Sie leben nur noch in Ruinen, deine Deutschen

Juni – August 1944

 

Im Juni 1944 wird Helmuts Kompanie nach Finnland verlegt. Von dort aus soll sie später an die Ostfront gehen. Lillian weiß nicht, wie Helmut es gemacht hat, aber er schafft es, in Harstad zu bleiben. Ihr sagt er nur: »Ich habe die Einheit gewechselt.« Er ist jetzt Bataillonsschreiber beim Pionier-Schären-Bataillon unter Oberleutnant Röttgers. Helmuts Schreibtisch steht in dem kleinen gelben Holzhaus oberhalb des Harstad Botn in Seljestad, das die Deutschen nun auch noch besetzt haben. Die Familie, die bisher dort gelebt hat, hat man kurzerhand woanders untergebracht.

Die Menschen in Harstad stehen den Deutschen immer feindseliger gegenüber. Gerüchte über Verhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen in ganz Norwegen versetzen die Menschen in Unruhe und Wut.

Helmut kommt nicht mehr so oft wie früher in die Halvdansgate, um Lillian abzuholen. John begegnet ihm nur noch kühl und abweisend. Für Helmut ist es schwer, dass der Norweger in ihm nun vor allem den Deutschen in Uniform sieht. Er spürt zunehmend, dass ihn die Berthungs einfach nicht mehr sehen wollen. Noch mehr belastet ihn, dass Lillian wegen ihrer Beziehung leiden muss. Nachdem er seinen Eltern von seinen Sorgen erzählt hat, schreibt der Vater am 22. Mai 1944 zurück:

 

Wir können die Eltern in der Sorge um ihr Kind wohl verstehen, und Du hast ja auch wohl selbst keinen Anlaß gefunden, ihnen das auch nur innerlich zum Vorwurf zu machen. Ich habe das seit der grundlegenden Änderung der Verhältnisse schon mehrmals angeschnitten. Der Vater sieht die Sache sich auch schon klarer abzeichnen und will anderen Leuten keine Handhabe geben. Was bislang gewesen, dürfte für ihn schon unangenehm genug werden können. Die kleine Hun gefällt mir natürlich ob ihrer Haltung immer besser.

 

Trotzdem: Lillian fühlt sich unglücklich und niedergeschlagen. Ihr Leben läuft jetzt so ganz anders, als sie es sich erträumt hat. Anstatt im Hörsaal zu sitzen und den Vorlesungen berühmter Archäologen zuzuhören, sitzt sie in der Stadtkommandantur, muss Unteroffizier Aschers Aufträge ausführen, seine Blicke ertragen und hat zu allem Überfluss noch ein gespanntes Verhältnis zu den Eltern. Ihre Tante Wally spricht nicht mehr mit ihr, und einige der alten Freundinnen meiden sie. Vera hat den Kontakt zu ihr sogar ganz abgebrochen. »Weil du mit einem Deutschen befreundet bist«, schreibt sie Lillian spitz aus Oslo.

»Was soll nur werden, min kjære Helmut«, fragt Lillian, als sie sich das nächste Mal treffen, »alle sind gegen uns, wir sind ganz alleine.«

Helmut schüttelt den Kopf. »Ich weiß, wie schwer es für dich ist, aber ich kann nur hoffen, dass du nicht an uns zweifelst. Als ich dich vor zwei Jahren in der Hütte zum ersten Mal sah, habe ich mich sofort in dich verliebt, und ich kann gar nicht in Worten ausdrücken, was du seitdem für mich bedeutest. Mein Leben hat nun endlich einen Sinn bekommen. Und trotzdem will ich nicht, dass du es jetzt zu Hause wegen mir so schwer hast.«

Lillian fasst seine Hand. »Wenn ich meinen Eltern nur die Wahrheit sagen könnte, dass du in Gefahr bist, weil deine Mutter Jüdin ist!«

»Nein, Lillian, das geht nicht. Du hast mir versprochen, dass du es niemandem erzählst, hörst du! Bitte verrate mich nicht! Wenn du es deinen Eltern erzählst, dann musst du es auch deinen Geschwistern sagen. Und wenn die es ihren besten Freunden erzählen, dann wird der Kreis der Menschen, die mein Geheimnis kennen, immer größer. Lillian, bitte verzeih, aber ich kann nur dir trauen.«

Als er ihre Tränen sieht, fährt er fort: »Wer weiß – vielleicht ist dieser Krieg auch schon bald vorbei. Es sieht nicht gut aus für die Deutschen an der Front.«

»Und das heißt?«

»Dass es für uns vielleicht doch noch eine Zukunft gibt.«

 

Zwei Monate später am 17. August 1944 haben sich die Offiziere der Kommandantur vor dem Radio versammelt. Die »Russland-Fanfare« erklingt. Les Préludes, Franz Liszt. Sondermeldung des Oberkommandos der Wehrmacht von der Ostfront. Lillian und Ulvall hören durch die halbgeöffneten Doppeltüren die überschnappende Stimme des Sprechers.

»Bolschewistische Sommeroffensive … Richtung Ostpreußen und Weichsel … Unsere Streitkräfte … schwere Kämpfe … Abwehrschlacht …«

Es sind nur Fetzen zu verstehen.

Die meisten der Offiziere im Raum nebenan kommen aus Schlesien. Und Richtung Schlesien marschiert jetzt offenbar die Rote Armee. Der Stadtkommandant steht mit gesenktem Kopf vor seinem Schreibtisch. Niemand sagt etwas. Plötzlich verliert ein Leutnant die Fassung. Er sinkt auf einen Stuhl und schlägt die Hände vors Gesicht.

»Reißen Sie sich gefälligst zusammen«, schreit ihn einer der Offiziere an. »Der Führer wird in den nächsten Tagen eine neue Geheimwaffe einsetzen und die wird es ihm ermöglichen, den Feind vernichtend zu schlagen. Der Führer lässt das deutsche Volk nicht im Stich.«

Der Offizier schlägt die Hacken zusammen und reckt – »Heil Hitler!« – den Arm zum Gruß. Dann stürmt er aus dem Raum. Vorbei an Lillian und Ulvall.

Der Kommandant und sein Adjutant sind vor der Karte an der Wand stehen geblieben. Lillian sieht, wie sie die Stecknadeln mit den roten Köpfen, die die Frontlinie zeigen, umstecken. Dann verlassen auch sie die Kommandantur. Ulvall sieht ihnen nach. Dann sagt er leise zu Lillian: »Es dauert nicht mehr lange, bis der Krieg zu Ende ist.« Er stellt sich dicht vor sie und flüstert ihr triumphierend zu: »Hast du von Köln gehört? Von Hamburg, Kassel und dem Ruhrgebiet? Sie leben nur noch in Ruinen, deine Deutschen …«

Lillian schaut auf die Uhr. »Ich muss runter in den Keller zu Iwan. Ich hab ihm heute Kartoffelkuchen mitgebracht. Und Wollhandschuhe von meiner Mutter.«

Auf dem Weg nach unten geht ihr das, was Ulvall gesagt hat, nicht aus dem Sinn. In Deutschland sind auch Helmuts Eltern.

Sie faltet ihre Hände.

 

Helmut bekommt einige Tage später Post aus Wuppertal:

 

Mein lieber Helmut, soeben kommt das Geburtstagspäckchen an, Junge, wie hast Du das nach 5 Jahren Krieg noch fertiggebracht? Solche Zigarren wie die jetzt von Dir gespendeten habe ich seit langem nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das weiterhin ausgewählte Buch entspricht ebenfalls so ganz meinem Geschmack. Bleiben noch die Rasierklingen. Für die nächsten Wochen und sogar Monate besteht nunmehr die berechtigte Aussicht, das Rasieren nicht mehr als Qual zu empfinden, wie es mit den schlechten Klingen letzthin der Fall war.

Alles in allem also Sieg der Organisation auf der ganzen Linie, und nicht nur das, sondern die Hauptsache, mit von mir dankbar anerkannter Liebe zusammengestellt.

Der Krieg spitzt sich offenbar immer mehr zu einer schnellen Entscheidung zu. Im Westen tobt die Schlacht mit von Tag zu Tag sich steigernder Heftigkeit. Alles spricht in den letzten Tagen von der V 2. Schon bald müßte wirklich etwas kommen, was den Karren entscheidend herumwirft, sonst sieht es blümerant aus, denn im Osten bedarf der Russe offensichtlich auch nur einer kurzen Atempause. Was wird aus Finnland werden? Springt der Finne ab, hat das nicht seine Rückschläge auf die norwegische und da insbesondere auf die nordnorwegische Front? Uns klopft jedenfalls schon dauernd das Herz … Nun noch viele herzliche Grüße für die kleine Hun und insbesondere für Dich. Dein dankbarer Alter.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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