Der Führer ist wegen meines Vaters entsetzt

Ich schaue meinen Vater an. Das Foto des 25-Jährigen hängt über meinem Schreibtisch. Der Mann, den ich sehe, hat dunkle Haare über einer hohen Stirn und dunkle Augen, deren Blick mir wehmütig scheint. Er geht in die Ferne und irgendwo an mir vorbei. Mir fällt auf, dass der Mund mit den schön geschwungenen Lippen hier auf diesem Bild viel voller ist als in meiner Erinnerung.

Referenzpunkt Abbildung 12

 

Ich habe diesen Mund schmaler, verschlossener erlebt. Ob das daran liegt, dass mein Vater in den Jahren, nachdem diese Aufnahme gemacht worden ist, die Lippen aufeinanderpressen und über vieles schweigen musste? Mein Vater lebte in seinen Soldatenjahren ständig in Angst. Er hat sehr wohl gewusst, dass seit 1940 Bestrebungen liefen, alle »Mischlinge« aus der Wehrmacht zu entfernen.

 

Im Frühjahr 1940 wurde Hitler von ideologischen Tugendwächtern darüber in Kenntnis gesetzt, dass Mischlinge auf Heimaturlaub sich öffentlich in Wehrmachtsuniform zeigten, womöglich sogar in Begleitung ihres volljüdischen Elternteils. Ein entsetzter Hitler ordnete daraufhin prompt die Ausarbeitung einer neuen Wehrdienstweisung an, die am 8. April 1940 in Kraft trat und Halbjuden wie auch Männer mit jüdischer Ehefrau ausschloss. Die Weisung betraf rund 25 000 bereits in der Wehrmacht dienende Männer.29

 

Zum Zeitpunkt dieses Erlasses ist der Überfall auf Norwegen bereits in vollem Gange. Die Feldzüge nach Polen, nach Frankreich und eben auch nach Norwegen haben die »Mischlinge« also schon mitgemacht. Nun geht es darum, sie wieder aus der Wehrmacht zu entfernen.

Der Begriff »Mischling« war in den ersten beiden Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft nicht benutzt worden. Alle Juden oder Personen mit jüdischem Eltern- oder Großelternteil waren im amtlichen Sprachgebrauch »Nichtarier«. In den Ausführungsverordnungen zu den Nürnberger Gesetzen wird dann ab 1935 zwischen »Volljuden« und »Mischlingen ersten Grades« und »Mischlingen zweiten Grades« unterschieden.

Im Unterschied zu »deutschblütigen Reichsbürgern« sind Juden »Staatsangehörige«, »jüdische Mischlinge« dürfen sich als »vorläufige Reichsbürger« bezeichnen.

In dem Buch von Bryan Mark Rigg über Hitlers jüdische Soldaten ist der »Halbjude« Hans-Geert Falckenberg zitiert, der 50 Jahre nach Kriegsende während einer Veranstaltung sagte: »Dass das Wahnsinn war, das wurde überhaupt nicht diskutiert, von niemandem in Deutschland. Vergessen Sie das nicht.«30

 

Mein Vater hatte schon bei seiner Einberufung sehr darauf geachtet, nicht aufzufallen, und daher vor allem seinen Doktortitel verschwiegen. Somit konnte er gar nicht erst für die Offizierslaufbahn in Betracht gezogen werden, was in der Konsequenz eine genaue Untersuchung seiner »rassischen« Herkunft bedeutet hätte.

So heftet der promovierte Jurist und ehemalige Londoner Angestellte der Vereinigten Stahlwerke AG im Juli 1941 im Geschäftszimmer der Wehrmacht in Sörumsand lieber die Personalbögen und Urlaubsanträge ab. Doch dann liegen auf einmal neue Formulare auf seinem Schreibtisch. Und eine Verordnung des Oberkommandos des Heeres aus Berlin vom 16. Juli 1941:

 

Vorstehende Verfügung wird erneut bekannt gegeben.

A. Begriffsbestimmungen der Nürnberger Gesetze

a) Jude (Jüdin) ist, wer von mindestens 3 der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt. Als Jude (Jüdin) gilt auch der von 2 volljüdischen Großeltern abstammende staatsangehörige jüdische Mischling, der am 14.11.35 der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat.

b) 50%iger jüdischer Mischling ist, wer von 2 der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt.

Der Nachweis der Abstammung beim Truppenteil (Dienststelle) ist von sämtlichen Wehrmachtangehörigen durch Abgabe der als Muster beigefügten pflichtgemäßen Erklärung zu führen, soweit er nicht durch Vorlage von Urkunden erbracht wird. Wenn der Nachweis bisher noch nicht geführt sein sollte, ist dies nachzuholen.31

 

Unter »Zusätze« wird festgehalten:

 

»Sollte festgestellt werden, dass sich noch 50%ige Mischlinge oder Wehrmachtangehörige, die mit 50%igen Mischlingen oder mit Jüdinnen verheiratet sind, im aktiven Wehrdienst befinden, so sind diese unverzüglich – beim Feldherr über den zuständigen Ersatztruppenteil – in das Beurlaubtenverhältnis zu entlassen.«

 

Die beigefügte Erklärung hat den folgenden Wortlaut:

 

Nach sorgfältiger Prüfung der mir zur Verfügung stehenden Unterlagen erkläre ich pflichtgemäß, daß ich – meine Ehefrau – … %iger jüdischer Mischling bin. Über den Begriff jüdischer Mischling in diesem Zusammenhang bin ich durch meinen Disziplinarvorgesetzten belehrt worden. Mir ist bekannt, daß ich Strafverfolgung zu gewärtigen habe, falls sich die Erklärung als unrichtig erweisen sollte. Mir ist eröffnet worden, daß ich, falls ich durch unrichtige Angaben meine Vorgesetzten täuschte, um mich der Erfüllung des Wehrdienstes zu entziehen, wegen Zersetzung der Wehrkraft mit den höchsten Strafen, unter Umständen mit dem Tode bestraft werden kann.

 

Mein Vater wird dies gelesen und zur Kenntnis genommen haben, die Lippen aufeinandergepresst, und dann wird der Jurist in ihm versucht haben, jene Gefühle, die in ihm hochstiegen, zu unterdrücken: die Angst, die Wut, den Hass, die Hilflosigkeit, das Empfinden von zugeteilter Minderwertigkeit und die Scham, das Opfer einer Weltanschauung geworden zu sein, deren Fundamente so weit außerhalb jeden Rechtes stehen.

Und so wird mein Vater wohl gewusst haben, was er zu tun hat: Er wird dieses Formular nicht ausfüllen. Bestätigt bekomme ich das in einem Brief meines Vaters, den er 1945 nach dem Krieg an das norwegische Generalkonsulat in Hamburg geschrieben hat:

 

Ich selbst war 1939 zum Wehrdienst einberufen worden, aus dem nach 1940 alle Mischlinge entfernt wurden, um zu Zwangsarbeiten eingesetzt oder sogar in Konzentrationslager geschafft zu werden. Da ich mich zu jener Zeit gerade in Norwegen befand und von meinen Eltern über die Verhältnisse in Deutschland unterrichtet worden war, habe ich meine Abstammung verschwiegen. Die zu unterschreibende Erklärung konnte ich umgehen, weil ich selbst auf dem Geschäftszimmer tätig war. Auf diese Weise gelang es mir, mich bis zur Kapitulation verborgen zu halten.32

 

Seine Sorge war berechtigt. »Mischlinge« kamen als Zwangsarbeiter zur »Organisation Todt« und in Konzentrationslager. Die Rassenideologen der NSDAP erwogen neben Aussiedlung und Deportation auch Zwangssterilisationen. Aber eigentlich wollte Hitler das »Mischlingsproblem« im Sinne der »Endlösung« ganz aus der Welt schaffen.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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