Meine Suche beginnt

Mai 2010

 

Die Armbinde, der Essnapf und der Brustbeutel meiner Großmutter aus dem Konzentrationslager Theresienstadt (Terezín) liegen jetzt in meiner Schreibtischschublade. Meine Mutter hat sie mir überlassen. Sie hatte die Gegenstände nach dem Tod von Carola tief versteckt in deren Kleiderschrank gefunden.

Ich besorge mir einen zweiten Schreibtisch und ordne darauf die Bücher, die ich für meine Recherchen besorgt habe, darunter »Jüdische Mischlinge. Rassenpolitik und Verfolgungswahn 1933–1945«, »Hitlers jüdische Soldaten«, oder »Jüdische Studierende an der Universität zu Köln«.

Mein Vater hat Jura und Betriebswirtschaft studiert. In Frankfurt und Heidelberg, und im Wintersemester 1934/35 in Köln. Irgendwo muss ich anfangen, warum nicht in der Nähe, also in Köln. Ich telefoniere mit dem Universitätsarchiv am Albertus-Magnus-Platz. Ja, man will gerne mal nachsehen, ob sich überhaupt etwas zum stud. jur. und stud. rer. pol. Helmut Crott findet.

Eine Woche später stehe ich vor dem Archivar und bekomme den Zugang 28, Band 1 in die Hand gedrückt: »Akten der Universität Köln betr. Zulassung nichtarischer Studenten, Angefangen 1933«.

Auf Seite 89 finde ich die »Liste der im Winter-Semester 1934/35 an der Universität Köln immatrikulierten inländischen Nichtarier«. Die Namen stehen untereinander, ich muss nicht lange suchen, an siebter Stelle steht er, der Name meines Vaters: Crott, Helmut, wiso., Händelstraße 18. Warum nicht mehr Jura, warum »nur« noch wiso., also Betriebswirtschaft?

Und in der Händelstraße hat er also gewohnt. Wie oft sind wir zusammen in Köln gewesen, mein Vater und ich. Aber nie hat er gesagt: Komm, ich zeig dir mal, wo ich in meiner Studienzeit gelebt habe. Und nie hat er irgendetwas aus seiner Studienzeit erzählt. Aber ich habe auch nie danach gefragt. War es eine unausgesprochene Vereinbarung? War es sein Wunsch? Oder habe ich irgendwann nur vergessen, danach zu fragen?

Ich muss kurz die Augen schließen. Im nüchternen Raum des Kölner Universitätsarchivs kommt so eine heiße Wut über mich auf die, die es für richtig gehalten haben, meinen Vater und die anderen Kommilitonen auf diese schändliche Liste zu setzen. Gleichzeitig spüre ich eine große Nähe zu meinem Vater, in dieser Intensität nur vergleichbar mit dem Gefühl, als ich seine Hand während seiner letzten Lebenstage hielt.

Doch da ist noch etwas. Etwas ganz Merkwürdiges. Vorne sitzt der Archivar an seinem Pult und hier hinten sitze ich, Randi C., 58 Jahre, Journalistin, Mutter eines erwachsenen Sohnes, und fühle Scham. Scham, auf einer solchen Liste zu stehen, denn auf diesem vergilbten Papier, auf dieser gottverdammten Liste steht ja mein Name, Crott. Und wären die Nationalsozialisten noch an der Macht, wäre ich die »Vierteljüdin«.

Als ich wieder draußen bin und durch den warmen Kölner Nachmittag zum Auto gehe, denke ich darüber nach, warum ich es mir eigentlich immer so genau überlege, wem ich etwas von meiner Familie erzähle.

Meistens habe ich es ja verschwiegen. Und ich will nicht leugnen, dass dies nicht selten auch aus Vorsicht geschehen ist. Ich beobachte selbst jetzt, bei der Suche nach den Spuren meines Vaters, die Gesichter derjenigen immer sehr genau, denen ich erzähle, um was es bei dieser Geschichte geht.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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