autofähre für mich noch das Spannendste war. Einiges war allerdings merkwürdig. Sobald wir die Fähre hinter uns hatten, stellte mein Vater das Auto immer ein paar Straßen weiter ab, wenn wir in irgendeinem Restaurant essen gehen wollten. Und die Anweisung »Ab jetzt sprechen wir nur noch Norwegisch!« fand ich damals ziemlich komisch.
Auch wenn die Straßen durch Norwegen in viel schlechterem Zustand waren als die Parallelstrecke durch Schweden, machten wir den zweiten Teil der Reise meist über die kurvenreichen, holprigen norwegischen Schotterstraßen. Dafür aber, wie meine Eltern fanden, durch unvergleichliche Landschaften. Keine endlosen Geradeaus-Fahrten durch die immer gleichen schwedischen Wälder.
Oslo, Lillehammer, Steinkjer, Fauske – so hießen die Stationen unserer Strecke, an denen wir übernachteten. Zu der sich verlässlich einstellenden Übelkeit kam später auf den Norwegen-Fahrten bei mir ein Gefühl von Traurigkeit und Einsamkeit dazu. Ich wäre mit 15 doch tausendmal lieber nach Italien oder an die Ostsee gefahren. Dort, wo das Leben war. Und meine Freundinnen aus der Schule. Stattdessen hockte ich 1967 in einem Hotel in einer verlassenen Gegend irgendwo bei Steinkjer, überließ mich einer depressiven Stimmung, dem Kassettenrekorder und Eleanor Rigby von den Beatles.
Vorsichtig löse ich ein Bild aus dem Fotoalbum, in das ich mich schon den ganzen Nachmittag vertieft habe, weil ich in eine andere Zeit eintauchen will. Das Bild stammt aus dem Jahr 1960. Das Foto muss am vierten Reisetag aufgenommen worden sein, denn dann hatten wir immer diese besondere Stelle an der Europastraße 6 von Mo i Rana nach Narvik erreicht. Hier, inmitten einer kargen Steinlandschaft, liegt der Polarkreis, und von hier aus ist es nur noch ein Reisetag bis Harstad. Deshalb blicke ich in meiner hellgrauen Hose und meinem roten Anorak wohl auch irgendwie erleichtert in die Kamera. Ich rechne nach: Ja, ich bin acht Jahre alt. Rechts von mir steht mein Vater in einer Blouson-Wildlederjacke, aus der ein Hemdkragen ragt, der genauso grau ist wie seine Haare. Die Hand meines Vaters liegt auf meiner Schulter. Links von uns dieser Sockel aus hellem Stein, darauf das quaderförmige Polarkreis-Denkmal mit dem stilisierten Globus aus dunklem Metall. Die Norweger nennen diese Stelle am 66. Breitengrad »Polarcirkel«, und so steht es auch auf dem Stein. Zusammen mit zwei Jahreszahlen: 1937 und 1940. Zwischen den Ziffern 19 und 40 gibt es einen weißen Fleck. Ich sehe ihn noch ganz deutlich auf der blass gewordenen Fotografie.
Heute weiß ich: Hier war einmal ein Hakenkreuz eingeritzt. In einem Buch mit dem Titel »Kampf um Norwegen«, herausgegeben vom Oberkommando der Wehrmacht, schildern Soldaten ihre Erlebnisse in Norwegen 1940:
Steil steigt die Straße durch enge Täler an, bis wir ein Hochplateau erreichen. Weit und breit ist kein Baum oder Strauch zu sehen. An einer Biegung treffen wir auf einen großen Stein, auf dem eine Erdkugel befestigt ist. In der Erdkugel ist der Polarzirkel eingelassen. Es ist ein geschichtlicher Augenblick: Wir überschreiten als deutsche Soldaten den Polarkreis. Einige Jäger haben sofort Hammer und Meißel herangeholt und graben ein großes Hakenkreuz in den Stein.8
Am Tag vor der Ankunft in Harstad war ich immer voller Vorfreude und Aufregung. Ich wusste, morgen, wenn wir endlich in der Halvdansgate ankamen, würden alle da sein: Mein Großvater, Onkel Bjørn, Tante Alfhild, Onkel John, Tante Åshild, Tante Pus, meine Cousine May und Rolv, mein Cousin. Es würde ein Abendessen vorbereitet sein mit köstlichen Schnittchen, belegt mit geräuchertem oder mariniertem Lachs, Kjøttrull aus Rentierfleisch, eingelegtem Sild-Hering, meiner geliebten Leverpostei – Leberwurst – und dem von mir nicht gemochten Geitost – dem braunen Ziegenkäse. Und wie immer würde mich mein Großvater, während die anderen schon redeten und aßen, an die Hand nehmen und mit mir zu dem dunklen Eichenbuffet im Esszimmer gehen, die Schublade öffnen und mir hundert Kronen in die Hand drücken. Dabei würde er auf Deutsch »Das Taschengeld für die nächsten Wochen« sagen und sich zu mir hinunterbeugen. Und ich würde ihn umarmen und sagen: »Tusen takk, kjære Morfar9!«