Bomben auf Harstad
Frühjahr 1940
Am 20. Mai fährt Lillian mit dem Fahrrad zurück nach Harstad. Sie hat noch einige Lebensmittel zur Hütte gebracht und ist gerade auf der Landstraße, als sie plötzlich Motoren hört. Das tiefe Brummen kommt von oben. Und dann sind die Flugzeuge auch schon da. Ob es die Deutschen sind? Bevor sie darüber nachdenken kann, sieht sie auch schon zwei französische Soldaten. Sie laufen auf sie zu, bedeuten ihr mit Handzeichen, dass sie sich die Ohren zuhalten und in den Straßengraben legen soll. Eine Frau, die zu Fuß auf der Straße unterwegs ist, wird von den Franzosen an den Armen gepackt und in den Graben gerissen.
Dann geht es los. Die Bomben fallen. Zum Glück ein wenig entfernt. Der Lärm ist dennoch ohrenbetäubend. Von allen Seiten erwidern die Alliierten mit Geschützfeuer, erst von Land, dann sind die großen Bofors-Kanonen der Kriegsschiffe zu hören, schließlich die Schnellschusswaffen der Alliierten. Dann ist auf einmal alles wieder ruhig. Die Frau beginnt zu zittern und zu weinen. Lillian versucht, sie zu trösten und zu beruhigen. Die Franzosen geben ihr mit Handbewegungen zu verstehen, dass sie die Frau nach Hause begleiten werden.
Nun überkommt Lillian das Zittern. Ihr Vater. Sie muss nach ihrem Vater sehen. Sie hebt das Fahrrad auf und macht sich auf den Weg in die Stadt.
Sie ist erst eine kurze Strecke gefahren, als wieder Flugzeuge über ihr dröhnen. Wieder schwere Explosionen. Vor ihr, neben ihr, hinter ihr. Lillian wirft das Fahrrad weg und läuft zu einem nahen Schulgebäude, um dort Schutz vor den Bomben zu finden. Hier warten bereits andere, die der Angriff ebenfalls überrascht hat. Immer neue Angriffe fliegen die Bomber, sodass es allen wie eine Ewigkeit vorkommt, bis die Luftschutzsirene aufheult und endlich das Entwarnungssignal gibt.
Lillian muss nun nach Harstad. Sie muss wissen, wie es ihrem Vater geht. Unterwegs hört sie, dass der Hafen in Harstad einem Feuermeer gleicht. Und dass es in der Stadt überall brennt.
Lillian tritt in die Pedale, sie nimmt eine Abkürzung und ist nun endlich in der Halvdansgate – Gott sei Dank, das Haus ist unbeschädigt, aber die Tür ist verschlossen und Vaters Wagen weg. Sie fährt weiter, was nicht einfach ist, denn die Straßen sind voll mit Menschen, die verzweifelt versuchen, aus der Stadt zu kommen, alle tragen irgendetwas, einige weinen laut, und Mütter drücken ihre kleinen Kinder an sich.
An der Stadtgrenze sieht Lillian plötzlich das Auto ihres Vaters vor einem Haus stehen.
»Lillian, du musst sehen, dass du hier wegkommst, bevor neuer Alarm kommt!« Es ist Lillians Lehrerin, die das ruft.
»Ich suche meinen Vater, haben Sie ihn gesehen?«
»Er steht da hinten, er sucht dich.«
Lillian fällt dem Vater erleichtert in die Arme. Dann laufen sie zusammen zum Auto. Eine Frau, die ihr weinendes Kind auf dem Arm trägt, fragt, ob sie ein Stück mitfahren kann. Es ist Frau Jörgensen, die die Berthungs schon lange kennen. Lillian setzt sich nach hinten und nimmt das kleine Mädchen auf den Schoß. Das Kind beruhigt sich allmählich und schläft nach ein paar Minuten ein. Der Vater spricht leise mit Frau Jörgensen.
»Das Grand Hotel, in dem die Alliierten ihre Büros haben, ist getroffen, ich habe es brennen sehen, als ich vorbeifuhr.«
»Verdammter Krieg, verdammte Deutsche …« Frau Jörgensens Mann ist irgendwo an der Front, und sie hat schon über zwei Wochen nichts von ihm gehört. Nach 20 Minuten sind sie am See angekommen. Frau Jörgensen geht mit ihrem Mädchen zu Fuß weiter. Lillian und ihr Vater eilen hinunter zum See. John schiebt den Kahn ins Wasser. Die Ruderblätter bringen Bewegung in den stillen Steinsåsvann. Lillian nimmt die Ruhe nach dem Getöse und Geschrei der letzten Stunde nun ganz besonders wahr.
»Wie schön und friedlich es hier ist …«
Ihr Vater spricht wohl mehr zu sich selbst. Seine Stimme klingt gebrochen. Lillian weiß, als er sein Gesicht abwendet, dass sie seinen Kummer nicht sehen soll.
Am Bootssteg wartet die Mutter mit Pus und Bjørn. Als sie hört, was ihr Mann und ihre älteste Tochter erlebt haben, beginnt sie zu weinen. »Dass wir jemals in Harstad so etwas erleben müssen! Krieg in unserem Norwegen!« Sie drückt Pus und Bjørn an sich: »Wenn nur John wieder zu Hause wäre!« Sie muss sich damit abfinden, dass ihr Ältester von dem freiwilligen Einsatz immer noch nicht zurückgekehrt ist.