Die Crotts unterm Hakenkreuz
1937 bekommt Heinz Crott, der Vater meines Vaters, die Zeichen der neuen Zeit zu spüren. Er wird seine Stellung bei der Reichsbahn verlieren, weil er mit einer Jüdin verheiratet ist.
Ihre Liebe geht bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Heinz Crott hat Carola Callmann in Hagen in der Tanzstunde kennengelernt, und als die beiden im November 1912 heiraten, ist seine Familie wenig erfreut, dass er keine Katholikin zur Frau genommen hat. Gesellschaftliche oder gar berufliche Folgen drohen jedoch nicht. Im Gegenteil, Heinz Crott macht Karriere bei der Reichsbahn – er steigt in den Besoldungsrang IV zum Oberinspektor auf und darf unter goldener Mützenkordel auf den Kragenspiegeln zwei Sterne tragen. Erst als die Nationalsozialisten die Macht ergreifen, wird die Ehe mit der Frau, die er liebt, zu einem Problem und bringt existenzielle Folgen für ihn und die ganze Familie. Doch Heinz Crott denkt nicht daran, sich von seiner Frau scheiden zu lassen.
Mit dieser Weigerung fällt Crott aber unter den Paragraph 6 des Beamtengesetzes. Dieses Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ist am 7. April 1933 erlassen worden und schafft zunächst die gesetzliche Grundlage für die Entlassung aller jüdischen Beamten aus dem Staatsdienst. Später wird es auch jene treffen, die mit einem jüdischen Partner verheiratet sind. Reichsinnenminister Frick führt in einer Verfügung vom 19. April 1937 noch ein zusätzliches »Argument« ins Feld:
Mein Rundschreiben vom 7. Dezember 1936, das dem deutschblütigen Ehegatten, der in einer deutsch-jüdischen Mischehe lebt, verbietet, in seiner Wohnung die Reichs- und Nationalflagge zu hissen, gilt auch für Beamte. Da der Zustand, daß ein Beamter nicht flaggen darf, auf die Dauer nicht tragbar ist, ist der jüdisch versippte Beamte in der Regel (…) in den Ruhestand zu versetzen.33
Mein Großvater wird zum 1. Oktober 1937 aus dem Dienst entlassen und mit 49 Jahren in den Ruhestand versetzt. Die Pension wird entsprechend stark beschnitten. Er muss sich nicht nur eine neue Erwerbsquelle suchen, sondern mit Carola auch eine neue Wohnung, denn die bisherige gehört der Reichsbahn.
Der »Säuberungsprozess« der Nationalsozialisten ist bereits seit 1933 in vollem Gange. Schon am 1. April 1933 hatte die NSDAP zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen und die Sturmabteilung (SA) mit ihren Angriffen auf die Praxen jüdischer Ärzte oder die Kanzleien jüdischer Anwälte begonnen. Die Männer in den schwarzen Uniformen fahren mit ihren Plakaten durch die Straßen deutscher Städte – so auch durch Wuppertal:
»Boykottiert jüdische Geschäfte!« – »Kauft nicht in jüdischen Warenhäusern ein!« – »Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten!« – »Meidet jüdische Ärzte!« – »Die Juden sind unser Unglück!«
Im Oktober 1933 wird jüdischen Journalisten Berufsverbot erteilt, seit 1935 dürfen Juden nicht mehr Ärzte oder Zahnärzte werden. Jüdische Professoren, Lehrer, Rechtsanwälte und Notare werden entlassen. Juden dürfen nicht mehr Gastwirte, Bademeister, Hebammen oder Vermessungsingenieure sein. 1937 spricht man auch »Mischlingen« die Eignung für den Erzieherberuf ab. Bis Ende der dreißiger Jahre mussten nahezu alle Juden ihr Gewerbe aufgeben.
Als Heinz Crott 1937 seine Stellung verliert, ist das auch für ihn und vor allem für Carola nur der Anfang einer langen Reihe von Demütigungen und Entrechtungen. Auch wenn die Ehe mit Heinz noch einen gewissen Schutz bietet, gilt für Carola ab 1938 ein Zutrittsverbot für Theater, Kinos oder Konzerthäuser. Sie darf nicht mehr Straßenbahn fahren oder nach 21 Uhr das Haus verlassen. Die langjährige Haushaltshilfe, Frau Bernhard, darf nicht mehr zu ihnen kommen. Und die Mehrzahl der Bekannten will nicht mehr.
Carola wird in diesen Jahren die neue Wohnung, die sie in der Blumenstraße gefunden haben, kaum noch verlassen. Sie leidet nicht nur unter dem, was ihr unmittelbar widerfährt, sondern fühlt sich darüber hinaus schuldig wegen der Entlassung ihres Mannes und wegen der Diskriminierungen, unter denen ihr Sohn zu leiden hat. Zum Glück hat sie einen Mann an ihrer Seite, der sich so leicht nicht unterkriegen lässt. Der immer wieder versucht, seine Frau aufzubauen: »Das kriegen wir schon hin, du weißt ja, wer nur den lieben Crott lässt walten …«