Hausdurchsuchung
Februar 1944
»Morgen müssen Sie mit der Feldgendarmerie als Dolmetscherin bei einer Hausdurchsuchung dabei sein, Fräulein Berthung. Es gibt eine ganze Reihe von Diebstählen, und wir müssen die Täter finden.«
Mit Schrecken hört Lillian von Unteroffizier Ascher, wie man sie einzusetzen gedenkt. Sie ahnt, was eine solche Hausdurchsuchung bedeutet.
»Um 9 Uhr geht das Motorboot. Seien Sie pünktlich!«
Sie dreht sich von seinem Schreibtisch weg und fühlt, wie er ihr wieder nachschaut. Lillian sind die Blicke des Unteroffiziers unangenehm. Genauso wie seine ständigen Versuche, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Vor allem über Dinge, die ihn nichts angehen. Neulich wollte er sogar wissen, welche Kleidergröße sie hat.
Eine Stunde später muss sie noch einmal in das Dienstzimmer von Ascher, um ihn etwas unterschreiben zu lassen. Ascher telefoniert gerade, als sie eintritt. Lillian sieht auf seinem Schreibtisch den Befehl für die Hausdurchsuchung liegen. Es gelingt ihr, den Namen zu lesen. Sie kennt diese Familie. Die Leute wohnen auf der anderen Seite des Fjordes. Ob es noch möglich ist, sie zu warnen?
Ascher hat sein Gespräch beendet. Er unterschreibt das vorgelegte Formular. Lillian darf wieder zurück in das Geschäftszimmer. Auf die Übersetzung, die heute noch fertig werden soll, kann sie sich nicht konzentrieren. Stattdessen greift sie nach dem Telefonbuch und sucht die Nummer der Familie. Aber die scheint kein Telefon zu haben. Vielleicht der Nachbar? Der Lehrer Finseth? Lillian findet Finseths Namen tatsächlich im Telefonbuch und schreibt die Nummer auf einen kleinen Zettel, den sie in ihrer Handtasche verschwinden lässt. Aber von wo aus soll sie anrufen? Von der Kommandantur? Unmöglich.
Es dauert noch eine Stunde, bis das Büro schließt. Lillian ist nervös und aufgeregt. Sie muss versuchen, die Familie zu warnen! Falls man dort etwas findet, würden alle verhaftet werden. Von zu Hause kann sie auf gar keinen Fall anrufen, denn vielleicht werden ja auch private Gespräche abgehört. »Ich muss zum Telegrafenamt«, beschließt sie. Einige Minuten nach Dienstschluss steht sie vor dem Gebäude im Zentrum der Stadt. Es ist dunkel, Wind und Schneeregen peitschen durch die Straßen. Außer der Angestellten hinter der Theke ist niemand im Raum. Lillian gibt der Frau die Nummer. Dann geht sie in eine der Kabinen. Sie hört, wie es am anderen Ende der Leitung läutet, dann meldet sich die Frau des Lehrers.
»Guten Abend, Frau Finseth, können Sie bitte so freundlich sein und Ihre Nachbarin Frau Borgens ans Telefon holen? Ich muss wirklich sehr dringend mit ihr sprechen.«
Lillian fühlt, wie ihre Hand zittert. Als Frau Borgens endlich ans Telefon kommt, verstellt Lillian ihre Stimme: »Frau Borgens, Sie und Ihre Familie bekommen bald Besuch, vielleicht schon morgen früh. Ich hoffe, es passt und bei Ihnen ist alles ist in Ordnung. Heutzutage geschieht ja so vieles …« Es ist still am anderen Ende der Leitung. Lillian legt den Hörer auf, bezahlt das Gespräch und verlässt schnell das Gebäude. Draußen atmet sie tief durch. Sie ist froh und erleichtert, dass sie so gehandelt hat. Es bleibt nur die Unsicherheit, ob Frau Borgens sie wirklich verstanden hat.
Die Barkasse legt am nächsten Morgen pünktlich um 9 Uhr im Hafen ab. Lillian hat sich lange Hosen und Lederstiefel angezogen. Die Jacke aus Schafsfell und die Pelzmütze schützen sie vor dem starken Wind und der Kälte.
Außer dem norwegischen Bootsführer sind noch zwei Feldgendarme mit an Bord. Lillian kennt ihre Uniformen nur zu gut, seitdem Helmut an der Bushaltestelle von ihnen abgeführt worden ist. Das Boot nimmt Fahrt auf, die Gischt schäumt über den Bug. Lillian hockt in einer Ecke neben der Kajüte des Bootsführers. Sie fühlt seinen mürrischen Blick. Bestimmt hält der Mann sie für eine Verräterin, weil sie mit diesen Deutschen gekommen ist. Die beiden Feldgendarme sitzen achtern auf einer Bank. Über ihnen weht die Reichskriegsflagge. Wenn Lillian nur verstehen könnte, was sie sagen. Anscheinend geht es um die verschwundenen Elektrogeräte. Aber der Wind verweht ihre Worte.
Nach einer halben Stunde Fahrt ist die kleine Kaianlage auf der anderen Seite des Fjords erreicht. Ein paar Anwohner beobachten, wie sie an Land klettern, und Lillian ist es sehr unangenehm, dass sie zusammen mit den Deutschen gesehen wird. Die beiden Feldgendarme gehen vor ihr. Der eine ist ihr schon von Anfang an besonders unangenehmen aufgefallen, ein Untersetzter, der aussieht, als ob er hart und brutal zuschlagen kann, wenn es darauf ankommt.
Die Küchentür des weiß getünchten Hauses steht offen. »Polizei«, ruft der Untersetzte. Eine kleine Frau erscheint. Ja, sie ist Frau Borgens. Lillian übersetzt, warum die Männer gekommen sind.
»Nun, mein Sohn arbeitet in einem deutschen Lager, aber ich habe nie gesehen, dass er elektrisches Material mit nach Hause gebracht hat.«
Der Untersetzte will sich nicht länger aufhalten lassen. Er schiebt Frau Borgens zur Seite, geht ins Wohnzimmer und beginnt mit der Hausdurchsuchung. Das Sofa wird von der Wand geschoben, jedes Kissen herumgedreht. Dann ist der Eckschrank an der Reihe. Bücher fliegen aus den Regalen. In der Küche wird der Backofen untersucht. Und die Pfannen und die Töpfe.
Lillian versucht, Frau Borgens entsetzten Blick aufzufangen, aber die schaut nur an ihr vorbei. Lillian würde ihr so gerne irgendwie zu verstehen geben, dass sie das gestern Abend am Telefon war, aber das ist natürlich nicht möglich.
Die Feldgendarmen sind inzwischen im Schlafzimmer der Borgens angekommen, sie heben die Matratzen hoch, werfen Unterwäsche und Handtücher aus den Schränken auf den Boden, finden aber nichts.
»Was ist das für eine Tür?« Lillian übersetzt.
»Das ist der Einstieg zum Keller.« In den Kellerräumen heben die Deutschen Kisten und Schachteln hoch und treten gegen einen Eimer. Kartoffeln kullern über den Boden. Nichts zu finden. Die Feldgendarmen fluchen. »Wir werden euer Diebesgut schon noch finden, wartet nur ab.« Auch das muss Lillian übersetzen. Dann ist die Hausdurchsuchung endlich vorbei.
Ein eisiger Wind ist aufgekommen und treibt den Schnee über den Kai. Der Bootsführer kann nur mit großer Mühe das Boot am Steg halten, damit Lillian und die beiden Feldgendarme wieder an Bord gehen können. Plötzlich rutscht der Untersetzte auf der glatten Bootskante aus. Erst im letzten Augenblick kann ihn der Bootsführer greifen und an Bord ziehen. Als Lillian die Angst in den Augen des Untersetzten sieht, fühlt sie Schadenfreude in sich aufsteigen.