Reise an den Anfang

Juni 2009

 

Den schwarzen Rucksack mit dem roten Rand habe ich ins Gepäckfach über meinem Sitz gelegt. In dem Rucksack befindet sich, sorgfältig eingewickelt in zwei Handtücher, eine Urne. Es ist die Urne mit der Asche von Helmut Crott, meinem Vater.

30 Minuten nach dem Start meldet sich eine Stimme aus dem Cockpit, aber das Rauschen des Lautsprechers lässt mich die Ansage nur in Bruchstücken verstehen: »Her er flykaptein Hansen … vil lande planmessig … ønsker dere en behagelig flytur.«

Meine Mutter und ich sind unterwegs nach Nordnorwegen. Der Flug ist ruhig, und tief unten zieht unter weißen Wolkenfetzen jene Landschaft vorbei, deren Schönheit eigentlich zu groß für Menschen ist. Das blaue Meer scheint mit der langen zerklüfteten Küste zu spielen, und wie immer, wenn ich diesen Anblick genieße, fühle ich so etwas wie Stolz, dass auch ich zu diesem Land gehöre. Die Maschine ist bis auf den letzten Platz besetzt, und fast alle Passagiere sind Norweger. Das ist eigentlich immer so zwischen Oslo und Evenes. Wie oft bin ich diese Strecke geflogen! Als ich einmal in letzter Sekunde und völlig außer Atem ins Flugzeug stürzte, war die Maschine voll mit norwegischen Soldaten, die mich, weil mein Name offenbar oft genug ausgerufen worden war, fröhlich begrüßten: »Heia, Miss Crott!«

Vorne beginnt die Stewardess mit dem Servieren der Getränke. Die meisten wählen Kaffee, denn Norweger lieben Kaffee und trinken ihn eigentlich rund um die Uhr. Im Sommer auch nach Mitternacht, wenn die Nächte im Norden hell sind und man sowieso nicht ins Bett will.

Während des Fluges schaue ich immer wieder dorthin, wo der schwarze Rucksack mit der Urne liegt. Als ich der Frau am Schalter der SAS in Oslo die Überführungspapiere gezeigt hatte, war ihr warmer Blick für mich fast wie eine Umarmung gewesen.

Meine Mutter sitzt mit geschlossenen Augen neben mir und greift ab und zu nach meiner Hand. Mir tut es weh, dass sie so traurig ist, und ich merke, wie sich ihre Trauer über meine eigene legt.

Wir fliegen nach Harstad, einer Hafenstadt auf Hinnøy, der größten Insel Norwegens, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, denn jetzt gilt es das zu tun, was sich meine Eltern schon vor vielen Jahren gegenseitig versprochen hatten: dass ihre Grabstätte einmal dort sein wird, wo sich das norwegische Mädchen und der deutsche Soldat kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Da war sie 19 und er 28. Wie oft hatten sie in all ihren Ehejahren darüber gesprochen, wer wohl als Erster auf dem Friedhof von Trondenes liegen würde. Nun wird die Asche meines Vaters als Erste ihren Platz unter dem Gras des Friedhofs finden. Genau an der Stelle, die sich die beiden ausgesucht hatten. Von dort geht der Blick weit über das Meer zu den anderen Inseln und zum Festland mit seinen Bergen, die erhaben und unbeugsam aus dem Wasser ragen. Es ist ein Ort, von dem man gar nicht mehr fort will, ein guter Ort, um für immer zu bleiben.

Mein Vater ist vor sieben Monaten, am 7. Dezember 2008, gestorben, aber wir mussten warten, bis der Schnee in Harstad geschmolzen und die Erde nicht mehr gefroren ist.

Fast wäre es mit der ausgesuchten Grabstelle nichts geworden, denn auf dem Friedhof in Trondenes gibt es kaum noch Platz. Aber in der Friedhofsverwaltung hat man sich sehr dafür eingesetzt, dass mein Vater noch eines der letzten Urnengräber bekommt – als einziger Deutscher. Ob es wohl Norweger gibt, die das unpassend finden? Gerade dieses Gelände rund um den Friedhof erinnert so sehr an die deutsche Besatzung vor 70 Jahren. Etwas weiter oben auf der Anhöhe befindet sich immer noch die großkalibrige Adolfkanone. Eigentlich heißt sie ja Barbara, diese größte landgestützte Kanone der Welt, so ist sie jedenfalls 1942 von der deutschen Wehrmacht benannt worden. Aber die Norweger haben einen besseren Namen dafür gefunden.

Unterhalb des Friedhofs steht ein Denkmal für die zu Tode gekommenen russischen Kriegsgefangenen, und 500 Meter weiter liegt das lang gestreckte weiße Gebäude der Folkehøgskole, das 1940 von den Deutschen beschlagnahmt wurde. In diesem Gebäude hat auch mein Vater 1941 als Obergefreiter der Wehrmacht seine erste Unterkunft in Harstad gefunden. Drei ahnungslose Kilometer entfernt von der Frau, mit der er einmal sein Leben teilen würde.

Ohne Hitler und seine Feldzüge gäbe es mich nicht. Welches Gefühl ist für so einen Fall reserviert? Ich bin auf der Welt, weil meine norwegische Mutter sich in einen deutschen Besatzungssoldaten verliebt hat. Aber es gibt noch etwas anderes, das mir lange verschwiegen worden ist.

Ich presse meine Stirn ans Fenster und schaue in den blauen Himmel. Bist du da irgendwo, Paps? Warum hast du nie mit mir darüber geredet, warum hast du mich nicht ins Vertrauen gezogen? Wolltest du nicht, weil alles so weit zurücklag? Oder konntest du nicht, weil es dich immer noch gequält hat? Vielleicht wolltest du deine kleine Tochter ja auch schützen. Vor Hass, Ohnmacht und Wut.

»Es gibt Fragen, auf die die Antwort zu geben unmöglich ist«, sagt der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, »doch ebenso unmöglich ist es, sie nicht zu stellen.«1

Meine Mutter hat schon vor langer Zeit damit begonnen, ihren Teil der Geschichte aufzuschreiben. Eine norwegisch-deutsche Liebesgeschichte, die sich immer so gefühlvoll und spannend erzählen ließ. In der aber, was ich viele Jahre nicht wusste, etwas Wesentliches fehlte.

Im kleinen Oval des Fensters taucht die markante Bergkette der Lofoten auf. Das bedeutet, dass es nicht mehr weit bis Evenes ist. Unsere Maschine senkt sich sanft nach unten. »Vi går nu inn for landing på Harstad-Narvik-Evenes lufthavn. Vi ber dere feste sikkerhetsbeltet og rette opp stolryggene.«

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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