Mit Ilse in Zeitz
Mai 2011
Am 22. Mai 2011 hole ich Frau Kassel morgens in Krefeld ab. Sie kommt mit einem kleinen Rollkoffer aus dem Haus. Und mit einem blauen Beutel: »Hier ist Proviant für uns drin!« Wir sind auf dem Weg nach Zeitz, wo wir zwei Tage bleiben werden. Zeitz liegt an der Weißen Elster im Süden von Sachsen-Anhalt, 40 Kilometer von Leipzig entfernt.
Frau Kassel macht sich nun mit ihren mittlerweile 86 Jahren zum dritten Mal in ihrem Leben nach Zeitz auf. Das erste Mal hat sie die Gestapo dorthin gebracht, das war 1944. Das zweite Mal ist sie 2002 in Zeitz gewesen. Ganz allein. Und aus eigenem Willen. »Es war zwar nicht leicht für mich, aber ich wollte diesen Ort noch einmal sehen.« Ein drittes Mal sollte es eigentlich nicht geben.
In der letzten Nacht habe sie nicht besonders gut geschlafen, sagt sie, nachdem sie zu mir ins Auto eingestiegen ist. Umso dankbarer bin ich, dass sie jetzt, 2011, die Reise in die Vergangenheit noch einmal auf sich nehmen will.
Unsere Reise soll auch nach Minkwitz gehen, der ersten Station nach dem Abtransport aus Düsseldorf. Nach fünf Stunden haben wir Zeitz erreicht. Wir quartieren uns in einem Gasthof am Markt ein. Schon auf der Fahrt durch die Stadt passt es nicht zu meinen Gefühlen, dass Zeitz ein hübscher Ort ist. Mit restaurierten Häusern und hellen Plätzen.
Abends sitzen wir in der Gaststube zusammen und Frau Kassel bietet mir das Du an. Ich freue mich, weil ich mich ihr nah fühle und es für mich so ist, als wäre ich mit meiner Großmutter hier.
In der Geschwister-Scholl-Straße 11, der früheren Naetherstraße, stehen wir am nächsten Morgen vor einem dreistöckigen Backsteinhaus. Der stark verfallene Bau ist einmal die katholische Volksschule gewesen, dahinter, umringt von hohen Bäumen, stehen immer noch Kirche und Pfarrhaus. Hier hat Pfarrer Clemens Wittelsbach gewohnt, einer der vielen unbekannten deutschen Helden. Er hat im Herbst 1944 mit seinem Amt und seiner Person dafür gekämpft, dass einige der zunächst nach Minkwitz verschleppten Frauen, darunter auch Ilse Kassel, ihre Mutter und meine Großmutter, in den Räumen seiner Kirche in Zeitz unterkommen konnten. Die, die er nicht mehr aus den Klauen der Gestapo befreien konnte, kamen in die Lager nach Halle und Berlin oder gleich nach Theresienstadt.
Die längst zerborstenen Glasscheiben der verwitterten hellgrünen Holztür sind mit Pappe vernagelt. Ich gehe die Stufen zum Eingang hoch und versuche, durch das Schlüsselloch etwas zu erkennen. Ich sehe eine kleine Treppe und einen Flur. Meine Großmutter ist durch diese Eingangstür gegangen, die Treppe hoch und dann durch diesen Flur.
Ilse Kassel kann sich nicht mehr erinnern, wie sie damals von Minkwitz hierhin gekommen sind, aber in der »Chronik der Diasporapfarrei Zeitz« lesen wir später, dass »am Abend vor dem Allerheiligenfeste 1944 32 Frauen und Mädchen in Lastwagen hier ankamen und sich im Erdgeschoß der Schule einrichteten.«
Wir gehen um das Haus herum. Im Hochparterre reihen sich vier Fenster aneinander, zwei davon mit Eisenplatten versperrt, eines mit einer hellen Holzplatte, das vierte ist zugemauert. Vor dem Haus ein Wiesenstück, eingefasst von einem hohen Drahtzaun. »Früher war hier eine hohe Mauer, und die Wiese war ein Hof. Da durften wir uns aufhalten, aber es war ja viel zu kalt. Hinter den Fenstern waren die zwei Zimmer, in denen wir untergebracht waren«, sagt Ilse. »Es war sehr eng, und wir schliefen in durchgelegenen Hochbetten. Die Tür dort führte in den Garten des Pfarrhauses. Wenn sie aufging, wussten wir, dass wir Hilfe und Trost bekommen würden. Pfarrer Wittelsbach hat wirklich alles versucht, um uns das Leben zu erleichtern.«
Auch seine Haushälterin tat, was sie konnte. Auf alle Fälle mehr, als sie durfte: Sie öffnete Ilse die Tür ins Pfarrhaus und ließ sie mit einer Freundin telefonieren, die im Fernmeldeamt Krefeld arbeitete und ihren Aufenthaltsort herausgefunden hatte.
Ich habe die Briefe, die meine Großmutter aus Zeitz an meinen Vater geschrieben hat, mitgenommen und hole den vom 28. November 1944 aus der Tasche:
Wie sich mein Leben hier abspielt, wirst du ja aus Wuppertal erfahren haben. Leider dürfen wir jetzt nur noch alle vierzehn Tage schreiben und auch nur in dieser Zeit Briefe empfangen, die beiderseits durch die Zensur gehen müssen. Im Winter ist das Lagerleben auch insofern weniger erfreulich, weil man durch die früher eintretende Dunkelheit weniger unternehmen kann, sei es durch Handarbeiten, Schreiben oder Lesen, da man durch die ziemlich hoch angebrachten Lampen kein günstiges Licht erhält … Indem ich Dich noch bitte, gelegentlich die kleine Hun vielmals von mir zu grüßen, verbleibe ich mit vielen guten Wünschen und Grüßen stets Deine halbe Portion.
Ich stelle mir meine Großmutter hinter diesen Fenstern vor und bin sehr bedrückt. Gleichzeitig spüre ich, wie neben mir Ilse das Herz schwer geworden ist. »Früh am Morgen wurden wir von einer mit Gewehren bewaffneten Truppe zur Arbeit in die Oberstadt gebracht«, sagt sie, »zur Werner-Gerhardt-Schule am Steinsgraben, wo die ›Organisation Todt‹ stationiert war.«
Dann zeigt Ilse mir den Weg, den sie jeden Morgen mit den anderen Frauen gegangen ist. Ilse geht diesen Weg sehr langsam und ihr Gesicht sagt mir, dass es für sie nun Schritt für Schritt in die Vergangenheit geht.
Als wir die Messerschmiedestraße erreichen mit ihren Katzenköpfen, jenem buckeligen Kopfsteinpflaster aus Blaubasalt, das mit seinen unregelmäßigen Fugen das Tausendjährige Reich und die DDR überdauert hat, bleibe ich stehen und lese Ilse vor, was meine Großmutter am 19. Januar 1945 geschrieben hat:
Mein lieber, guter Junge, für Deine lieben Zeilen danke ich Dir vielmals. Du wirst es schon ermessen können, was es für mich bedeutet, von Dir zu hören. Wie Du wohl schon erfahren hast, habe ich mich im Großen und Ganzen den Verhältnissen angepasst, zumal ich mit 3 unserer Damen einen netten Kreis gefunden habe. Was weniger schön ist, daß ich mir meinen rechten Fuß durchgetreten habe, da das Zeitzer Pflaster derart holprig ist, daß man wie auf Nadeln geht! Der Weg vom Lager zur Arbeitsstätte beträgt eine Viertelstunde, und frühmorgens um halb 6 Uhr sowie auch abends sieht man in der Dunkelheit nicht, wo man hintritt, und so ist das Malheur entstanden. Du kannst Dir denken, daß diese körperliche Behinderung, ich muß stark humpeln, nicht günstig auf meine Stimmung wirkt, doch gebe ich mir die allergrößte Mühe, mich nicht unterkriegen zu lassen. Bist Du mit mir zufrieden?
Ich gehe neben Ilse die steile Straße hoch, mache Aufnahmen von dem Kopfsteinpflaster und den alten Häusern und denke: Was die Menschen hinter diesen Fenstern wohl damals gedacht haben, als sie Morgen für Morgen diese bewachte Frauen-Kolonne an ihren Häusern vorbeiziehen sahen?
Und vor allem – was hat meine Großmutter gedacht und gefühlt? Wie verloren ist sie sich vorgekommen? Wie viel Angst hat sie gehabt? Für einen Moment ist es so, als gingen wir diesen Weg gemeinsam. Für einen Moment scheint es mir, dass ich ihr dadurch noch nachträglich etwas abnehmen, auf mich nehmen kann. Dass ich für sie da bin. Damals aber hatte meine Großmutter meinen Großvater an ihrer Seite. Zum Glück. Er konnte sie zumindest ein paar Mal in Minkwitz und Zeitz besuchen, und ohne ihn wäre sie wohl an ihrem Schicksal verzweifelt.
Seinen Brief Nr. 56 vom 3. Januar 1945 lese ich heute noch im tiefen Respekt vor diesem Mann, der seine Frau entgegen allen Forderungen der Zeit einfach nicht aufgeben wollte:
Seit Freitag bin ich wieder in Wuppertal. Meinen Brief aus Zeitz wirst Du inzwischen erhalten haben. Was ich nicht geschrieben habe, ist mein Erschrecken gewesen, als ich bei meiner Ankunft die halbe Portion in nur wenigen Wochen stark gealtert vorfand. Das Gesicht drückte Angst und Sorge aus. Bei meiner Abreise verließ ich eine ganz andere halbe Portion. Sie hat jetzt einen, wenigstens bei der OT, sicheren Halt an dem Lagerführer, mit dem ich immer wieder über die halbe Portion gesprochen habe. Die halbe Portion ist ermächtigt, was sonst verboten ist, sich unmittelbar an den Lagerführer zu wenden, wenn sie sich nicht stark genug fühlt, den Dienst und vor allem den langen und steilen Weg zur Arbeitsstätte zu machen. Auf keinen Fall kommt eine Zurverfügungstellung in Frage.
Ilse und ich sind an der damaligen Werner-Gerhardt-Schule angekommen und gehen um das riesige Haus herum, um irgendwo durch die dichten Büsche hindurch einen Blick über die Mauer in den Garten werfen zu können.
»Da ist die Küche«, ruft Ilse und zeigt auf die Reste einer Baracke, in deren vorderem Teil noch weiße Kacheln zu erkennen sind.
»Das war damals schon so ein provisorischer Bau, wo wir zusammen mit russischen Frauen meistens Kartoffeln schälen mussten, die wir aus dem eiskalten Wasser fischten. Dabei saßen wir auf Kartoffelsäcken, und es hat immer so gezogen von hinten, denn das Ganze war damals schon nur ein Rohbau und hatte gar keine Türen.« Ilse schüttelt den Kopf. Kaum zu fassen, dass alles noch genauso aussieht wie damals. Jeder Stein könnte erzählen, wie es war. Aber Steine reden nicht.
Ein paar Stunden später sind wir in Minkwitz. Auch in Minkwitz war ich noch nie. Ilse ist hier allerdings schon einmal gewesen. Damals, im Herbst 1944. Wieder stehen wir vor einem verfallenen Haus. Es ist das alte Wirtshaus gleich an der Hauptstraße. Im September 1944 trifft man sich hier zum Bier. Trotz des Krieges. Trotz der Ostfront. Und trotz der 160 Mädchen und Frauen, die im Hinterhaus auf dem Tanzboden zusammengepfercht sind. »Die Judenfrauen«. So heißen sie im Dorf. Bewacht von Männern der »Organisation Todt«. Der Wirt Max Meinhardt, selbst kein Nazi, war gezwungen worden, die jüdischen Frauen unterzubringen.
Die Fenster des ehemaligen Tanzsaales stehen jetzt offen. Efeu wuchert hinein. Zwei Säulenreihen teilen den Raum bis zur kleinen Bühne. Ich drehe mich um. Ilse kommt zögernd durch die Tür. Sie macht ein paar Schritte über den Schutt, mit dem hier alles übersät ist. Und zeigt auf eine Stelle rechts neben der Bühne. »Da«, sagt sie, »da haben wir gelegen. Meine Mutter und ich. Genau da.« Und, nach einer Pause: »Auf Strohsäcken. Und unsere Schlafsäcke hatten vorher schon andere benutzt.«
Ilse kommt mir auf einmal so klein vor. Viel kleiner, als sie in Wirklichkeit ist. Ich lege den Arm um sie, drücke sie an mich und fühle mich dabei doch schlecht, sehr schlecht, weil ich sie hierhergebracht habe.
»Das Essen kam aus einer Gulaschkanone. Die hygienischen Verhältnisse waren eine Katastrophe. Ich hatte Flöhe, meine Mutter hatte Kopfläuse, es war furchtbar.«
Ich habe das Gefühl, dass Ilse jetzt lieber alleine sein möchte, und gehe hinaus.
Als wir abends wieder in der Gaststube sitzen, merke ich, wie sich die Anspannung bei ihr nur langsam lösen will. Für Ilse sind diese beiden Tage in Zeitz besonders bitter gewesen, weil ihre Mutter im Februar 1945 dann doch noch nach Theresienstadt verschleppt wurde, wo sie nach der Befreiung gestorben ist. Sie hatte sich freiwillig zur Krankenpflege gemeldet und mit Typhus infiziert.
Am nächsten Tag gehen wir in die Kirche, um Kerzen für den tapferen Pfarrer Wittelsbach und seine Haushälterin aufzustellen.
Kurz nach unserer Reise bekomme ich einen Brief von Ilse: »Der Stadtschreiber von Zeitz will uns bei dem Bemühen helfen, die Benennung einer Straße oder eines Platzes zum Gedenken an Clemens Wittelsbach zu erreichen. Aber jetzt muss ich endlich wieder loskommen von Zeitz und den Erinnerungen.«