Die Front rückt näher

November 1944

 

Heinz Crott ist sehr besorgt, seit sein Sohn an den norwegischen Fjorden im Einsatz ist. Zur Angst um Carola kommt nun auch die Angst um Helmut.

Am 14. November 1944 schreibt er in Brief Nr. 49:

 

Ich entnehme Deinen Briefen als Hauptmerkmal die betrübliche Tatsache, dass es mit Deiner bis zum Ende dauernden Verschonung vom Kriegsgeschehen nun doch nichts geworden ist. Deine fortgesetzten Bemühungen, uns die Veränderung der Lage als ziemlich harmlos hinzustellen und sie so zu schildern, als wenn man im zivilen Leben seine Wohnung wechselt, unterstreichen nur Deine Sorge, dass wir uns jetzt um dich ängstigen, was Du aber bei aller Schreibfertigkeit doch nicht verhindern kannst.

Bei dem täglichen Wehrmachtbericht sehe ich jetzt zuerst nach dem Schluss, wo etwas von der Eismeerfront stehen könnte, und ich atme täglich befreit auf, wenn da nichts mehr zu finden ist. Unter diesen Umständen empfinde ich über Deinen Bericht, daß Du in Sachen Verpflegung und Unterkunft nur eine geringe Einbuße hinsichtlich der letzteren zu verzeichnen hättest, nicht die große Freude wie sonst, und ich lese nur: »denn schließlich ist die Kompanie jetzt eingesetzt«, wogegen alles andere verblassen muß. Zu allem Unglück bleibt jetzt auch die Post aus, und da soll man nicht das kalte Kotzen kriegen.

Was bleibt mir anderes übrig, als Dir, meinem lieben Jungen, Hals- und Beinbruch zu wünschen. Gott möge Dich in seinen Schutz nehmen, daß ich wenigstens Dich in nicht allzu ferner Zeit glücklich wiedererhalte und aus mir nicht ein gänzlich vereinsamter Mensch wird.

 

In Harstad nimmt nach dem Niederbrennen der nördlichen Provinzen die Beunruhigung unter der Bevölkerung ständig zu. Nach viereinhalb Jahren Besatzung jetzt noch einmal eine solche Eskalation! Als Lillian eines Morgens in die Kommandantur kommt, teilt ihr Ulvall mit, dass Rittmeister Wölle von der Zahlmeisterei sie sofort für eine sehr wichtige Übersetzung braucht. Aber vorher hält ihr Ulvall noch die Zeitung unter die Nase. Ein junger Mann in NS-Uniform ist nachts in Oslo erschossen worden. »Hast du eigentlich noch diesen Freund, Lillian«, flüstert Erik Ulvall, »diesen Hitlersoldaten?«

Die Zahlmeisterei liegt eine Etage über ihnen. Seit ihrem ersten Tag in der Kommandantur hat Lillian den Eindruck gehabt, dass Rittmeister Wölle, ein Gutsbesitzer aus Pommern, kein schlechter Mensch sein kann. Sie klopft an seine Tür. Der Rittmeister steht von seinem Schreibtisch auf, begrüßt sie und bittet, Platz zu nehmen.

»Bevor wir mit unserer Übersetzung anfangen, Fräulein Berthung, möchte ich etwas Persönliches mit Ihnen besprechen. Aber es muss unter uns bleiben.« Lillian schaut ihn erstaunt an. Der Rittmeister hat sich eine Zigarre angezündet, sein Blick folgt den aufsteigenden Rauchringen. Das schmale Gesicht mit den graublauen Augen wirkt angespannt.

»Sie arbeiten nicht nur auf der deutschen Kommandantur, Fräulein Berthung, sondern Sie haben auch einen Freund, einen deutschen Soldaten.«

Was kommt jetzt? Will er sie erpressen? Lillian erstarrt.

»Warum sage ich das zu Ihnen? Ich mache mir Sorgen um Sie. Weil Sie mich an meine einzige Tochter erinnern. An meine Tochter, die mit meiner Frau auf unserem Gut in Pommern lebt. Niemand weiß, wie sich die Situation entwickeln wird.«

»Welche Situation?«, fragt Lillian, die den Rittmeister nicht so recht versteht. »Die Front«, sagt der Rittmeister. »Die russische Front rückt näher. In Pommern wie in Norwegen. Ich habe meiner Frau geschrieben, dass sie mit unserem Kind zu Verwandten nach Bayern gehen soll, bevor es zu spät ist.« Rittmeister Wölle beugt sich ein wenig vor. Seine Stimme ist jetzt ganz leise. »Sie haben keine Verwandten in Bayern? Zufälligerweise?«

»In Bayern?«, antwortet Lillian vollständig verwirrt.

»Mein Gott, Fräulein Berthung, so verstehen Sie doch bitte – Ihr deutscher Freund, Ihre Arbeit auf der Kommandantur für uns Deutsche – Sie sollten jetzt in Südnorwegen sein. Schon längst …«

Dann räuspert sich der Rittmeister, setzt sich auf und beginnt den sehr wichtigen Text zu diktieren, den Lillian übersetzen soll. Es geht um einen Verwaltungserlass. Der Verschwendung von Büromaterial soll an allen Fronten und auf allen Ebenen entgegengewirkt werden.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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