Heistadmoen

August 1945

 

Fieberhaft überlegen Lillian und Helmut, wie sie es schaffen können, dass sie sich vor Helmuts Transport nach Deutschland noch einmal sehen können. Denn es gibt wohl keine Möglichkeit, dass Helmut erst einmal in Norwegen bleiben kann. Der Abtransport der deutschen Soldaten soll im Spätsommer 1945 beginnen. Er wird erst ein Jahr später abgeschlossen sein.

Helmut schreibt Lillian, dass sie im Hauptquartier der alliierten Kontrollkommission in Oslo Verbindung mit einem amerikanischen Offizier namens Ohlsen aufnehmen soll, der vielleicht helfen wird.

Lillian arbeitet und lebt seit ein paar Monaten bei Olga Vikestad, einer Bekannten von Liv. Sie hilft ihr bei Hausarbeiten, ist aber vor allem dazu angestellt worden, Frau Vikestad Gesellschaft zu leisten und sie am Wochenende in ihr Sommerhaus zu begleiten. Frau Vikestad hat nicht den mindesten Zweifel aufkommen lassen, dass sie die Deutschen hasst. Lillian hält es daher für das Beste, Helmuts Briefe, die sie über Livs Adresse bekommt, gut zu verstecken.

Oslo ist von Odda erst nach mehrstündiger Fahrt zu erreichen. Zunächst mit dem Bus über das Hochplateau der Hardangervidda, dann weiter nach Telemark und von dort aus mit der Bahn in die Hauptstadt. Aber in der Busstation in Odda eröffnet man Lillian, dass sie erst in 14 Tagen einen Platz bekommen kann. Vielleicht ist Helmut dann schon gar nicht mehr in Norwegen!

Während sie niedergeschlagen vor dem Schalter steht, klingelt hinten im Büro das Telefon. Eine Absage für den nächsten Tag! Lillian bekommt den Platz. Zu Frau Vikestad sagt sie, dass sie für eine Woche nach Oslo zu ihrem Bruder fahren wird.

 

Lillian muss auf der Straße vor dem Osloer Headquarter den Umschlag gleich noch einmal aus ihrer Handtasche nehmen, um ihr Glück fassen zu können. Sie hat sie, die Genehmigung, und darf Helmut im Kriegsgefangenenlager Heistadmoen besuchen. Es ist ihr tatsächlich gelungen, bis zu Colonel Ohlsen vorzudringen. Der amerikanische Offizier ist sehr freundlich, erzählt von seinen norwegischen Vorfahren und stellt, nachdem Lillian ihm von sich und Helmut berichtet hat, sofort eine handschriftliche Sondergenehmigung aus, die besagt, dass das Alliierte Oberkommando in Oslo Miss Lillian Berthung erlaubt, an diesem 27. August den Prisoner of War Dr. Helmut Crott für einige Stunden im Kriegsgefangenenlager Heistadmoen zu besuchen.

Sie eilt zum Bahnhof und fährt mit dem nächsten Zug nach Kongsberg, wo sie sich für ein paar Tage einmietet und eine Landkarte kauft, die Stadt und Umgebung zeigt. Bis Heistadmoen sind es zehn Kilometer, und sie muss zunächst den Bus bis Hedenstad nehmen.

Leider ist der letzte gerade abgefahren. Sagt die Frau am Schalter. Und der nächste kommt erst morgen Nachmittag. Lillian geht die Straße hinunter und überlegt, ob sie sich zu Fuß aufmachen soll. Im Hotel weiß man Bescheid, dass sie einen Tag wegbleiben wird. Den Handkoffer hat sie dort gelassen und nur ihre Reisetasche mitgenommen. Vor einer Apotheke sieht sie einen kleinen Lastwagen. Auf der Ladefläche stehen Milchkannen. Ein alter Mann kommt aus der Apotheke und setzt sich ans Steuer.

»Fahren Sie zufällig in Richtung Hedenstad?«, fragt Lillian. Der alte Mann nickt.

»Darf ich mitfahren? Ich habe gerade den Bus verpasst.« Der alte Mann nickt noch einmal und zeigt nach hinten zu den Milchkannen, denn neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt ein großer Hund.

Lillian muss sich gut festhalten, denn die Straße ist nicht asphaltiert. Der kleine Lastwagen umfährt Schlagloch nach Schlagloch. Irgendwo in dieser Gegend ist Helmut, denkt Lillian zwischen den scheppernden Milchkannen. Und der ahnt nicht, dass sie tatsächlich auf dem Weg zu ihm ist.

Der Fahrer ruft nach hinten durch das offene Rückfenster: »Ich biege gleich rechts ab, Fräulein! Nach Hedenstad geht’s da hinten links.«

Lillian reicht ihm eine Schachtel Zigaretten. Dann ist der Mann mit seinem Wagen weg. Lillian sieht auf die Karte. Noch ein ganzes Stück bis Heistadmoen. Sie hört ein Auto. Ob sie winken soll? Der Wagen hält auch so. Ein junger Mann kurbelt das Fenster hinunter.

»Ich muss nach Hedenstad. Ich habe den Bus verpasst.«

»Steigen Sie ein. Ist meine Richtung.« Lillian lässt sich auf den Beifahrersitz fallen.

»Sie kommen aus Nordnorwegen, nicht wahr?« Lillian sieht den jungen Mann verwundert an.

»Man hört’s an Ihrer Sprache«, sagt er und lacht. »Ich war einmal auf den Lofoten. Großartige Landschaft. Und Sie, was machen Sie hier im Süden?«

»Ich besuche meinen Bruder.«

»Aha«, sagt der junge Mann. Dann überlegt er kurz, tritt auf die Bremse und fährt rechts ran. Lillian erstarrt. Was soll das jetzt werden …

Der junge Mann sieht Lillian nicht an. Er hat beide Hände auf das Lenkrad gelegt.

»Hören Sie, wir kommen gleich an eine Kreuzung. Dort steht die Heimatfront. Die will genau wissen, wer da auf dem Weg nach Heistadmoen ist. Nach Heistadmoen, wo das Gefangenenlager ist. Die sind ganz besonders auf norwegische Mädchen aus, die ihren deutschen Freund im Lager besuchen wollen.« Der Mann schaut Lillian jetzt an, aber sein Blick ist nicht böse. »Haben Sie vielleicht auch einen Freund dort?« Tränen steigen in Lillians Augen. »Ja, sagt sie leise, »habe ich.«

»Dann werden Sie es kaum durch die Wachen schaffen.«

Lillian fasst sich ein Herz. Sie erzählt dem jungen Mann von Helmut. Dass sie mit ihm verlobt ist und ihn seit vielen Monaten nicht mehr gesehen hat. Dass sie nur einen Wunsch hat: ihn noch einmal zu treffen, bevor er nach Deutschland geschickt wird. Und dass sie die Erlaubnis des Alliierten Oberkommandos dazu hat.

Sie zeigt dem jungen Mann das Formular. Der schüttelt den Kopf. »Ich glaube kaum, dass die Heimatfront-Soldaten das Papier akzeptieren werden. Die haben ihre eigenen Bestimmungen.« Lillian ist auf dem Beifahrersitz in sich zusammengesunken. »Wissen Sie was«, sagt der junge Mann. »Legen Sie sich hinten auf den Fußboden. Und nehmen Sie diese Decke. Wenn ich an der Kreuzung angehalten werde, zeige ich meinen Pass und sage einfach, dass ich zu meiner Tante nach Hedenstad will.«

Lillian nimmt die Decke, steigt nach hinten und legt sich hinter die Sitze. Der junge Mann lässt das Auto wieder an. Nach einigen Minuten hört sie ihn leise sagen: »Da ist sie, die Kreuzung. Ich sehe drei Soldaten vor dem Zelt stehen. Sie müssen sich jetzt ganz ruhig verhalten.«

»Halt!« Das muss der Posten sein. Lillian hält den Atem an.

»Wohin wollen Sie?«

»Ich muss etwas abliefern, auf dem Hof meiner Tante in Hedenstad.«

»Ihren Pass.«

Der Soldat von der Heimatfront muss direkt neben dem Auto stehen. So hört es sich jedenfalls an. »In Ordnung. Weiterfahren.« Der Wagen beginnt wieder zu rollen. »Sie können jetzt wieder hochkommen«, sagt der junge Mann nach einer Weile.

Lillian weiß nicht, wie sie ihre Dankbarkeit ausdrücken soll. Sie bittet ihn um seinen Namen und seine Adresse. Vielleicht kann sie ihm später etwas schicken. Er hält an, reicht ihr die Hand und lacht. »Da hinter der nächsten Kurve ist ein Waldweg. Der führt direkt zum Lager. Aber seien Sie um Himmels willen vorsichtig.«

Lillian nimmt ihre Reisetasche und geht den Waldweg entlang, bis sie zu einer Lichtung kommt, die von einem hohen Stacheldrahtzaun durchschnitten wird. Hinter dem Zaun sitzen drei Männer im Gras und spielen Karten. Sind das deutsche Uniformen? Sie sehen so abgerissen aus. Die Schulterstücke und Kragenspiegel fehlen. Und auch der Adler mit dem Hakenkreuz.

Die Männer haben Lillian entdeckt. Sie lassen die Karten sinken und springen auf. »Was macht die denn hier? Weißt die denn nicht, dass es für Zivilisten verboten ist, hier zu sein?«

Lillian lässt sich nicht wegschicken. Sie fragt den Mann auf Deutsch, ob er einen Helmut kennt. Einen Helmut Crott.

»Crott? Klar, kenne ich. Aber den kannst du unmöglich sprechen. Vorm Lagereingang stehen die Norweger. Und die werden dich gleich verhaften.« Er sieht sich nervös um. Seine Kameraden sind wie vom Erdboden verschluckt. Wahrscheinlich haben sie die beiden Norweger von der Heimatfront rechtzeitig gesehen, die nun direkt auf sie zukommen.

»Pass«, sagt der eine. Mehr nicht. Lillian versucht ruhig zu bleiben. Sie gibt dem einen ihren Pass und dem anderen die Erlaubnis des amerikanischen Offiziers. Der wirft nur einen Blick auf das Papier, zerknüllt es und stopft es mit einem Blick der Verachtung in seine Tasche. »Abführen«, sagt er zum anderen. In diesem Augenblick sieht Lillian, wie hinter dem Zaun ein Mann auf sie zuläuft. Es ist Helmut. »Helmut«, ruft sie. »Ich darf nicht zu dir. Sie erlauben es nicht.« Helmut dreht sofort ab.

Die norwegischen Wachsoldaten haben offenbar genug von dem Theater. Sie fassen Lillian am Arm und wollen sie wegziehen. Auf einmal sind die drei Kartenspieler wieder da. Sie haben noch ein paar Kameraden mitgebracht. Sie veranstalten einen ziemlichen Radau hinter dem Zaun. Das lenkt die Norweger ab.

Und da ist auch Helmut. Diesmal auf der anderen Seite des Zauns. Und in Begleitung eines englischen Offiziers. Die norwegischen Soldaten lassen Lillian sofort los. Sie fällt Helmut in die Arme. Beide weinen. Hinter dem Zaun gibt’s lauten Beifall.

 

»Until 11 p.m.«, sagt der Offizier knapp, als sie zum Tor gehen. »Then you have to be back in the barracks, Helmut!« Helmut drückt Lillian an sich. »Ich bin sein Dolmetscher und habe von dir erzählt, und auch gesagt, wie gerne ich dich noch einmal sehen würde, bevor ich nach Deutschland muss.« Er strahlt sie an. »Ich kann nicht glauben, dass du hier bist. Aber es ist doch kein Traum. Es ist wahr! Dass du das geschafft hast!«

Lillian darf im Gästeraum des Offizierskasinos schlafen. Als sie sich am nächsten Morgen von Helmut verabschiedet, können beide kaum sprechen. Schließlich sagt sie: »Ich werde immer auf dich warten, und wenn es 50 Jahre dauert.«

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074.html
part0075.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081.html
part0082.html
part0083.html
part0084.html
part0085.html
part0086.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097.html
part0098.html
part0099.html
part0100.html
part0101.html
part0102.html
part0103.html
part0104.html