Annie erfährt von Lillians Beziehung zu einem Deutschen

Juli 1942

 

Lillian muss jetzt mit einem Geheimnis leben. Nach außen darf sie sich nichts von dem anmerken lassen, was sie von Helmut bei seinem überraschenden Besuch in der Halvdansgate erfahren hat. Aber innerlich ist sie sehr aufgewühlt. Was passiert mit Helmut, wenn die Sache mit den Formularen doch noch entdeckt wird? Wird er dann verhaftet werden? Kommt er in ein Lager? Oder wird er sogar erschossen? Soll sie ihm Kleidung von ihrem Vater oder ihrem Bruder geben, damit er nach Schweden fliehen kann? Wird er dazu falsche Papiere brauchen? Und wie kommt man an die? Sie hat so viele Fragen. Und keine Antworten. Sie kann, sie darf sich ja niemandem anvertrauen. Auch ihrer Freundin Blanche nicht.

Beim nächsten Treffen an ihrem Platz am Meer zeigt Lillian mehr Zuversicht, als sie tatsächlich besitzt. Sie will Helmut ermutigen, nicht entmutigen. »Es wird alles gut werden, min kjæreste.« Aber sie will auch noch mehr von ihm und seiner Familie wissen.

»Du musst mir von deiner Mutter erzählen. Wie ist es jetzt für sie in Deutschland? Und wie groß ist die Gefahr tatsächlich für sie?«

»Schwer zu sagen. Bis jetzt ist meine Mutter durch die Ehe mit meinen Vater weitgehend geschützt. Mein Vater ist katholisch und«, Helmut hustet, »Arier.«

Lillian wiederholt das Wort in der klaren norwegischen Luft dieses Abends. Es klingt so albern.

»Andererseits hat mein arischer Vater seine Stelle bei der Bahn verloren, weil er mit einer Jüdin verheiratet ist.«

Lillian will nachfragen, aber Helmut ist in seinen Gedanken weit weg. »Seit einem Jahr muss meine Mutter diesen gelben Stern am Mantel tragen, wenn sie das Haus verlassen will. Der Stern muss gut sichtbar sein. Sie hat ihn sich allerdings auf die Innenseite des Kragens genäht. Das hat sie einfach so getan, die halbe Portion.«

Helmuts Blick geht hinaus aufs Meer. »Sie darf nicht mehr Straßenbahn fahren, sie darf in kein Restaurant mehr gehen. Aber das ist noch nicht das Schlimmste.«

Ein paar Meter weiter streiten sich die Möwen um irgendetwas, was das Meer an den Strand gespült hat. Vielleicht eine Krabbe. Oder ein toter Fisch. Eine Möwe sitzt am Boden, mit gespreiztem Gefieder, die andern fliegen immer wieder auf und versuchen sie zu vertreiben.

»Früher sind meine Eltern am Samstag gerne mal in den Kaiserhof gegangen, das ist ein Restaurant bei uns zu Hause in Wuppertal. Dann wurde meinem Vater eines Tages gesagt: ›Sie dürfen gerne hinein, aber Ihre Frau nicht.‹ Und jetzt ist es so, dass meine Mutter überhaupt nicht mehr ausgehen möchte.«

»Und das ist das Schlimmste?«

»Nein«, sagt Helmut. »Das Schlimmste ist, dass meine Mutter sich die Schuld gibt. Die Schuld an allem.« Am Strand sind die Möwen auf einmal verschwunden. Die Krabbe, oder was immer es gewesen ist, haben sie dort liegen lassen.

»Dein Vater hat seine Stelle verloren, weil er mit einer jüdischen Frau verheiratet ist?«

»Nun ja. Vor der Entlassung hat man ihm gewisse Möglichkeiten eingeräumt.« Helmuts Stimme klingt auf einmal anders. Lillian fragt nach, ob sie es auch richtig verstanden hat.

»Gewisse Möglichkeiten?«

»Nun, man hat ihm vorgeschlagen, sich doch einfach von seiner Frau scheiden zu lassen. Sich selbst sozusagen frei zu machen und seine Frau der Fürsorge des Reiches zu überlassen.« Helmut sieht Lillian an und merkt, dass sie seine Ironie nicht verstehen kann. Er ändert seinen Ton. Er darf ihr das alles nicht zu schwer machen, sie ist doch noch so jung. Und kann sich, was in Deutschland wirklich passiert, vermutlich kaum vorstellen. »Das kam natürlich für meinen Vater überhaupt nicht in Frage. Und so wurde er eben von heute auf morgen arbeitslos.«

Lillian ist erschüttert. »Das ist grauenhaft, Helmut. Und ich weiß gar nicht, wie ich dir helfen kann, das alles auszuhalten.«

Er nimmt sie in seinen Arm und drückt sie an sich. »Du hast mir schon geholfen.«

»Wieso?«

»Es gibt dich. Das hilft mir mehr als alles andere …«

 

Einige Wochen später sitzt Lillian in der Halvdansgate über ihren Büchern. Buchhaltung ist schwer, besonders wenn der Kopf woanders ist. Annie, die mit der Vorbereitung des Essens beschäftigt ist, sieht über die Pfannen und Töpfe immer wieder hinüber zu ihrer Tochter.

»Was ist los, Nuri?«, sagt sie schließlich. »Du bist in der letzten Zeit so still geworden. Hast du Schwierigkeiten in der Schule?«

»Nein, ich bin nur oft etwas müde. Vielleicht der Vitaminmangel.«

»Ja, du hast recht, wir haben viel zu wenig Obst und Gemüse«, antwortet Annie eher beiläufig. »Ein Segen, dass wir wenigstens ab und zu unseren Fisch haben.«

Plötzlich zieht Lillians Mutter ihren Topf mit einem Ruck vom Feuer. »Lillian«, sagt sie. »Heute Vormittag war Tante Wally hier und hat mir erzählt, dass dich jemand mit einem deutschen Soldaten gesehen hat. Sie war ganz aufgebracht und meinte, wir sollten es wissen. Ich frage dich – ist das wahr?«

Lillian weiß, dass sie ihre Mutter nicht länger anlügen kann. »Ja, Mama, das stimmt. Ich habe Helmut mehrere Male getroffen. Wir haben uns lieb.« Lillian fühlt eine ungeheure Erleichterung. Jetzt ist es heraus. Endlich.

Aber Annie ist entsetzt. »Lillian, Helmut mag vielleicht ein guter Mensch sein, aber er ist ein Deutscher! Du kannst sicher sein, dass auch Vater keine Verbindung zwischen dir und diesem deutschen Soldaten will, auch wenn er und sein Kamerad schon oft bei uns gewesen sind.«

»Du willst es doch nicht Papa erzählen?«

»Natürlich werde ich das. Und du solltest darüber nachdenken, ob du nicht gerade dabei bist, etwas zu tun, was du später bereuen wirst. Und außerdem, was glaubst du eigentlich, was Tore denken wird, wenn er das erfährt?«

»Wir haben lange nichts voneinander gehört. Als ich ihm in meinem letzten Brief von Helmut erzählt habe, bekam ich von ihm keine Antwort mehr.«

Annie scheint jetzt wirklich wütend geworden zu sein. Sie hat den Topf zurück auf das Feuer geschoben und rührt nun mit dem Kochlöffel darin herum. »Ich kann Tore nur zu gut verstehen, Lillian. Er hat gegen die Deutschen gekämpft, und du schreibst ihm allen Ernstes, dass du dich mit einem Wehrmachtsoldaten eingelassen hast. Mein Gott, Lillian, was ist denn bloß in dich gefahren?« Annie rührt heftig in dem Topf. Warum musste ihr Mann damals nur diese Deutschen auf die Hütte einladen.

Lillian ist froh, dass sie ihrer Mutter endlich die Wahrheit gesagt hat, aber sie weiß jetzt auch, dass ihre Eltern Helmut nie akzeptieren werden.

Wenn ich ihnen nur erzählen könnte, was wirklich mit Helmut ist! Und dass er solche Angst um seine Mutter hat, denkt Lillian verzweifelt, dann würden sie mich verstehen und ihn mit anderen Augen sehen.

Aber sie hat Helmut ihr Versprechen gegeben. Und sie wird es halten, um jeden Preis.

 

Lillian ist zum ersten Mal in ihrem Leben in einen Konflikt mit ihren Eltern geraten, und das macht ihr das Herz schwer. Sie liebt ihre Eltern und möchte ihnen keinen Kummer machen, aber sie wird sich nicht von Helmut trennen. Wenn er doch nur wieder bei ihr wäre! Helmut ist schon seit fast drei Wochen mit seiner Kompanie weiter im Norden, und es sieht ganz danach aus, dass seine Abwesenheit noch länger dauern wird.

Als sie an einem Mittwoch Anfang September zur Post geht, ist er endlich da. Der Brief ohne Absender, postlagernd. Genau wie sie es vorher abgesprochen hatten. Sie streicht zärtlich über den Umschlag, läuft dann schnell nach Hause und öffnet ihn erst in ihrem Zimmer:

 

Meine liebe Lillian, jeden Tag habe ich versucht, ein bißchen Zeit für mich zu finden, aber es war fast unmöglich. Endlich kann ich diese Zeilen schreiben. Du bist so oft in meinen Gedanken, und ich habe so ein starkes Gefühl für Dich. Es ist schwer für mich, daß ich Dich in keiner Weise beschützen kann. Durch mich trägst Du nun eine schwere Last auf Deinen jungen Schultern. Hast Du genug Kraft dafür? Ich plage mich mit dem Gedanken an Deine Zukunft. Ist es richtig, daß Du dich an mich bindest? Du bist in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen, und jetzt nimmst Du Anteil an meiner Lebensgeschichte. Ich frage mich, ob es richtig war, daß ich Dir alles erzählt habe? Aber gleichzeitig weiß ich, daß Du der einzige Mensch bist, dem ich mich anvertrauen kann. Deine Reaktion auf all das ist für mich wie eine »Wundermedizin« nach all den Diskriminierungen. Verdiene ich Dich, Lillian? Das Schicksal hat es vielleicht doch gut mit mir gemeint. Ich weiß nicht, wann wir zurückkommen, ich sehne mich nach Dir, heute und immer. Dein ferner Helmut.

 

Wie gut ihr diese Worte tun. »Meine Treue zu dir kann keine Macht der Welt zerstören«, sagt Lillian leise und drückt den Brief an ihre Wange.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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